Signe Schlichtkrull: Krak

Im Schein einer Taschenlampe durchs Dunkel der Finanzwelt: Signe Schlichtkrulls Roman Krak

Die Banker spielen „dark golf“, als die Finanzkrise im Jahr 2008 hereinbricht. Es ist ein Sinnbild der Orientierungslosigkeit, die in Signe Schlichtkrulls Roman „Krak“ die Menschen erfasst: „De har en joke hvor de går over og spiller på banen i mørke med lommelygter. De kalder det dark golf. Mørkegolf.“ („Sie haben einen Witz: Sie gehen über den Platz und spielen mit Taschenlampen im Dunkeln. Sie nennen es dark golf.“)

Dieses Spiel ist Teil der Partys, die der Finanzanalyst Claus besucht. Dorthin locken Kokain, Alkohol, Mädchen und das Gefühl, zu denen zu gehören, die es geschafft haben. Entlassungen, faule Kredite, schlechte Ratings und sinkende Aktienkurse werden verdrängt. Der Roman zeigt eine Bank im Auflösungsprozess.

Signe Schlichtkrull hat damit nach ihrem 2009 erschienen Debüt „Fogeden“ wieder ein Berufsfeld in Augenschein genommen. Mit der Finanzwelt wendet sie sich einem anhaltend aktuellen Thema zu, das in letzter Zeit vermehrt das Interesse der Literatur- und Kulturwissenschaften auf sich gezogen hat. Dabei untersuchen diese Forschungen insbesondere das Verhältnis von Fiktion und Ökonomie. So hat Joseph Vogl in „Das Gespenst des Kapitals“ (2010) ökonomische Texte mit literatur- und kulturwissenschaftlichem Handwerkszeug analysiert und dabei ihre irrationalen und autopoietischen Elemente herausgearbeitet. Umgekehrt wird etwa auf Tagungen wie „Krise, Cash und Kommunikation“ (Universität Mannheim 2011) auch nach medialen Strategien der Krisenrepräsentation gefragt. In Medien dienen beispielsweise Figuren wie der „gewissenlose Wallstreetzocker“ oder der bemitleidenswerte Kleinanleger der Kanalisierung von Gefühlen (Ismer/Peter/von Wedemeyer/Zink).

Schlichtkrulls Roman lässt sich im Rahmen dieser Forschungen lesen. „Krak“ verbindet wirtschaftliche Krisensituationen mit menschlichen Verhaltensweisen und stellt dabei die Irrationalität ökonomischen Handelns heraus. Dies erfolgt durch unkommentierte Geschehensabläufe, die teils komisch gebrochen sind. So wird die allgegenwärtige Angst durch rauschhafte Feste verdrängt oder versucht, der Krise durch vermeintlich vorausschauendes Handeln zu entkommen. Darüber hinaus schildert der Roman das Schreiben von Finanzanalysen und die Werbestrategien der Bank so, dass die fiktionalen Züge der ökonomischen Kommunikation erkennbar werden.

„Krak“ ist durch eine sprachliche Knappheit gekennzeichnet, die sich in kurzen Sätzen, Absätzen und Kapiteln niederschlägt. Die knappen Dialoge lassen viel Ungesagtes aufscheinen. Es entsteht so häufig ein nahezu schmerzhaftes Schweigen angesichts der Angst vor dem Absturz. In der Knappheit des Stils gleicht der Text vielen Romanen, deren Autoren wie Schlichtkrull Absolventen der Forfatterskole sind.

