Fredrik Sjöberg: Varför håller man på? och andra essäer

Glanzvoll schlingernd. Fredrik Sjöbergs Sammlung Varför håller man på? och andra essäer (2011)

Der thematische Gegenstand torkelt, mehrfach wechselt er die Gestalt und entwindet sich dann seiner Beschreibung, keilt zu den Seiten aus und wildert in angrenzenden Gebieten, um unvermittelt wieder zum Pfad der Betrachtung zurückzukehren.

Sjöbergs Essays sind solchen beweglichen und wandelbaren Gegenständen gewidmet: Es geht etwa um das Wort ‚Bing’ oder um Briefmarkensammlungen, umgangssprachliche Ausdrücke für die menschlichen Genitalien, Ludwig Tieck, die Frühzeit des Naturschutzes, Lenin in Stockholm oder die Erfindung der Tasche. Zu allererst finden die Themen ihren Darsteller Sjöberg – und nicht umgekehrt –, der sich deren Bedeutung erst allmählich im Laufe seiner Überlegungen bewusst wird. Als neugieriger Sammler nimmt sich Sjöberg der gefundenen Merkwürdigkeiten und (auto)biographischen Souvenirs an, die sukzessive seinen weitverzweigten Erfahrungsschatz auffächern. Dass der Autor lange als Entomologe tätig war, rechtfertigt die Einschätzung, dass hier ein genauer Beobachter nach einem eigenwilligen poetischen System sammelt und reflektiert.

Die Struktur vieler Essays entspricht der Denkfigur eines Mäanders, wie der zentrale Text der Sammlung „Om essäkonsten“ (Über die Kunst des Essays) exemplarisch verdeutlicht. Zu Textbeginn ist die Ökonomie der Leser-Aufmerksamkeit zu beachten und ein unwiderstehlicher Aufhänger zu finden: „LÅT OSS ETT ÖGONBLICK tala om pengar. Mycket pengar. Guld. I tunnor!“ (S. 45, ‚LASSEN SIE UNS KURZ über Geld sprechen. Viel Geld. Gold. Tonnenweise!’). Wenige Zeilen später erfolgt das Geständnis, dass eigentlich ein anderes Thema auf dem Programm stehe. Anschließend werden unterschiedliche Essay-Definitionen unterbreitet, gebilligt oder verworfen, um dann konsequent mäandernd festzuhalten, dass Essays eine Kurzprosa-Form bezeichneten, von der wohl niemand genau wüsste, wie sie einzuordnen sei. Doch ist dies keineswegs eine irritierende Auslöschung des bisher Gesagten, sondern die Leser werden auf unterhaltsame Weise über ihre eigenen Vorerwartungen und Denkwege in Kenntnis gesetzt.

Lesevergnügen entsteht auch dadurch, dass wir Gewicht und Relevanz der behandelten Gegenstände selbst abschätzen müssen. Dabei haben die skurrilen Themen einen besonders befreienden Charakter, indem sie die in der Regel kaum eingeweihten Leser zur üppigen Assoziationsbildung anstiften. Das Motiv des Wohnwagens bei Gunnar Ekelöf („Ekelöf i sommarnatten“) verheißt beispielsweise nach ausufernden und selbstvergessenen Recherchen des Literatur-Sammlers nichts Geringeres als das Sublime: „Ängen står orörd framför plexiglasfönstret“ (S. 97, ‚Vor der Plexiglasscheibe die unberührte Wiese’, aus Ekelöfs Vägvisare till underjorden, 1967). Auf Ekelöf werden wir noch einmal zu sprechen kommen.

