Kristian Lundbergs Malmö-Trilogie

lundberg_hemstadMüde Männer in Malmö. Zu Kristian Lundbergs Romanen En hemstad. Berättelsen om att färdas genom klassmörkret (2013), Och allt skall vara kärlek (2011), Yarden (2009)

Die neue Arbeiterliteratur im Stile Lundbergs hat ein dokumentarisch-autofiktionales Profil, das viele Leser anspricht. Kristian Lundbergs Roman Yarden (Der Verladehof, 2009) ist bereits in der vierten Auflage als Pocketbuch erschienen und mit dem Ivar Lo-Johansson-Preis ausgezeichnet worden. In der traditionellen Arbeiterstadt Malmö ist Lundberg eine Institution, seine Romane werden lundbergare genannt, haben also ein personenspezifisches Genre gestiftet. Nach Malmö ist übrigens vor kurzem auch Klaus Ove Knausgaard übergesiedelt, weil seine Rolle als prominenter Autor in Norwegen ihn überforderte, wodurch ein interessantes regionales Konkurrenzverhältnis zweier Autofiktionen-Verfasser entsteht.

Lundberg schreibt über das Thema „Klasse“ in der postindustriellen Arbeitswelt – mit ihren verschärften sozialen und ökonomischen Distinktionen nach der Demontage des Wohlfahrtsstaates. In Yarden wird die wachsende soziale Kluft als ein Resultat der zu Kurzzeitanstellungen umdefinierten Lohnarbeit und der Entstehung des Prekariats vermittelt. Mitunter entsteht aber auch der Eindruck, dass ein Rückfall in die Vergangenheit, sogar in die Zeit vor dem folkhem angeprangert werden soll.
Darüber hinaus geht diese Kritik am politischen backlash mit einem sehr persönlichen Erinnerungsprojekt einher, dessen Spektrum zwischen den Extrempunkten privatistisch und ausliefernd einerseits und verallgemeinernd-politisch andererseits zu verorten ist. Wie Yarden zeichnet sich die gesamte Trilogie durch folgende Merkmale aus: dokumentarisch zugespitzte Alltagsprosa, ein performativ nachzuvollziehender Textstrom aus der Schreibwerkstatt, passagenweise ein fingiertes Tagebuch mit sich nur wenig wandelnden Einträgen zu wiederkehrenden Schlüsselthemen und traumatischen Stichwörtern.

lundberg-kristian-och-allt-skall-vara-karlekIn Yarden wird zunächst noch überprüft, ob der Ich-Erzähler Kristian Lundberg „klassklättrare“ (Klassenaufsteiger) sein könnte. Vom Gelegenheitsarbeiter in vielfältigen Branchen wird er zum Autor, um dann in einer ökonomischen Notlage im Malmöer Hafen zu arbeiten, dies wird als „omvänd klassresa“ (umgekehrter Aufstieg) bezeichnet. ‚Yarden’ bezeichnet den Verladeplatz von Autos; die Tagelöhner aus aller Welt parken die neu produzierten Wagen um, waschen sie, bereiten sie für die Verschiffung vor. Sie tragen zur globalen Handelskette bei, deren Logistik sie lediglich im Hinblick auf ausschnitthafte, detailliert gegliederte Arbeitsphasen überblicken können. Zeitarbeitsfirmen locken mit zwielichtigen Angeboten und üben zugleich Druck auf die allein nach mündlicher Vereinbarung Beschäftigten aus, die oft papierlose Flüchtlinge sind. Wird die Hilfsarbeit nicht standardgemäß ausgeführt, erfolgt die sofortige Entlassung. Arbeitsrechtlich sind die Yarden-Tagelöhner in keiner Weise abgesichert, und Unfälle werden vertuscht. Die fabrikneuen PKWs sind dagegen pfleglich und mit äußerster Sorgfalt zu behandeln. Die Hände des Ich-Erzählers sind durch die ätzenden Reinigungsmittel von der Arbeit gezeichnet, ein Stigma des vierten Standes, selbst in der dienstleistungsbetonten kunskapsnation (Wissensnation) Sverige.