Den Protagonisten Claus lernen die Leserinnen und Leser durch sein Verhalten kennen, er scheint kaum ein Gefühlsleben entwickelt zu haben. Er vernachlässigt die Beziehung zu seiner Freundin, familiäre Bande scheinen nicht zu existieren. Nur dass sein Vater mit Claus‘ Chef Flemming befreundet war, der den Protagonisten schon seit seiner Kindheit kennt, wird erwähnt. Flemming erklärt, dass er gerne Clown wäre, wenn er einen anderen Beruf wählen sollte. Früher wollte er einmal Boxer werden, „men man skal kende sine begrænsninger. Jeg måtte blive bankdirektør.“ („aber man muss seine Grenzen kennen. Ich musste Bankdirektor werden.“) Diese Kombination aus Lebenslust, Aggression und begrenzten Fähigkeiten kippt im Laufe des Romans immer weiter Richtung Verantwortungslosigkeit und Unfähigkeit. Zuletzt hat Flemming die Auszubildenden der Kreditabteilung auf seinem Schoß sitzen, während seine Frau ihn verzweifelt sucht. Dass gerade die im Kredit Auszubildende dazu missbraucht wird, Vertrauen zu untergraben, ist ein Beispiel für die ironischen Brechungen des Textes.

Zu Beginn des Romans wird das Architekten-Modell eines neuen Bankgebäudes gezeigt. Es soll neben einem Neubaukomplex entstehen, den die Bank ebenfalls finanziert. Claus‘ Kollege Morten bezeichnet das geplante Gebäude als Mausoleum. Schon bald gerät das Bauprojekt ins Stocken, nichtgedeckte Kredite zeigen Wirkung. Auch das Haus, in dem die eingangs erwähnten Partys stattfinden, wird genau geschildert. Es muss später verkauft werden, als die Krise seinen Besitzer erreicht. Der Pool füllt sich mit Blättern; Scheiben gehen zu Bruch. Im bisherigen Bankgebäude schmiert der Liquiditätschef gegen Ende des Romans Exkremente an die Wände. So wird auf materieller Ebene die Auflösung greifbar, die von den Beteiligten immer wieder geleugnet wird. Schlichtkrull gewinnt ihr durch die groteske Übersteigerung und Wortwitz komische Züge ab.

Morten wird gleich am Anfang entlassen. „Fordi han ikke længere havde fokus“ („Weil er keinen Fokus mehr hatte“, erklärt eine Kollegin. „[H]an havde glemt hvor hans tilhørsforhold var“ („[E]r hatte sein Zugehörigkeitsverhältnis vergessen“), sagt der „HR-chef” vielsagend, dessen Aufgabe die Verwaltung der ’Human Ressources’ ist. Aber was heißt Zugehörigkeit bei einem Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter als Ressource bezeichnet und sie wegwirft wie den Überrest des Tagesgerichts, der zu Beginn des Romans im Mülleimer landet? Die vom HR-Chef angedeutete Illoyalität des Mitarbeiters gegenüber dem Arbeitgeber wird gespiegelt in der Geschichte einer Kollegin von Claus, deren Mutter ihre Ersparnisse in Aktien der Bank investiert hat. Die Kollegin rät ihrer Mutter trotz Krise nicht zum Verkauf und verhält sich damit loyal gegenüber der Bank, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass ihre Arbeit auf einem Lügengebäude beruht. Am Ende bleibt der Mutter, einer ehemaligen Smørrebrødsjomfru, nur noch ein Bruchteil ihres Geldes. Wohin führt die Treue gegenüber einer Bank, die diese nicht verdient hat? Auch Claus wird zuletzt entlassen. „Det ser ud til at du er ved at miste fokus“ („Es sieht so aus, als ob du dabei bist, den Fokus zu verlieren“), sagt der HR-Chef ihm.

Den Fokus halten, das heißt an der im Roman erzählten Geschichte von der Auferstehung, der nie versiegenden Stärke, festzuhalten. Diese Geschichte entwickelt der Chef der Kommunikationsabteilung im Laufe des Romans immer weiter. Er erklärt, die Bank hätte eigentlich „Odin Bank“ heißen sollen. Doch der damalige Kommunikationschef habe befürchtet, an dem Namen könnte sich jemand stören, so dass das „O“ einfach weggelassen wurde. Die Bank wurde zu „Din Bank“. An den mythischen Ursprung möchte der neue Kommunikationschef nun wieder anknüpfen, um Stärke zu signalisieren. Im geplanten Werbespot soll der Börsenmakler als Märtyrer gezeigt werden, der durch die Krise an Kraft gewinnt und als Krieger wiederaufersteht. Bei dieser Vorstellung wird der Kommunikationschef ganz enthusiastisch.