Doch zurück zu den mit Gold gefüllten Fässern und Tonnen. Mit diesen glitzernden Reichtümern gelingt es dem Ich-Erzähler in „Om essäkonsten“, bei einem abendlichen Festbankett die Aufmerksamkeit seiner Tischdame zu fesseln, berichtet er doch detailreich über einen Piratenschatz und die sich arabeskenhaft um den Schatz rankenden historischen Verwicklungen. Die Tischdame führt, in einer schmierenkomödiantisch dargebotenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, das Profil einer idealen Rezipientin vor: nachsichtig gegenüber dem exaltierten Redestrom ihres brillierenden Sitznachbarn, gebildet und an den Freibeutern eigentlich weniger interessiert als an den saftigen Anekdoten und Details. Als aktive Zuhörerin sendet sie dem ‚stand-up-Essayisten’ jeweils Klarzeichen, damit er zwischen den Gängen des Festmahls sein verbales Feuerwerk fortsetzen kann; sie rundet die Erzählung mit einem anerkennenden Lächeln ab, das den Ich-Erzähler bestätigt und beglückt. Zuvor erfahren Tischdame und Lesende aber noch von dem fröhlichen Plagiat, das seinem Auftritt zugrundelag: Es handelt sich um die Abhandlung Om Sveriges planer och åtgärder rörande sjöröfvarne på Madagascar 1718-1727 von Hans Wachtmeister (Schwedens Pläne und Maßnahmen, die Seeräuber von Madagaskar betreffend, Universität Uppsala, 1848), von der bescheiden angemerkt wird, dass sie in vielen schwedischen Antiquariaten erhältlich sei. Diese belegbare Quelle [http://libris.kb.se/bib/2341463?vw=full] führt das ‚delectare et prodesse’ mustergültig vor, Akrobatik und Bodenhaftung miteinbegriffen. So spielt es auch keine Rolle mehr, ob die aus dem historischen Quellenmaterial herausgezurrten Anekdoten nicht doch mit Seemannsgarn verknotet sind.

Zitate sollten dem allt i allo-Schriftsteller (Künstler auf allen Gebieten) zufolge lieber elegant plagiiert als auf gelehrsame Weise nachgewiesen werden. Hier wird gleichsam unter der Flagge unbeschwerter Bildung, vor allem glücklicher Zufallsfunde und willkommener Überraschungen gesegelt.

Sjöberg zufolge ist jedes ausformulierte Essay das Kondensat eines vorgestellten Auftritts, und die Eitelkeit sei der Antrieb für die temporären Höchstleistungen. Der Erzähler gibt preis, dass er sich während des Schreibens vorstellt, auf einer Bühne zu stehen, alleine im Scheinwerferlicht, zum Publikum sprechend (vgl. S. 63). Der Selbstvergessenheit bei der Stoffsammlung steht damit die planvoll inszenierte und getimte Darbietung gegenüber, die sich des Leserinteresses auf schelmenhaft-verschlagene Weise immer wieder vergewissert, etwa durch kleine autobiographische Enthüllungen oder aber unerwartete Aktualisierungen: Ähnelt die an den König gestellte Forderung von Kapitän Spaak, eine Fregatte mit tausend Kanonen und freies Geleit zu erhalten, um den Piratenschatz bergen zu können, nicht dem Anliegen der heutzutage per Mail verschickten ‚Nigeriabriefe’?

Sjöbergs Genre ‚stand-up-Essay’ variiert das Fragment, da ausschnitthaft eine Zwischenbilanz des Kenntnisstandes geliefert wird, die zudem eng an eine autobiographische Phase gebunden ist. Die inszenierte Mündlichkeit sorgt sowohl für die dramaturgische Strukturierung als auch für eine selbstreflexiv wirksame Ironie, indem die – zu Umwegen bereiten – Leser durch das Dickicht der Querverweise und Abschweifungen („stickspår“) geführt werden:

„Dies passt nicht hierher, befürchte ich.“ – „Vielleicht ist es noch zu früh, dies hier anzubringen.“ – „Wir werden auf diesen Punkt später noch eingehen.“ Auch im Tempowechsel, hervorgerufen durch die alternierenden kurzen und längeren Sätze, drückt sich die paradoxe Spannung zwischen spontanen Eingebungen und planvollem Arrangement aus.

Weitere Motivationen für die inbrünstig verfolgten Seiten- und Nebenwege sind die autobiographischen Spiegelungen in den historischen Persönlichkeiten, seien es etwa der Literat Bengt Lidforss oder der Vogelmaler Lars Jonsson, die den egozentrischen Eklektizismus begründen, genau das in den Materialien zu finden, was man am liebsten behandeln möchte (vgl. S. 90). Vielleicht ist es, wie Sjöberg sagen würde, noch zu früh, dies jetzt schon zu verraten. Und dieser Filter ist zweifellos durch den Vergleich mit dem Lebensweg des Autors vorgegeben. Dabei geht er, im mehrfach erwähnten Austausch mit den Lesern, sogar darauf ein, dass ihm bei der Projektion des Eigenen auf das Fremde seine Bevorzugung männlicher Modell-Biographien bewusst sei: Unter Jungens funktioniere die Spiegelung eben besser („pojkar emellan“; S. 142). Wie ein Vorschlag zur Güte, gerade gegenüber den geneigten Leserinnen, stellt sich Sjöbergs Ankündigung dar, dass doch immerhin zwei Essays über die Journalistin Ester Blenda Nordström (1891-1948) und die im Geheimdienst beschäftigte Flohforscherin Miriam Rothschild (1908-2005) in Arbeit seien.