Solange der Protagonist in die Arbeitsgemeinschaft der international zusammengesetzten Transport- und Servicekräfte eingeht, wird er ebenfalls als blatte (Einwanderer, im Sinne einer sozialen Gruppenzugehörigkeit) betrachtet (vgl. S. 71). Bei Kälte, Hitze, Schlafmangel hat sich eine Notgemeinschaft gebildet, in der sich sogar Sverigedemokrater (Anhänger einer fremdenfeindlichen Partei) und Verfolgte zur Seite stehen. Ein Verweilen in dieser Situation scheint physisch unmöglich. Um es deutlich zu sagen: Der Ich-Erzähler Kristian berichtet nicht aus der Wallraff-Perspektive: Da dieser dargestellte Zeitarbeiter bereits vor seiner Tätigkeit in Yarden als Autor tätig war, wird bruchstückhaft eine rückschauende Berufsbiographie ausgebreitet. Der Ich-Erzähler geht also nicht under cover vor, sondern sieht sich, im Gegenteil, mit abfälligen Kommentaren über seine schriftstellerischen Bemühungen konfrontiert (vgl. S. 117f.).
Die Routine der straff geregelten Aufträge gibt Halt. Wenn der Zeitdruck ausnahmsweise einmal nicht alles beherrscht, wird die körperliche Arbeit als beinahe erbaulich-meditativ beschrieben: „Kroppen utför sina rörelser; tanken är fri.“ (Der Körper führt seine Bewegungen aus, die Gedanken sind frei. I, S. 27). Diese positive Aufladung von Routinetätigkeiten entfaltet sich im Unterschied zur klassischen Arbeiterliteratur der 1930er Jahre in einem neuen Bezugsrahmen (siehe etwa Richard Sennett: Der flexible Mensch, 1998, zum Stichwort ‚Routine’, Kap. 2).
Gerade hierin besteht ein interessanter Impuls von Yarden, denn eine politisch-ethische Selbstreflexivität zeichnet sich ab, und damit übrigens auch ein Rekurs auf das wiederentdeckte Handwerk und die neu bewertete materielle Kultur: Ist es vor diesem Hintergrund angemessen, von einem backlash zu sprechen, von einer Rückkehr der ‚alten’ Klassengesellschaft? Haben sich nicht erstens die Kategorien selbst und zweitens die Wahrnehmungsvoraussetzungen so stark verändert, dass die Vorstellung eines Rückfalls in frühere Zeiten gar zu nostalgisch-anachronistischen Einschätzungen verleiten könnte? Ist mit dem routiniert arbeitenden Körper, der zur Gedankenfreiheit, und in diesem Fall schließlich auch zu einem eigenen Schreibprojekt, fähig ist, nicht womöglich eine Projektionsfläche geschaffen gerade für heutige ‚Geistesarbeiter’?

yardenYarden ist zweifellos der reizvollste Band der Trilogie. Der Sprachduktus ist eindringlich. Im zweiten Band Och allt skall vara kärlek (Und alles soll Liebe sein, 2011) setzt sich das Einkreisen der Erinnerung aus Band I zwar fort, aber die Intensität nimmt ab. Das wiederholende, mahlende Umschreiben ist stets ein zögerliches Um-Schreiben der besonders schmerzhaften autobiographischen Ereignisse, die im ersten Band schon genannt worden sind: der psychischen Krankheit der Mutter, dem aufreibenden Leben der kinderreichen Familie auf der Flucht vor Sozialbehörden, die skrupellose Verleugnung durch den Vater, Drogenmissbrauch. Wie der Titel anzeigt, steht die Utopie einer Erlösung durch christliche und partnerschaftliche Liebe im Vordergrund. Der sachlich-neutrale Ton, der in Yarden von den dokumentarischen Arbeitsplatzschilderungen ausstrahlt, wird im zweiten Band seltener angeschlagen, da die Rettung durch die wiedergefundene Geliebte K und die Versöhnung mit der Mutter im Zentrum stehen. Aus der rückschauenden Perspektive des Erwachsenen erkennt der Sohn nun an, dass die Mutter bei Aufbietung aller Kraft um ihre Verantwortung gerungen hatte. Mitunter werden die beiden erlösenden weiblichen Figuren sogar in einer Überblendungstechnik symbolisch miteinander vereint. Der hymnische Titel markiert die veränderte Tonlage und weist auf das Ankommen voraus, das die implizite Botschaft des dritten Bandes ausmachen wird.
Ein wichtiger Paratext unterstreicht in Band II die Kniffe der Autofiktion: Der Roman ist einer Person namens Kristin gewidmet, das Umschlagbild zeigt eine mit floralem Muster übermalte Landkarte, die auch im Roman selbst beschrieben wird. Laut Verlagsangabe stammt das Titelbild von einer Künstlerin namens Kristin Lidgren.