Der Mythos ist nach Hans Blumenberg eine Reaktion auf den Schrecken der Welt, die diesen durch Geschichten erklärbar macht. Er ist eine Bewältigungsstrategie. Diese Bewältigungsstrategie trägt in der Figur des Kommunikationschefs deutlich autosuggestive Züge, die seiner Systemkonformität zuträglich sind: Er wird trotz Austauschs der Chefetage nicht entlassen. Claus wählt einen anderen Weg. Er verlässt zuletzt pfeifend seinen Arbeitsplatz – „Det var ufattelig lidt han ville tage med sig.“ („Es war unfassbar wenig, was er mitnehmen wollte.“)

Dies scheint angesichts des um sich greifenden Wahnsinns der vielversprechendere Weg. Schlichtkrulls Roman, so könnte man sagen, ist selbst zu ökonomisch, um auszuformulieren, wie dieser Weg aussehen könnte. Aber er zeigt zumindest, dass es ihn geben könnte.

Signe Schlichtkrull: Krak. Samleren, 2012.
(Frederike Felcht, Greifswald, Juni 2012)

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Ingrid Storholmen: Tsjernobylfortellinger

Wenn Vanitas zur Routine wird

1998 hat Aris Fioretos seine vielbeachteten Vanitasrutinerna herausgegeben. Der Umschlagtext beschreibt die Kurzprosa passend als „metafysisk slapstick“ („metaphysischen Slapstick“), der Galgenhumor sei „livets enda förmildrande omständighet“ („der einziger mildernde Umstand des Lebens“). Auch im Fall von Ingrid Storholmens Tsjernobylfortellinger ist man an das barocke Motiv des memento mori erinnert, doch müssen ihre Erzählungen ganz ohne (er)lösenden Humor auskommen: Die rund 130 Seiten reihen eine Vielzahl von Schicksalen, Stimmen und Situationen in kleinen Prosabruchstücken aneinander, die die unmittelbaren und langfristigen Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 für die Menschen zeigen, die in und um die kontaminierte Zone leben bzw. lebten: Tschernobyl als Zeitenwende, die das Leben mit einem Mal in zwei Teile – vor und nach dem Unglück – zerreißt, aber auch als Gift, das in die alltäglichsten Gedanken und Handlungen einsickert: „Tsjernobyl er en katastrofe som bare så vidt har begynt“ (S. 139 – „Tschernobyl ist eine Katastrophe die gerade erst begonnen hat“). Bei Storholmen findet man echte Vanitas-Routinen: Wie richtet man sich in einem Ausschnitt der Welt ein, in dem es keine, oder doch auf jeden Fall kaum Hoffnung gibt, in einer Welt, in der die früheren Zeichen der Hoffnung zu Zeichen der Angst werden? „Mannen min plantet et tre for hvert barn vi fikk. […] Vi kjente det som om vi gjorde noe viktig. / Da gutten vår døde rett før han ble åtte, visnet bjørka hans ned samme vinter, om våren var den helt tørr, og mannen min fjernet den, da så jeg at han gråt. Nå tør vi knapt å se på de tre andre bjørkene som er plantet rundt huset“ (S. 68 – „Mein Mann pflanzte einen Baum für jedes Kind, das wir bekamen. […] Es fühlte sich an, wie wenn wir etwas wichtiges taten. / Als unser Junge, kurz bevor er acht wurde, starb, ging seine Birke im gleichen Winter ein, im Frühling war sie ganz verdorrt, und mein Mann entfernte sie, da sah ich, dass er weinte. Jetzt wagen wir kaum die drei anderen Birken anzusehen, die um das Haus herum gepflanzt sind“).