Die deutsche Leserschaft, der drei der vorausgegangenen Publikationen Sjöbergs, nämlich Flugfällan (2004; Die Fliegenfalle: Über das Glück der Versenkung in seltsame Passionen, 2010), Flyktkonsten (2006; Die Kunst zu fliehen, 2012) und Russinkungen (2009; Der Rosinenkönig, 2011) in der beeindruckenden Übersetzung von Paul Berf bekannt sind, darf damit rechnen, dass Sjöbergs Lieblingsreiseland Deutschland auch weiterhin die Essayproduktion anregen wird. Die eindringliche Erinnerung an den Vater (siehe das Essay „Pappa“) ist mit der intensiven Ortsbegehung von Rothenburg verknüpft, sowohl text- und bildbasiert als auch aus eigener, vielbewanderter Anschauung. Noch einmal tritt das Genre als ein Schmelztiegel von Kurzprosaformen hervor: die durchgestaltete Reportage, das autobiographisch angereicherte Portrait, das Paradestück en miniatur, die ausfransende Anekdote oder – wie im Text „Pappa“ – ein intimer Nachruf, in diesem Fall auf den Besitzer des Wagens, in dessen Seitentür sich der Autor einst als Kind spiegelte.

Doch nun ist es höchste Zeit, zu den sommerlichen Erlebnissen Ekelöfs zurückzukehren. Bedenkenlos die Diskursgrenzen überschreitend, stellt Sjöberg mit seinen Serendipitätsstudien unter Beweis, wie eine tiefbohrende fachwissenschaftliche Spezialisierung inzwischen fragwürdig erscheinen mag: Die Attitüde der Schreibenden und die Funktionalisierung des Empirischen legen jeweils im Voraus fest, unter welchen Prämissen überhaupt zu sammeln ist und wie zu dokumentieren und zu deuten ist. Dies pointiert beispielsweise ein kleiner Seitenhieb auf die positivistische Tradition innerhalb der schwedischen Literaturwissenschaft: „Han [Ekelöf] pallade äpplen – 27 år gammal! Plötsligt kände jag mig nästan som en litteraturforskare.“ (S. 93, ‚Ekelöf klaute Äpfel – mit 27 Jahren! Plötzlich kam ich mir fast wie ein Literaturwissenschaftler vor.’).

Dies hätte ich wohl an den Anfang meiner Besprechung stellen sollen: Die Frage im Titel „Warum macht man weiter?“ beantwortet sich selbst – im Prozess der Suche, des Hervortastens, des Skizzierens und Verwerfens. Trotz der mit Leichtigkeit daherkommenden Kunstfertigkeit von Sjöbergs Essays ist die Denk- und Stilfigur des Mäanders eine allgemeine Ermutigung zum ‚wilden Denken’. Deshalb liest man gerne weiter. Sieht dem nächsten objet trouvé mit großer Vorfreude entgegen. Und vielleicht hangelt man sich sogar nur zu gerne in seinen Arbeiten weiter, wie es uns Sjöberg vorführt. Varför håller du på?

Fredrik Sjöberg: Varför håller man på? och andra essäer. Stockholm: Bonniers, 2011.
(Antje Wischmann, Tübingen, Juni 2012)

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Signe Schlichtkrull: Krak

Im Schein einer Taschenlampe durchs Dunkel der Finanzwelt: Signe Schlichtkrulls Roman Krak

Die Banker spielen „dark golf“, als die Finanzkrise im Jahr 2008 hereinbricht. Es ist ein Sinnbild der Orientierungslosigkeit, die in Signe Schlichtkrulls Roman „Krak“ die Menschen erfasst: „De har en joke hvor de går over og spiller på banen i mørke med lommelygter. De kalder det dark golf. Mørkegolf.“ („Sie haben einen Witz: Sie gehen über den Platz und spielen mit Taschenlampen im Dunkeln. Sie nennen es dark golf.“)

Dieses Spiel ist Teil der Partys, die der Finanzanalyst Claus besucht. Dorthin locken Kokain, Alkohol, Mädchen und das Gefühl, zu denen zu gehören, die es geschafft haben. Entlassungen, faule Kredite, schlechte Ratings und sinkende Aktienkurse werden verdrängt. Der Roman zeigt eine Bank im Auflösungsprozess.