Die Liebesutopie, im Verbund mit der christlichen Erlösungsbotschaft, erweist sich bei Lundberg als emphatische Variante eines ‚reinen‘ und vorbehaltlosen Neuanfangs jenseits einer Bindung an die ‚Klasse seiner Herkunft’. Der romantische Code ist dabei auf sehr eingängige Weise ein Schlüssel zur Überschreitung sozialer Grenzen und somit auch zur Außerkraftsetzung von bedrohlichen Machtmechanismen. Die Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Nina Björk betont in ihrer neuen polemischen Essaysammlung Lyckliga i alla sina dagar (Glücklich bis ans Ende ihrer Tage), in welch erstaunlicher Weise in der schnell veränderlichen Optimierungsgesellschaft der romantische Code seine Universalität behaupten kann. Björk spricht von einer intakten Enklave und einer grenzüberschreitenden Energie: „Kärleken känner inte klass, inte börd. Kärleken vet ingenting om pengar, beräkning eller kalkylerande. Den är, i denna icke-utopiska tid, fortfarande platsen för en utopi.” (Die Liebe kennt weder Klassenzugehörigkeit noch Abstammung. Die Liebe weiß nichts von Geld, Berechnung und nutzorientierter Planung. In der heutigen nicht-utopischen Zeit bietet sie weiterhin einen Ort für eine Utopie. Lyckliga i alla sina dagar, 2012, S. 132).
Lundbergs Trilogie stellt diese sogenannte Utopie zeitübergreifend vor, aber ist diese Utopie eigentlich widerständig zu nennen? Der zweite Band ist von dem Versuch getragen, weltanschauliche Fixpunkte zu inszenieren, nicht zuletzt in dem Lobgesang auf die Geliebte K und auf ‚Kristus’.
Wieder nimmt der Ich-Erzähler zur Aktualität des Klassenkampfes Stellung: „Klasskampen existerar. Den sker från det omvända hållet. Vi står stilla och låter oss plockas. Vi sitter tigande och låter oss böjas.” (Der Klassenkampf existiert. Er findet aus umgekehrter Richtung statt. Wir stehen still und lassen uns herauspicken. Wir sitzen schweigend da und lassen zu, dass man uns beugt. II, S. 26). In der leitmotivisch auftauchenden Wendung vom „Niederknien“ wird die gebeugte Haltung des gebrochenen Menschen, der im metaphorischen Sinne auf die Knie gezwungen worden ist, paradox verschränkt mit der demütig niederknienden Haltung eines dankbar Betenden.
Anders als das historische Proletariat werde das Prekariat nicht länger von klar benennbaren Akteuren ausgebeutet, sondern von kaum greifbaren Instanzen auf einer Zwischenebene, wie etwa von Anstellungsfirmen, privaten Vermittlern, von abhängigen Kollegen und schließlich auch den ausgebeuteten Individuen selbst. Statt um einen Klassenaufstieg gehe es mittlerweile nur mehr um die Rettung oder Wiederherstellung menschlicher Würde (vgl. S. 137). Die Techniken des Selbst waren für den skötsamme arbetaren (den aufstrebenden Arbeiter) im Volksheim fraglos eine Tugend, während sie für die unsicher Angestellten ein Risiko darstellen.
Selbstbewusst zitiert der Ich-Erzähler ein Statement des realen Autors: Bei einer Lesung in einer Bibliothek habe dieser verkündet: „Den moderna arbetarskildringen kommer att förnyas, den måste våga vara både existentiell och språkligt nyskapande.“ (Die moderne Arbeiterliteratur ist auf dem Weg, sich zu erneuern, sie muss sich trauen, sowohl existenzielle Themen anzugehen als auch sprachlich Neues zu schaffen. II, S. 69).

Dies ist natürlich ein hoher Anspruch, der in Band III, dem sogenannten Malmö-Roman En hemstad (Eine Heimatstadt, 2013) nur schwer eingelöst werden kann, schon deshalb weil die geographische und soziale Herkunft die wichtigste Kategorie für die soziale Verortung und die Stiftung von Identitätsangeboten bleibt. Abermals sind die kreisenden Erinnerungsbewegungen, mit ihren teilweisen Überschneidungen und wenig abgewandelten Kontextualisierungen, das eigentliche Thema. Der Wiederholungszwang im fortgesetzten inneren Monolog wird von den Lesern performativ nachvollzogen, stimuliert von der Frage, welche Traumata bisher nur eingekreist und noch nicht direkt angesprochen worden sind. In der fortlaufenden Rede des Ich-Erzählers werden die autobiographischen Erinnerungen auf die erinnerte Stadtlandschaft bezogen, aktualisiert und gedeutet. Anders als bei den beiden ersten Bänden spielt das Gliederungsprinzip eine wichtige Rolle für den jeweiligen Bezugsrahmen der Assoziationstätigkeit. Die kurzen Abschnitte in Teil 1 von En hemstad sind mit Bezeichnungen von Straßen und Plätzen versehen, so dass die historische Topographie und die Erinnerungslandschaft aufeinander projiziert erscheinen: die vielen Adressen der Familie, die wie auf der Flucht lebte, Routen, Szenetreffpunkte, persönliche Erinnerungsorte der 1960er Jahre  so werden alte Wegstrecken genauso wie auch vorab formulierte oder umschriebene, gleichsam vorgebahnte Erinnerungen abgetastet und geprüft.

Die markante Gliederung stellt sich der thematischen Stagnation entgegen und behauptet Ereignisstrukturen. Zu den in den ersten beiden Bänden erörterten Traumata tritt der Selbstmord des früheren Freundes Sonny hinzu, der sich in einer verheerenden Abhängigkeitsbeziehung zu einem älteren Mann befunden hatte, so dass die Themen sexueller Missbrauch und Prostitution erfasst werden. Beiden Erniedrigungen gehe der Verlust der Würde, näher bestimmt als die Degradierung eines Menschen zu einer Ware oder einem bloßen Instrument voraus. Dieser erlittene Verlust der Selbstachtung führte dazu, dass die Opfer in die destruktive Beziehung der Abhängigkeit von Personen wie auch Drogen einwilligten, bis ihnen schließlich die Voraussetzungen für das ‚Mensch-Sein‘ abhandengekommen sind.

Von Sonny ist schließlich nur noch ein ‚Sich-Ausliefern‘ übrig. Die Figur ist wohl auch stellvertretender Repräsentant für die Seiten des Verfassers, die zerstört worden sind. Diese potentielle Auskopplung eigener, unerträglicher Erfahrungen wird mit großem Pathos umschrieben: „Mönstrade han inte på dödsskeppet? (Heuerte er nicht auf dem Totenschiff an?, III, S. 89). Dies bedeutet im Vergleich mit der Arbeitsplatzschilderung von Yarden einen Stilbruch, von dem schwer einzuschätzen ist, ob er absichtlich, also markiert erfolgen soll. Der sprechende Name Sonny weist gleichzeitig auf die Verantwortung des Ich-Erzählers für den Sohn hin, dessen Name ungenannt bleibt.