Der entscheidende Unterschied zwischen Fioretos’ und Storholmens Vanitas-Routinen liegt in der Distanz, die die erzählende Stimme und das lesende Auge zu dem Erzählten einnimmt. Und dieser Unterschied verleiht beiden Büchern einen völlig entgegengesetzten, aber nichts desto weniger existentiellen Ernst: Fioretos Stimmen sind Teil einer absurden Welt, in der es egal ist, wie man sich in ihr verhält; der Horizont von Storholmens Fragmenten dagegen ist eine Welt, in der alles auf das Handeln ankommt: Für diejenigen, von denen sie erzählt, gibt es keine Hoffnung mehr. Doch der Leser gehört nicht zu ihnen, er erschaudert darüber, dass er dazugehören könnte. Und so werden die fiktiven (aber doch so wahrscheinlichen) Schicksale zu einem memento mori, die Erzählungen zu engagierter Literatur, die im Idealfall zu politischer Aktion treibt.

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Dass Ingrid Storholmen Lyrikerin ist, spürt man allenthalben. So sind die einzelnen Texte keiner narrativen Logik unterworfen, es ergeben sich keine Handlungsverläufe, vielmehr aktualisiert Storholmen das „telle“, das „Zählen“ im Wort „Fortelling/Erzählung“; Reihung und Kombinatorik sind das ästhetische Ordnungsprinzip, das Assoziationen weckt und auf Ähnlichkeiten aufmerksam macht. So ist eine der sieben Abschnitte folgendermaßen überschrieben: „Ordet sone er blitt like vanlig som ‚skog’ eller ‚elv’“ (S. 82 – „Das Wort Zone ist genauso normal geworden, wie ‚Wald’ oder ‚Fluß’“). Der Satz spricht aus, dass Tschernobyl in die Sprache hineingewirkt hat, dass das Unglück definiert, was „vanlig/gewöhnlich/normal“ ist. Doch der Satz zeigt, dass das Gewöhnliche seinen Status als neutrale (und damit unsichtbare) Grundlage des Lebens verloren hat. Denn das norwegische „sone“ kann auch mit dem Verb „sühnen/büßen“ übersetzt werden. Man büßt den Traum von einer nie versiegenden Energiequelle damit, dass man den Wald, die Flüsse, die Natur nicht mehr betreten kann: „Mutasjonsfrekvensen hos furutrærne i området har vært på opptil 80 prosent“ (S. 140 – „Die Mutationsfrequenz bei den Kiefern der Gegend war bis zu 80 Prozent“).

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In einem Abschnitt ist die Rede von einer Blumenverkäuferin, die die angelieferten Schnittblumen aus den Kartons nimmt und ins Schaufenster stellt. Dabei entdeckt sie ein außergewöhnliches Exemplar, das sich durch seine Farbe und eine Überzahl an Blütenblättern auszeichnet; es erscheint ihr so schön, „denne vil noen male, skrive dikt om“ (S. 93 – „jemand wird es malen, Gedichte darüber schreiben“), denkt sie. Doch als die Chefin die Blume sieht, nimmt sie sie aus der Vase, „river i bladene, river av roten som triller ned på gulvet, tråkker på den. Vakker? Jeg skal gi deg vakker. Dette er djevelens verk, Tsjernobyls, den er et misfoster. Alt fra Tsjernobyl må bort, slipper vi det løs, vinner det, din tosk, skjønner du ingenting, det kommer ikke noe vakkert ut av ulykken“ (S. 94 – „reißt an den Blättern, reißt die Wurzel ab, die auf den Boden fällt, tritt darauf herum. Schön? Dir geb’ ich schön. Dies ist das Werk des Teufels, Tschernobyls, es ist eine Missgeburt. Alles aus Tschernobyl muss weg, lassen wir es frei, gewinnt es, Du Depp, verstehst du gar nichts, aus dem Unglück kommt nichts Schönes“).