Signe Schlichtkrull hat damit nach ihrem 2009 erschienen Debüt „Fogeden“ wieder ein Berufsfeld in Augenschein genommen. Mit der Finanzwelt wendet sie sich einem anhaltend aktuellen Thema zu, das in letzter Zeit vermehrt das Interesse der Literatur- und Kulturwissenschaften auf sich gezogen hat. Dabei untersuchen diese Forschungen insbesondere das Verhältnis von Fiktion und Ökonomie. So hat Joseph Vogl in „Das Gespenst des Kapitals“ (2010) ökonomische Texte mit literatur- und kulturwissenschaftlichem Handwerkszeug analysiert und dabei ihre irrationalen und autopoietischen Elemente herausgearbeitet. Umgekehrt wird etwa auf Tagungen wie „Krise, Cash und Kommunikation“ (Universität Mannheim 2011) auch nach medialen Strategien der Krisenrepräsentation gefragt. In Medien dienen beispielsweise Figuren wie der „gewissenlose Wallstreetzocker“ oder der bemitleidenswerte Kleinanleger der Kanalisierung von Gefühlen (Ismer/Peter/von Wedemeyer/Zink).

Schlichtkrulls Roman lässt sich im Rahmen dieser Forschungen lesen. „Krak“ verbindet wirtschaftliche Krisensituationen mit menschlichen Verhaltensweisen und stellt dabei die Irrationalität ökonomischen Handelns heraus. Dies erfolgt durch unkommentierte Geschehensabläufe, die teils komisch gebrochen sind. So wird die allgegenwärtige Angst durch rauschhafte Feste verdrängt oder versucht, der Krise durch vermeintlich vorausschauendes Handeln zu entkommen. Darüber hinaus schildert der Roman das Schreiben von Finanzanalysen und die Werbestrategien der Bank so, dass die fiktionalen Züge der ökonomischen Kommunikation erkennbar werden.

„Krak“ ist durch eine sprachliche Knappheit gekennzeichnet, die sich in kurzen Sätzen, Absätzen und Kapiteln niederschlägt. Die knappen Dialoge lassen viel Ungesagtes aufscheinen. Es entsteht so häufig ein nahezu schmerzhaftes Schweigen angesichts der Angst vor dem Absturz. In der Knappheit des Stils gleicht der Text vielen Romanen, deren Autoren wie Schlichtkrull Absolventen der Forfatterskole sind.

Den Protagonisten Claus lernen die Leserinnen und Leser durch sein Verhalten kennen, er scheint kaum ein Gefühlsleben entwickelt zu haben. Er vernachlässigt die Beziehung zu seiner Freundin, familiäre Bande scheinen nicht zu existieren. Nur dass sein Vater mit Claus‘ Chef Flemming befreundet war, der den Protagonisten schon seit seiner Kindheit kennt, wird erwähnt. Flemming erklärt, dass er gerne Clown wäre, wenn er einen anderen Beruf wählen sollte. Früher wollte er einmal Boxer werden, „men man skal kende sine begrænsninger. Jeg måtte blive bankdirektør.“ („aber man muss seine Grenzen kennen. Ich musste Bankdirektor werden.“) Diese Kombination aus Lebenslust, Aggression und begrenzten Fähigkeiten kippt im Laufe des Romans immer weiter Richtung Verantwortungslosigkeit und Unfähigkeit. Zuletzt hat Flemming die Auszubildenden der Kreditabteilung auf seinem Schoß sitzen, während seine Frau ihn verzweifelt sucht. Dass gerade die im Kredit Auszubildende dazu missbraucht wird, Vertrauen zu untergraben, ist ein Beispiel für die ironischen Brechungen des Textes.