Christliche und marxistische Erlösungshoffnungen werden miteinander verschmolzen, wie gerade in der Hiob-Adaption und in der Stilisierung von Liebeserlösung und Versöhnung nachvollziehbar wird: Der rettende Engel, der Gnade bringt und das Leben neu erleuchtet, ist die geduldige Geliebte K. Die Mutter ist ein weiblicher Hiob; sie hat die Weichen für das Leben des Erzählers gestellt, dem ebenfalls Hiob-Qualen auferlegt scheinen. Der zweite Teil trägt entsprechend Zitate aus dem Buch Hiob als Zwischenüberschriften. Yarden wird hier unter anderen Vorzeichen betrachtet, nämlich als paradigmatischer Ort, der eine Bühne der mütterlichen Psychosen versinnbildlicht. So erscheint der Verladeplatz eigentümlich subjektiviert und pathologisiert, so dass er als globaler Nicht-Ort für die blatte-Gemeinschaft von Zeitarbeitskräften an Bedeutung einbüßt (vgl. S. 110). Der Erzähler nimmt eine exaltierte Leidenspose ein, als Gekreuzigter oder Lazarus: „Jag är den pojken. Titta på honom. Titta noga.“ (Ich bin dieser Junge. Schau ihn dir an. Schau genau hin. III, S. 126).

Die sprachliche Suggestionskraft verblasst angesichts der Redundanzen, obgleich diese – wie erwähnt – ein Kohärenz stiftendes Verfahren ausmachen. Die verbalen Äußerungen der Mutter, im folgenden Beispiel ihr Gesang, werden auf eine Weise beschrieben, die auch auf Lundbergs Prosa zutrifft: „En och samma sång som loopar, som en hålremsa genom skallen, den bara matas ut och in, ut och in.“ (Immer dasselbe Lied, das in einem Loop festhängt, wie ein Lochstreifen, der durch den Schädel läuft, immer wieder heraus und herein, heraus und herein. III, S. 69).
„Klasse“ ist im dritten Roman der Trilogie keine intersubjektive, soziokulturelle Kategorie, sondern ein pathologischer Zustand, ein auf das Ich bezogenes Inferno. Dies wird dem im Titel verwendeten metaphorischem Begriff „Klassendunkelheit“ sehr deutlich: „Detta klassmörker, detta tätnande mörker som bryter sönder oss, som vore vi smala tunna stickor.“ (Diese Klassendunkelheit, diese sich verdichtende Dunkelheit, die uns zerbricht, als wenn wir schmale, dünne Hölzer wären. III, S. 70). Die eigene ‚Klassenreise‘ führt ins Nirgendwo, lässt von keinem Standpunkt aus eine Distanzierung von der Herkunft zu. Klasse als Schicksal, das den Körper seit der Geburt formt. „Detta är ett pågående helvete. Detta är klass som sjukdom.” (Dies ist ein andauerndes Höllendasein. Dies ist Klasse als Schicksal. III, S. 105).

Angesichts der Intensität von Lundbergs Autofiktion und der vom Autor intendierten Auflösung der Grenzen von Erzählinstanz und realem Autor ergibt sich eine ethische Problematik: Das Schreiben des Ich-Erzählers ist mit einer therapeutischen Funktion versehen, wird oft sogar als Überlebensstrategie dargeboten. Entzieht sich der Text daher gängigen Rezeptionsmustern? Kann man traumatische Erfahrungen rezensieren? Oder weckt die Enthüllung privater Sensationen gerade die Neugier der vielen begeisterten Lundberg-Leser in Schweden? Kann die literarische Erkundung des Paria-Daseins sogar ein voyeuristisches Schaudern auslösen?
Ein Vergleich mit Klaus Ove Knausgaards Romanserie Min kamp böte sich an. Das detaillierte Schreibverfahren und der Umfang der Werke scheinen den Lesenden anzubieten, sich auf hyperrealistische Weise für längere Zeit in eine ‚authentisch vergewisserte‘ Lebenszeit einer anderen Person hineinzubegeben – weniger in der Art des Hineinversetzens in Figuren, sondern mit einer (performativ offerierten) Perspektivübernahme des jeweiligen Autofiktion-Schreibenden. Sowohl bei Knausgaard als auch bei Lundberg finden sich die Leser in der Lage wieder, selbst Formulierungen zu suchen, einen inneren Monolog zu führen und so ihre eigene ‚Gedankenmühle‘ mahlen zu lassen. Werden auf diese Weise gerade Leser angesprochen, die davon träumen, sich ‚nach Hause zu schreiben’ oder sich ihrer Herkunft (und damit auch ihres Werdegangs) zu vergewissern?
Da der Klassenbegriff im Laufe der Trilogie in Frage gestellt wurde, bleibt an deren Ende nur die heimatliche Region als eine tröstlich dargebotene, kollektive Bezugsgröße zurück.