Storholmen schreibt hier von dem ethischen Dilemma, in dem sie steckte, als sie an Tsjernobylfortellinger arbeitete. Darf man ästhetisches Kapital aus dem Leiden anderer ziehen? Darf man mit künstlerischen Strategien die Aufmerksamkeit von den Opfern auf den Text ziehen, von der message auf das medium? Sollte man auch voller Empörung „rive i bladene“ („an den Blättern reißen“), wenn man ihr Buch in Händen hält? Wenn die Blumenhändlerin sagt „det kommer ikke noe vakkert ut av ulykken“ („aus dem Unglück kommt nichts Schönes“), dann meint sie wohl eher, dass aus dem Unglück nichts Schönes hervorkommen darf. Es handelt sich also um ein ethisches Postulat; ihr Satz gibt keine Wirklichkeit wieder, sondern stellt eine Forderung, die befolgt werden will.

Tatsächlich hat Storholmen das fertige Buch lange nicht veröffentlicht. 2002 reiste sie zwei Monate in der verbotenen Zone und den kontaminierten Regionen in der Ukraine und Weißrussland herum, besuchte die Orte des Unglücks, sprach mit Zeugen und Opfern und schrieb die Texte, die heute Tsjernobylfortellinger ausmachen. Veröffentlichen wollte sie die entstandenen Texte mit Rücksicht auf die Betroffenen jedoch nicht, um nicht die Sensationslust zu bedienen. Als jedoch Ende der 2000er Jahre ernsthaft diskutiert wurde, dass der Einsatz von Atomkraft ein sinnvoller Weg sei, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, sah sich Storholmen mit einer weiteren ethischen Forderung konfrontiert. Ihr Schweigen hätte sie mitschuldig an weiteren Atomkatastrophen gemacht. Dass das Buch 2009 publiziert wurde, ist damit das Ergebnis eines ethischen Dilemmas, das die Texte selbst thematisieren.

Heute – nach der Katastrophe von Fukushima – tritt die Geschichte der Tsjernobylfortellinger in eine dritte Phase ein. Das Buch, das bei seinem Veröffentlichung in Norwegen noch im selben Jahr in drei Auflagen erschien, wird nun – in Reaktion auf Fukushima – in zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Die Zeugin einer vergangenen Katastrophe hat sich als Künderin einer neuen herausgestellt.

Ingrid Storholmen: Tsjernobylfortellinger. Aschehoug, 2009.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, Juni 2012)

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Sigurbjörg Þrastardóttir: Blysfarir

Der Gedichtzyklus Blysfarir aus dem Jahr 2007, der 2009 für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert wurde, ist Sigurbjörg Þrastardóttirs vierter Lyrikband. Nach ihrem Debut im Jahr 1999 mit dem Gedichtband Blálogaland hat sie neben Gedichtbänden und Theaterstücken auch einen Roman veröffentlicht (Sólar Saga, 2002). Der Münchner Blumenbar Verlag hat 2011 die, von Kristof Magnusson übersetzte Ausgabe von Blysfarir unter dem Titel Fackelzüge veröffentlicht. Die Gedichte der Autorin habe einige Gemeinsamkeiten, so spielen in allen vier Bänden die von Marc Augé als „Nicht-Orte“ bezeichneten Transiträume der globalisierten Welt eine entscheidende Rolle.

In Blysfarir wird, in einem ausgesprochen dicht gewobenen Text, die leidenschaftliche Liebesbeziehung einer Ich-Erzählerin mit einem Mann aus Berlin geschildert. Die Drogenabhängigkeit ihres Partners wird bereits am Anfang des Textes deutlich:

en núna / þegar hann ber við blossandi næturbirtuna fyrir utan kofann / þar sem hann stendur ósofinn og fókuserar og kveikir undir álinu, / núna er eins og eitthvað stígi upp í birtunni og ég heyri snöggt í / lungum og það báðnar og snarkar og ég sé hann, drekann

aber jetzt / als er vor der hütte aus dem gleißenden nachtlicht ragt / schlaflos dort steht und konzentriert guckt und das / alu anfeuert, da ist es als würde etwas aufsteigen in das licht / und ich höre kurz seine lungen und es schmilzt und / knackt und ich sehe ihn, den drachen