Zu Beginn des Romans wird das Architekten-Modell eines neuen Bankgebäudes gezeigt. Es soll neben einem Neubaukomplex entstehen, den die Bank ebenfalls finanziert. Claus‘ Kollege Morten bezeichnet das geplante Gebäude als Mausoleum. Schon bald gerät das Bauprojekt ins Stocken, nichtgedeckte Kredite zeigen Wirkung. Auch das Haus, in dem die eingangs erwähnten Partys stattfinden, wird genau geschildert. Es muss später verkauft werden, als die Krise seinen Besitzer erreicht. Der Pool füllt sich mit Blättern; Scheiben gehen zu Bruch. Im bisherigen Bankgebäude schmiert der Liquiditätschef gegen Ende des Romans Exkremente an die Wände. So wird auf materieller Ebene die Auflösung greifbar, die von den Beteiligten immer wieder geleugnet wird. Schlichtkrull gewinnt ihr durch die groteske Übersteigerung und Wortwitz komische Züge ab.

Morten wird gleich am Anfang entlassen. „Fordi han ikke længere havde fokus“ („Weil er keinen Fokus mehr hatte“, erklärt eine Kollegin. „[H]an havde glemt hvor hans tilhørsforhold var“ („[E]r hatte sein Zugehörigkeitsverhältnis vergessen“), sagt der „HR-chef” vielsagend, dessen Aufgabe die Verwaltung der ’Human Ressources’ ist. Aber was heißt Zugehörigkeit bei einem Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter als Ressource bezeichnet und sie wegwirft wie den Überrest des Tagesgerichts, der zu Beginn des Romans im Mülleimer landet? Die vom HR-Chef angedeutete Illoyalität des Mitarbeiters gegenüber dem Arbeitgeber wird gespiegelt in der Geschichte einer Kollegin von Claus, deren Mutter ihre Ersparnisse in Aktien der Bank investiert hat. Die Kollegin rät ihrer Mutter trotz Krise nicht zum Verkauf und verhält sich damit loyal gegenüber der Bank, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass ihre Arbeit auf einem Lügengebäude beruht. Am Ende bleibt der Mutter, einer ehemaligen Smørrebrødsjomfru, nur noch ein Bruchteil ihres Geldes. Wohin führt die Treue gegenüber einer Bank, die diese nicht verdient hat? Auch Claus wird zuletzt entlassen. „Det ser ud til at du er ved at miste fokus“ („Es sieht so aus, als ob du dabei bist, den Fokus zu verlieren“), sagt der HR-Chef ihm.

Den Fokus halten, das heißt an der im Roman erzählten Geschichte von der Auferstehung, der nie versiegenden Stärke, festzuhalten. Diese Geschichte entwickelt der Chef der Kommunikationsabteilung im Laufe des Romans immer weiter. Er erklärt, die Bank hätte eigentlich „Odin Bank“ heißen sollen. Doch der damalige Kommunikationschef habe befürchtet, an dem Namen könnte sich jemand stören, so dass das „O“ einfach weggelassen wurde. Die Bank wurde zu „Din Bank“. An den mythischen Ursprung möchte der neue Kommunikationschef nun wieder anknüpfen, um Stärke zu signalisieren. Im geplanten Werbespot soll der Börsenmakler als Märtyrer gezeigt werden, der durch die Krise an Kraft gewinnt und als Krieger wiederaufersteht. Bei dieser Vorstellung wird der Kommunikationschef ganz enthusiastisch.

Der Mythos ist nach Hans Blumenberg eine Reaktion auf den Schrecken der Welt, die diesen durch Geschichten erklärbar macht. Er ist eine Bewältigungsstrategie. Diese Bewältigungsstrategie trägt in der Figur des Kommunikationschefs deutlich autosuggestive Züge, die seiner Systemkonformität zuträglich sind: Er wird trotz Austauschs der Chefetage nicht entlassen. Claus wählt einen anderen Weg. Er verlässt zuletzt pfeifend seinen Arbeitsplatz – „Det var ufattelig lidt han ville tage med sig.“ („Es war unfassbar wenig, was er mitnehmen wollte.“)

Dies scheint angesichts des um sich greifenden Wahnsinns der vielversprechendere Weg. Schlichtkrulls Roman, so könnte man sagen, ist selbst zu ökonomisch, um auszuformulieren, wie dieser Weg aussehen könnte. Aber er zeigt zumindest, dass es ihn geben könnte.