Der dritte Band ist mithin zu einem Bekenntnisroman geworden. Wie Vergleiche mit der Männerliteratur der 1970/80er Jahre vermutlich zeigen könnten, steht die persönliche Krise zweifellos unter neuen Vorzeichen, nämlich der in Frage gestellten Lohnarbeit unter dem Aspekt bedrohter Maskulinität. Der chronisch schlaflose Ich-Erzähler hat sich im Kampf zermürbt, bäumt sich nach der Rettung durch beide Ks auf, um seinem Sohn ein stabiles Dasein zu schaffen. Dieser soll in Vertrauen und Fürsorge aufwachsen können, ohne von der schichtspezifischen Tradition gezeichnet zu werden, die hier zu einem „Klassenschicksal“ oder einer „sozialen Erbsünde“ (sociala arvsynd, II, S. 60) gesteigert erscheint.

Mit dem Slogan „Klasse ist Schicksal“ fühlt man sich unmittelbar an „biology as destiny“ oder „Geschlecht ist Schicksal“ erinnert. Lundbergs pathologisierendes Konzept einer sprichwörtlichen sozialen Stigmatisierung bedient sich – überraschenderweise – ähnlicher Metaphern wie ein Artikel des Sozialversicherungsministers Ulf Kristersson von der konservativen Partei Moderaterna: „Jag tror att framtidens fördelningspolitik måste handla om social rörlighet. Sverige ska vara ett land där alla kan bli något, ett land fullt av inspirerande ’klassresor’, där man oftare får frågan vart man är på väg än varifrån man kommer. Men mot löftet om social rörlighet står alltför ofta hotet om social ärftlighet.” (Ich glaube, dass die zukünftige Verteilungspolitik sich der sozialen Mobilität widmen muss. Schweden soll ein Land sein, in dem alle etwas werden können, ein Land, in dem viele anregende und erfolgreiche Berufswege möglich sind, und in dem man häufiger gefragt wird, wohin man möchte, als danach, woher man stammt. Aber diese vielversprechende Leitidee wird allzu häufig durch die Vererbung der sozialen Schicht bedroht. Ulf Kristersson: ”Sverige ska vara ett land av inspirerande klassresor”, in: Dagens Nyheter, 22.8.2013). Nun ist allerdings zu berücksichtigen, dass Vererbungsmetaphern in den skandinavischen Sprachen nicht ähnlich negativ konnotiert sind wie im deutschen Sprachgebrauch; dennoch scheint mir dieser spezielle kulturkonservative Akzent in Lundbergs Gesellschaftskonzept erwähnenswert, um das übergreifende politische Anliegen dieses bewunderten Autors nuancierter betrachten zu können.

Kristian Lundberg: En hemstad. Berättelsen om att färdas genom klassmörkret. Stockholm: Wahlström & Widstrand, 2013.
Kristian Lundberg: Och allt skall vara kärlek. Stockholm: Ordfront förlag, 2011.
Kristian Lundberg: Yarden. Höör: Symposion, 2009.
(Antje Wischmann, Tübingen, Oktober 2013)

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Ellen Mattson: Vinterträdet

ellen_mattsonBefreiung durch Vendela.
Ellen Mattson: Vinterträdet (2012)

Was war das Geheimnis der Garbo? Ellen Mattson gibt eine überraschende Antwort: Vendela – eine junge Frau aus Göteborg, die Ende der 1920er Jahre eigentlich in die USA auswandern wollte, um in einer Brauerei zu arbeiten.

Nur durch diese Zufallsbekanntschaft konnte Greta Garbo ihre Aura aufrechterhalten und ihr Geheimnis inszenieren. Allein dieser Weggefährtin Vendela ist es zu verdanken, dass die schwedische Ikone auch in der Phase nach ihrer Zusammenarbeit mit dem Regisseur Mauritz Stiller erfolgreich blieb. Vendela ist die kompetenteste Nachlassverwalterin Garbos (geb. 1905) für den Zeitraum von ca. 1925 bis 1940, aber – das mag Garbokenner wie Leser zunächst überraschen – sie ist eine fiktive Romanfigur und die Ich-Erzählerin in Vinterträdet (Der Winterbaum).

Vendela schummelt sich in die ersten Romanzeilen des biographischen Plots um Greta Garbo (geb. als Greta Gustafsson, 1905) hinein, und auch die Leser begeben sich an Bord des Schiffes und damit auf die Reise von Göteborg nach New York. Psychologisch und erzähltechnisch wird Vendela dadurch eingeführt, dass sie hinter einem Rettungsboot steht und sogleich verdächtigt wird, eine verborgene Kamera bei sich zu tragen, um die berühmteste Passagierin des Schiffs heimlich fotografieren zu können.

Der Roman synthetisiert biographisches Material, wie es viele Leser bereits bei P.O. Enquist, Carina Burman, Peter Englund, Sigrid Combüchen, Sara Stridsberg u.a. kennengelernt haben, zieht aber eine Meta-Ebene ein, die in spezifischer Weise die Autorschaft von Biographien beleuchtet.