Die Drachenmetapher zieht sich isotopisch durch den gesamten Text und erzeugt auf zwei Ebenen Bedeutung. Im engeren Sinne bezeichnet sie immer wieder die konkrete Drogensucht des Liebhabers, der schließlich auch die Beziehung zum Opfer fällt. Die wiederkehrenden Verbindungen zwischen der Drachen-Jagd mit der Farbe Weiß lassen auf die Droge Crystal Meth schließen, deren Konsum umgangssprachlich auch als „den weißen Drachen jagen“ bezeichnet wird. In einer weiter angelegten Deutung kann die Drachen-Jagd auch als Metapher für das Streben nach dem nächsten, stärkeren Rausch stehen. Dieses Streben bezieht sich nicht nur auf den Drogenkonsum und die Sehnsucht nach einem neuen, besseren „High“, sondern auch auf die Grundstruktur der Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Partner. Die Interaktion der Beiden, die bezeichnenderweise hauptsächlich im Präsens geschildert wird, ist geprägt von der zeitweilig beinahe kindlich anmutenden Suche nach neuen Abenteuern, sexuellen Extremsituationen und Grenzüberschreitungen, die vom Diebstahl bis zum Geschlechtsverkehr auf dem Friedhof reichen. Dass auch die Beziehung Suchtcharakter besitzt, wird von der Autorin herausgearbeitet, indem sie wiederholt Schilderungen des Drogenkonsums und Beschreibungen von Sex nebeneinander stellt.

Das Konzept strukturbildender Metaphern, die im Rahmen des Textes eine enge und eine weite Deutung zulassen, findet sich im gesamten Gedichtzyklus. Beispielhaft sei hier die wiederkehrende Verwendung der Farben Weiß und Blau zu nennen. Während die Farbe Weiß in verschiedenen Sprachbildern auftaucht, unter anderem im Kontext der Jagd nach dem weißen Drachen, in der weißen Farbe, mit welcher der Geliebte ihr isländisches Haus anstreicht, und auch in den titelgebenden Fackeln, die als weiße Fackeln bezeichnet werden, wird die Farbe blau immer wieder mit Milch in Zusammenhang gebracht:

og svo stend ég á flugvelli með galopna, bláa og hvíta mjólkurfernu / tveggja lítra og armana útrétta

dann stehe ich / am flughafen mit weit aufgerissenem, weißblauem milchkarton / zwei liter und ausgebreiteten armen

Der blaue Milchkarton kann im Kontext der Herkunft der Ich-Erzählerin sehr einfach als Symbol für die isländische Heimat gedeutet werden; so ist die besonders fetthaltige isländische Milch bekannt für ihren blauen Milchkarton. Folglich wird im Text ein Gegensatz zwischen Island, hier vor allem der isländischen Natur, und der urbanen Metropole Berlin erzeugt:

mér finnst / grundsamlegt hvað næturnar eru svartar / í kringum jarðhæðina hans / en bjartar / í kringum húsið mitt hvítt / í kringum kofann og fjöllin

verdächtig / scheint es mir wie schwarz die nächte / um sein erdgeschoss sind / und wie hell / um mein haus mein weißes / um die hütte und die berge

Dieser Dualismus findet sich auch an anderen Textstellen, wenn sich zum Beispiel das Naturerleben in der Großstadt auf eine rein medial vermittelte Realität stützt, da die beiden Protagonisten im Schutz ihrer Wohnung Tierfilme anschauen. Bei ihrem Aufenthalt in Island bezeichnet die Ich-Erzählerin die scheinbare Empfindungslosigkeit ihres Geliebten der isländischen Natur gegenüber als „Anhedonie“, also als Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Diese Abstumpfung seiner Umwelt gegenüber ist verknüpft mit der Suche nach stärkeren Reizen, die nur im Drogenrausch möglich sind.