Signe Schlichtkrull: Krak. Samleren, 2012.
(Frederike Felcht, Greifswald, Juni 2012)

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Ingrid Storholmen: Tsjernobylfortellinger

Wenn Vanitas zur Routine wird

1998 hat Aris Fioretos seine vielbeachteten Vanitasrutinerna herausgegeben. Der Umschlagtext beschreibt die Kurzprosa passend als „metafysisk slapstick“ („metaphysischen Slapstick“), der Galgenhumor sei „livets enda förmildrande omständighet“ („der einziger mildernde Umstand des Lebens“). Auch im Fall von Ingrid Storholmens Tsjernobylfortellinger ist man an das barocke Motiv des memento mori erinnert, doch müssen ihre Erzählungen ganz ohne (er)lösenden Humor auskommen: Die rund 130 Seiten reihen eine Vielzahl von Schicksalen, Stimmen und Situationen in kleinen Prosabruchstücken aneinander, die die unmittelbaren und langfristigen Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 für die Menschen zeigen, die in und um die kontaminierte Zone leben bzw. lebten: Tschernobyl als Zeitenwende, die das Leben mit einem Mal in zwei Teile – vor und nach dem Unglück – zerreißt, aber auch als Gift, das in die alltäglichsten Gedanken und Handlungen einsickert: „Tsjernobyl er en katastrofe som bare så vidt har begynt“ (S. 139 – „Tschernobyl ist eine Katastrophe die gerade erst begonnen hat“). Bei Storholmen findet man echte Vanitas-Routinen: Wie richtet man sich in einem Ausschnitt der Welt ein, in dem es keine, oder doch auf jeden Fall kaum Hoffnung gibt, in einer Welt, in der die früheren Zeichen der Hoffnung zu Zeichen der Angst werden? „Mannen min plantet et tre for hvert barn vi fikk. […] Vi kjente det som om vi gjorde noe viktig. / Da gutten vår døde rett før han ble åtte, visnet bjørka hans ned samme vinter, om våren var den helt tørr, og mannen min fjernet den, da så jeg at han gråt. Nå tør vi knapt å se på de tre andre bjørkene som er plantet rundt huset“ (S. 68 – „Mein Mann pflanzte einen Baum für jedes Kind, das wir bekamen. […] Es fühlte sich an, wie wenn wir etwas wichtiges taten. / Als unser Junge, kurz bevor er acht wurde, starb, ging seine Birke im gleichen Winter ein, im Frühling war sie ganz verdorrt, und mein Mann entfernte sie, da sah ich, dass er weinte. Jetzt wagen wir kaum die drei anderen Birken anzusehen, die um das Haus herum gepflanzt sind“).

Der entscheidende Unterschied zwischen Fioretos’ und Storholmens Vanitas-Routinen liegt in der Distanz, die die erzählende Stimme und das lesende Auge zu dem Erzählten einnimmt. Und dieser Unterschied verleiht beiden Büchern einen völlig entgegengesetzten, aber nichts desto weniger existentiellen Ernst: Fioretos Stimmen sind Teil einer absurden Welt, in der es egal ist, wie man sich in ihr verhält; der Horizont von Storholmens Fragmenten dagegen ist eine Welt, in der alles auf das Handeln ankommt: Für diejenigen, von denen sie erzählt, gibt es keine Hoffnung mehr. Doch der Leser gehört nicht zu ihnen, er erschaudert darüber, dass er dazugehören könnte. Und so werden die fiktiven (aber doch so wahrscheinlichen) Schicksale zu einem memento mori, die Erzählungen zu engagierter Literatur, die im Idealfall zu politischer Aktion treibt.

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Dass Ingrid Storholmen Lyrikerin ist, spürt man allenthalben. So sind die einzelnen Texte keiner narrativen Logik unterworfen, es ergeben sich keine Handlungsverläufe, vielmehr aktualisiert Storholmen das „telle“, das „Zählen“ im Wort „Fortelling/Erzählung“; Reihung und Kombinatorik sind das ästhetische Ordnungsprinzip, das Assoziationen weckt und auf Ähnlichkeiten aufmerksam macht. So ist eine der sieben Abschnitte folgendermaßen überschrieben: „Ordet sone er blitt like vanlig som ‚skog’ eller ‚elv’“ (S. 82 – „Das Wort Zone ist genauso normal geworden, wie ‚Wald’ oder ‚Fluß’“). Der Satz spricht aus, dass Tschernobyl in die Sprache hineingewirkt hat, dass das Unglück definiert, was „vanlig/gewöhnlich/normal“ ist. Doch der Satz zeigt, dass das Gewöhnliche seinen Status als neutrale (und damit unsichtbare) Grundlage des Lebens verloren hat. Denn das norwegische „sone“ kann auch mit dem Verb „sühnen/büßen“ übersetzt werden. Man büßt den Traum von einer nie versiegenden Energiequelle damit, dass man den Wald, die Flüsse, die Natur nicht mehr betreten kann: „Mutasjonsfrekvensen hos furutrærne i området har vært på opptil 80 prosent“ (S. 140 – „Die Mutationsfrequenz bei den Kiefern der Gegend war bis zu 80 Prozent“).