Vendela Berg, die in vielen Episoden zur Protagonistin avanciert, ist zwar in die dargestellte Welt involviert, aber sie kann jederzeit auch eine Überblicksperspektive einnehmen, so dass sie mehrere Funktionen übernimmt:
• Sie ist eine Sendbotin der Autorin und der Leser, welche in die Vergangenheit geschickt wird, um das Geheimnis des Stars aus nächster Nähe zu erkunden.
• Sie kann – durch eine phasenweise Angleichung ihrer äußeren Erscheinung an das Aussehen der Garbo – in der Öffentlichkeit als Double des Stars auftreten. So steht sie Greta hilfreich zur Seite, wenn es darum geht, Journalisten und Photographen abzuhängen. Mit dieser schwesterlich anmutenden Mimikry kompensiert Vendela die soziale Phobie des Stars.
• Ihr Vorname spielt auf die erste Stockholmer Journalistin Wendela Hebbe (1808-99) an, wodurch ein Bezug zur Autorin hergestellt wird, die für Svenska Dagbladet arbeitet.
• Vendela illustriert selbst einen schwedisch-amerikanischen Mythos des Aufstiegs. Die Begleitung der Garbo verschafft ihr nicht nur einen Lebensunterhalt, sondern auch Bildung und anderes symbolisches Kapital. Die Kontingenz von Vendelas Werdegang beleuchtet dabei zugleich auch die Willkür von Greta Garbos fulminanter, mitunter kaum mehr nachvollziehbarer Erfolgsgeschichte.
Vendelas genannte Funktionen verraten, dass sie selbst einen beträchtlichen Anteil an Gretas einträglichen Filmgeschäften hat; sie ist social secretary, Gesellschaftsdame, Haushälterin, Managerin, Freundin. Sie nimmt den Auftrag an, Schauspielerin im Leben zu werden: „jag steg in i rollen“ (ich ließ mich auf die Rolle ein, S. 27).

Mattsons Roman Vinterträdet orientiert sich an der bekannten Karriere-Chronologie der Garbo, wie sie auch viele filmgeschichtliche oder biographische Darstellungen vorgeben. Die von Mattson verarbeitete Literatur ist reichhaltig und heterogen. Bei einer groben Sichtung einiger der zitierten Publikationen fällt mir persönlich auf, wie anregend gerade die zeitgenössischen Materialien wirken, wie etwa der leicht im Netz zugängliche Text „Greta Garbos Saga“ (Das Märchen Greta Garbos), der 1929 bei Bonniers erschien.

Gretas Verhandlungsgespräche mit dem Produzenten Mr. Mayer von Metro-Goldwyn-Mayer werden auf erfrischende Weise satirisch zugespitzt. Ihr wiederholt ausgestoßenes „Noooooo!“ drückt ihre (und wohl auch Vendelas) Empörung über die wiederkehrenden, stereotyp melodramatischen weiblichen Filmrollen aus. Gretas Heimweh nach Schweden, das durch Wintersport, heimische Hausmannskost, schwedisches Dienstpersonal und eine rasche Folge von Umzügen gelindert werden soll, ist selbst mit den ständig wachsenden Gagen von MGM kaum noch zu bekämpfen.

Vendela beginnt, über das Leben mit Greta Tagebuch zu führen, als die beiden das erste Haus in Los Angeles beziehen. Ihre Dokumentation scheint gleichsam als Quelle in Mattsons Roman eingeflossen zu sein. Die Filmarbeiten zu Anna Christie, Susan Lennox, Mata Hari, Anna Karenina werden im Roman nur kurz umrissen, wie um die Typenhaftigkeit der titelgebenden Rollen zu bestätigen, während das Filmprojekt Drottning Christina handlungsstrukturierend eingesetzt wird: Die Filmszenen greifen in die Wirklichkeit ein, nun scheint auch Vendela in das filmisch erzeugte Kontinuum aus Biographie(n) und gelebtem Leben einzutreten. In den unterschiedlichen Episoden und den Varianten der Rollenbesetzung werden wie nebenbei auch verschiedene Lebensentwürfe des Paares durchgespielt. Vendela verfasst nämlich selbst ein Drehbuch unter dem Titel Kung Kristina; an der Seite der Königin hätte sie selbst die Rolle der Hofdame oder die des Pagen übernehmen können (der allerdings den wenig klangvollen Namen Åke trägt). Greta bringt dagegen ihren Missmut darüber zum Ausdruck, dass die Königin laut Drehbuch ihrer Hofdame so viele zärtliche Gesten zuteilwerden lässt. Die unterschiedlichen Erwartungen der beiden Frauen weisen auf deren bevorstehende Trennung voraus.
Vendelas Drehbuch wird in Hollywood nicht realisiert. Ebenso wenig kann sich das Filmscript der esoterisch-exaltierten Mercedes de Acosta durchsetzen. Greta wählt nämlich, wie so oft, einfach den bequemsten Weg, in diesem Fall das eher anspruchslose Drehbuch von Salka Viertel et al., das 1933 verfilmt wurde.

Vertiefend werden auch die intensiven Freundschaften mit dem umschwärmten Schauspieler Nils Asther und der bekannten Garbo-Biographin Mercedes de Acosta (Here lies the Heart, 1960) behandelt. In den jeweiligen Figurenrelationen und potentiellen Paarbildungen entstehen Begehrensdreiecke, die sich einerseits auf die Eroberung des Herzens der sogenannten Eiskönigin und andererseits auf das biographische Deutungsvorrecht erstrecken.