Die Beschreibung einer authentischen isländischen Natur und das Unvermögen des urbanen Menschen, diese auf sich wirken zu lassen, ist für sich betrachtet kein besonders innovatives Sujet. Doch eine weitergefasste Deutung der Metapher von der blauen Milch zeigt, dass der komplexe Gedichtzyklus sich eben nicht auf diesen althergebrachten Antagonismus von gesunder Natur und krankmachender Urbanität verlässt, sondern diesen bricht und in Frage stellt: Sinkt der Fettgehalt von Milch, dann wird die Milch bläulich. Blaue Milch entspräche demnach eben nicht der vollen Kraft der Natur, sondern wäre nur ein wässriges Destillat des Ausgangsproduktes. Die Schönheit der isländischen Natur trägt im gesamten Gedichtszyklus, dieser Lesart entsprechend, nicht zur Heilung der Drogensucht bei. Stattdessen werden Parallelen gezogen zwischen der Erhabenheit der Natur und der Bedrohlichkeit des Drogenkonsums, indem zum Beispiel die Ich-Erzählerin den von Entzug geplagten Geliebten mit einem erfrorenen Jungen im isländischen Hochland vergleicht. Ebenso wie die Natur ihre Anziehungskraft aus dem Wechselspiel von Gefahr und Schönheit gewinnt, verliert der drogensüchtige Liebhaber während eines letztlich erfolglosen Entzugs in den Augen der Ich-Erzählerin an Anziehungskraft.

Gleichzeitig werden in Blysfarir typische Klischees isländischer Naturdarstellung vermieden, da sowohl die Stadt Berlin als auch die isländische Natur als „Orte“ geschildert werden, die mit historischer Bedeutung angereichert sind. Dieser Vergangenheitsbezug äußert sich zum Beispiel in Saga-Referenzen oder der ausführlichen Schilderung eines Berliner Friedhofs. Diese „Orte“ stehen, um noch einmal Mark Augé aufzugreifen, im Widerspruch zu den offenen und unbeschriebenen Transiträumen. Der Gedichtzyklus handelt so auch von der Sehnsucht, die Liebe aus dem Bereich des Möglichen und des Abenteuers an einen konstanten Ort der Verbindlichkeit zu überführen. Stattdessen bleibt die Beziehung ein auf der Performanz des Moments basierendes Spiel, indem sich die Protagonistin zeitweilig selbst nicht mehr erkennt:

heim í úfið rúm / þar sem hann mun sjálfur liggja / upptrektur og horfa á beinasleggjuna sína í / hvössum stígvélum, í streng og með hatt, / veit ekki með svipu / því það er / ekki ég

nach haus in ein aufgewühltes bett / wo er selber liegen wird / aufgedreht und den dürren körper betrachten wird / in spitzen stiefeln, g-string und mit hut / und vielleicht peitsche, ich weiß es nicht / denn das bin / nicht ich

Am Ende des Textes haben sich die beiden Liebenden getrennt, und die Erzählerin ist zurückgekehrt nach Island. Die immer grotesker werdenden Bilder verdichten sich in der finalen Schilderung einer Geburtsszene, die als Choral bezeichnet wird. Die Bezeichnung knüpft an die zahlreichen offenen und verdeckten Religionsanspielungen an, die sich im Text finden lassen, zum Beispiel, als der Geliebte sich bei ihr für „die herrlichkeit, die kraft des moments“ S. 119 („takk fyrir dýrðina, máttugu andartökin“ S.121) bedankt und damit eine klare Umkehrung der letzten Zeile des Vaterunsers verfasst. Das Ende von Blysfarir wird so lesbar als eine Integration der „Kraft des Moments“ in das Leben der Ich-Erzählerin, die von sich selbst sagt, dass sie eine lodernde weiße Fackel aufrecht hält.

 Sigurbjörg Þrastardóttir: Blysfarir. JPV Útgáfa, 2007
(Berit Glanz, Greifswald,  Mai 2012)

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