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In einem Abschnitt ist die Rede von einer Blumenverkäuferin, die die angelieferten Schnittblumen aus den Kartons nimmt und ins Schaufenster stellt. Dabei entdeckt sie ein außergewöhnliches Exemplar, das sich durch seine Farbe und eine Überzahl an Blütenblättern auszeichnet; es erscheint ihr so schön, „denne vil noen male, skrive dikt om“ (S. 93 – „jemand wird es malen, Gedichte darüber schreiben“), denkt sie. Doch als die Chefin die Blume sieht, nimmt sie sie aus der Vase, „river i bladene, river av roten som triller ned på gulvet, tråkker på den. Vakker? Jeg skal gi deg vakker. Dette er djevelens verk, Tsjernobyls, den er et misfoster. Alt fra Tsjernobyl må bort, slipper vi det løs, vinner det, din tosk, skjønner du ingenting, det kommer ikke noe vakkert ut av ulykken“ (S. 94 – „reißt an den Blättern, reißt die Wurzel ab, die auf den Boden fällt, tritt darauf herum. Schön? Dir geb’ ich schön. Dies ist das Werk des Teufels, Tschernobyls, es ist eine Missgeburt. Alles aus Tschernobyl muss weg, lassen wir es frei, gewinnt es, Du Depp, verstehst du gar nichts, aus dem Unglück kommt nichts Schönes“).

Storholmen schreibt hier von dem ethischen Dilemma, in dem sie steckte, als sie an Tsjernobylfortellinger arbeitete. Darf man ästhetisches Kapital aus dem Leiden anderer ziehen? Darf man mit künstlerischen Strategien die Aufmerksamkeit von den Opfern auf den Text ziehen, von der message auf das medium? Sollte man auch voller Empörung „rive i bladene“ („an den Blättern reißen“), wenn man ihr Buch in Händen hält? Wenn die Blumenhändlerin sagt „det kommer ikke noe vakkert ut av ulykken“ („aus dem Unglück kommt nichts Schönes“), dann meint sie wohl eher, dass aus dem Unglück nichts Schönes hervorkommen darf. Es handelt sich also um ein ethisches Postulat; ihr Satz gibt keine Wirklichkeit wieder, sondern stellt eine Forderung, die befolgt werden will.

Tatsächlich hat Storholmen das fertige Buch lange nicht veröffentlicht. 2002 reiste sie zwei Monate in der verbotenen Zone und den kontaminierten Regionen in der Ukraine und Weißrussland herum, besuchte die Orte des Unglücks, sprach mit Zeugen und Opfern und schrieb die Texte, die heute Tsjernobylfortellinger ausmachen. Veröffentlichen wollte sie die entstandenen Texte mit Rücksicht auf die Betroffenen jedoch nicht, um nicht die Sensationslust zu bedienen. Als jedoch Ende der 2000er Jahre ernsthaft diskutiert wurde, dass der Einsatz von Atomkraft ein sinnvoller Weg sei, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, sah sich Storholmen mit einer weiteren ethischen Forderung konfrontiert. Ihr Schweigen hätte sie mitschuldig an weiteren Atomkatastrophen gemacht. Dass das Buch 2009 publiziert wurde, ist damit das Ergebnis eines ethischen Dilemmas, das die Texte selbst thematisieren.

Heute – nach der Katastrophe von Fukushima – tritt die Geschichte der Tsjernobylfortellinger in eine dritte Phase ein. Das Buch, das bei seinem Veröffentlichung in Norwegen noch im selben Jahr in drei Auflagen erschien, wird nun – in Reaktion auf Fukushima – in zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Die Zeugin einer vergangenen Katastrophe hat sich als Künderin einer neuen herausgestellt.

Ingrid Storholmen: Tsjernobylfortellinger. Aschehoug, 2009.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, Juni 2012)

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