Vendelas Tagebuch, ihr Notizbuch und der Drehbuchentwurf ergänzen sich fortlaufend. Schließlich ist in der Queen Christina-Phase ein romanartiges Textgebilde von 500 Seiten entstanden (Mattsons Roman hat allerdings nur 380 Seiten.). Dieses umfängliche Manuskript, das Greta übrigens nicht lesen mag, flirtet sogar mit dem Genre des historischen Romans aus der Ich-Perspektive: Es wird kurz aus einem fingierten autobiographischen Dokument der historischen Gestalt zitiert (vgl. S. 253). Selbstverständlich kommentieren sich die Schicksale der ungerecht beurteilten Diven gegenseitig: Greta bewundert die Königin Kristina (1626-89) für ihren radikalen Schritt, sich nach einer zehnjährigen Karriere aus der Öffentlichkeit und von allen Ämtern zurückzuziehen. Kristinas Thronverzicht wird, nicht ohne Selbstmitleid, von ihr mit der eigenen ersehnten Befreiung aus den ‚unterjochenden‘ Verträgen mit MGM verglichen. Vendela durchschaut, dass dies ein naiver eskapistischer Traum ist und merkt skeptisch an, dass die historische Herrscherin ihre Entscheidung später bereut zu haben schien, da sie nach dem Thronverzicht auf desparate Weise eine Anhäufung neuer Aufgaben angestrebt hätte, um der plötzlichen Leere in ihrem Leben etwas entgegensetzen zu können.

Die legendäre Schüchternheit der Garbo steht in einem paradoxen Widerspruch zu ihren allgegenwärtigen Leinwandauftritten vor einem Massenpublikum. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis des Versteckens und dem als entfremdet erlebten Arbeitsauftrag des Sich-Zeigens hat das Geheimnis um diesen Star genährt und auch die naheliegende Frage aufgeworfen, ob Greta Gustafsson überhaupt als eine Diva bezeichnet werden kann. Die öffentliche und die private Sphäre bleiben strikt getrennt; Mattsons Garbo zieht sich immer wieder in den privaten Schutzraum zurück, der mit Vendelas Hilfe stets als ein behaglicher Ort gestaltet wird.
Vendela bezweifelt die professionelle Begabung der Garbo und berichtet, dass jede Szene auf der Basis intensiver Einfühlung nur ein einziges Mal gespielt und aufgenommen werden könnte. Greta Garbo scheint ihrer Darstellung zufolge gerade in dem Widerspruch, sich zugleich zeigen zu müssen und verstecken zu wollen, gefangen. Vendela beobachtet, wie selbst im Filmstudio mit einem Schutzvorhang gearbeitet wird, der eine absurde Reduzierung der Blickoptionen erreichen soll: Damit allein der Regisseur und der Kameramann den Star während einer Aufnahme sehen können, bleibt die Garbo vor den nicht vor der Kamera eingesetzten Kollegen und dem Personal am Set abgeschirmt. Dieser Vorhang ist von zahllosen ‚Augenlöchern‘ durchsetzt, verbildlicht gar eine Zusammenfügung der konkreten Blicke. (Eine solche Augen-Ansammlung zitiert vermutlich eine Einstellung aus Metropolis (Fritz Lang 1925/26), in der unzählige aneinandergefügte Zuschauer-Augen auf eine  halbnackte Varieté-Tänzerin gerichtet sind.) Der Greta zuliebe installierte Schutzschirm wurde durch die vielen Blicke längst perforiert.
Damit ist das Stichwort gefallen: Vendela „punktiert“ den Mythos, wie man in den skandinavischen Sprachen sagt. Einerseits bestätigt sie die soziale Phobie und die Paranoia des Stars, die das Publikumsbegehren nur weiter anstacheln. Andererseits stellt Vendela mit wachsendem Nachdruck heraus, dass die Garbo vor allem ein ‚leeres Zeichen‘, eine Maske und eine universelle Projektionsfläche bietet. Wie wenige andere Stars meisterte die Garbo, selbst als relativ ungeschulte Sprecherin mit starkem schwedischen Akzent, den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Vendela konstatiert, dass sogar dieser gelungene Eintritt in die Welt des Tonfilms Gretas geheimnisvolle Aura weiter anreichert, völlig grundlos, wie Vendela indiskret verrät: „Man tror att hon har en hemlighet. Men i själva verket är det kanske bara hennes engelska som är dålig?“ (Man glaubt, dass sie ein Geheimnis hat. Aber vielleicht liegt dies in Wirklichkeit nur an ihrem schlechten Englisch?, S. 269).

Weder zur Selbstbestimmung noch zu einer vertrauensvollen Liebesbeziehung, weder zu intellektuellen Leistungen noch zur geistreichen Konversation ist Greta in der Lage – die letztgenannte Schwäche wird auf hinreißend komische Weise durch das entsetzte Abwenden Albert Einsteins bei einer Society-Party illustriert (vgl. S. 305). Die allein von Vendela registrierte Panne wird effektvoll mit ihrer eigenen Beschreibung Gretas kontrastiert, die sich einer übertrieben huldigenden Tonlage bedient: „där allt arrangerats om en tavla, med soffan, där Greta satt i gyllene snittet, just där ljusstrålen skulle ha fallit på Maria medan ängeln knäföll framför henne“ (wo alles wie in einem Gemälde angeordnet war, mit dem Sofa, auf dem Greta saß, im goldenen Schnitt, gerade an der Stelle, wo der Lichtstrahl auf Maria gefallen wäre, als der Engel vor ihr niederkniete; S. 303). Die Pose andächtiger Anbetung könnte beispielsweise auf die Attitüde des Goethe-Biographen Johann Peter Eckermann anspielen, allerdings nur insofern, als Eckermanns lange unterschätzter Einfluss auf Goethes Schaffen mittlerweile verstärkt Beachtung gefunden hat. Statt einer bewundernden Haltung bevorzugt Vendela nämlich den gleichberechtigten Austausch.

Ebenso wenig könnte Vendela mit den in der Paarformation interagierenden Erzählerfiguren John Watson oder Serenus Zeitblom verglichen werden. Vermutlich ist es eher die Rolle der Babba in Kerstin Ekmans Roman über ein weiteres symbiotisches, ko-produzierendes Künstlerinnenpaar, Grand final i skojarbranschen (2011), die der meist unauffälligen Vendela auf den Leib geschrieben ist? Auch Ekmans Roman wartet mit einem subversiven Befreiungspotential auf, er entfesselt die Autofiktion geradezu und verteilt die literarische Produktion und die öffentlichkeitswirksame Tätigkeit im Literaturbetrieb auf zwei Schriftstellerinnen, die von den dargestellten ahnungslosen Lesern als eine Einheit aufgefasst werden. In der offiziellen Werkbiographie des Stars ist Vendela wie Babba in Ekmans Grand final nicht repräsentiert.
Ellen Mattson scheint demnach die biographische Position und den impliziten Kontrakt zwischen Lesern und (textinternen oder historisch verbürgten) Biographen zu entfesseln. Indem Vendela nämlich trotz ihres Schattendaseins sogar als Gretas Double aufzutreten vermag, offenbart sich die schier unglaubliche Bandbreite ihrer Erscheinungsformen. Führt man den Vergleich mit Ekmans Autofiktion weiter, wäre in der dargestellten Welt von Vinterträdet vorstellbar, dass es Vendela möglicherweise im Laufe der biographischen Kooperation noch gelänge, Greta eines Tages das Profil einer echten, divenhaft auftretenden Schauspielerin zu verschaffen und deren eigenverantwortliches schöpferisches Handeln zu initiieren. Zum Zeitpunkt der gemeinsamen Rückkehr nach Stockholm scheint Vendelas Kapazität schlichtweg über die Gretas hinausgewachsen. Auch deshalb müssen sich die Wege des aus dem produktiven Gleichgewicht geratenen Paares trennen; dies ebenfalls eine markante Parallele zur Entwicklung der Ekmanschen ‚Literaturfirma‘ Babba & Lillemor.

Mattsons innovativ erweiterter Roman bestätigt demnach die Zweifel am Potential zur großen Diva. Vendela erfährt von ihrer Freundin und Chefin, dass diese deshalb gerne Königin Kristina spielten wollte, um endlich als rundliche ältere Frau auftreten zu dürfen und so u.a. auf ihre strengen Diäten und mechanistischen Sonnenbäder verzichten zu können. Keine sehr hohen Ansprüche – das Dasein in der melodramatischen Scheinwelt hat den Star längst auf ein inhaltlich dürftiges Rollenfach festgelegt. Die paradoxe Arretierung von Zeigen und Verbergen scheint akzeptiert. Folgt man Vendelas Darstellung, bedeutet das Schauspielerinnenleben für Greta Garbo eher resignative Dienstleistung als Glamour.

Soeben ist Lena Einhorns biographischer Roman Blekingegatan 32 über Greta Garbo und ihre Freundin Mimi Polak erschienen (Stand 20. August 2013). Fast könnte es scheinen, als ob Mattson und Einhorn sich abgesprochen hätten, denn Einhorn behandelt Greta Garbos Kindheit und Jugend, die Entdeckung und Betreuung durch Stiller sowie die Zeit vor dem Aufbruch nach Amerika. Obwohl die Literaturverzeichnisse von Einhorn und Mattson einige  übereinstimmende Titel nennen, ist Einhorns Roman eindeutig von einem geschichtsillustrierenden und archivarischem Interesse beherrscht. Der Briefwechsel zwischen den beiden genannten Jugendfreundinnen wurde von Einhorn erst 2005 gesichtet. Das unverkennbare Anliegen, eine intensive Beziehung unter Frauen in ein neues Licht zu setzen, mag für beide biographische Romane zutreffen. Der warmgoldene Schein des literarischen biopic, der von Blekingegatan 32 ausgeht, profiliert jedoch das erzählerische Wagnis von Vinterträdet umso deutlicher. Anders ausgedrückt: Vendela wird von mir schmerzlich vermisst.

Vendela_Hebbe_1842

Wendela Hebbe 1842

Greta_Garbo_in_Meyers_Blitz-Lexikon_1932

Greta Garbo 1932

 

 

 

 

 

 

 
Ellen Mattson: Vinterträdet. Stockholm: Albert Bonniers Förlag, 2012.
(Antje Wischmann, Tübingen, September 2013)

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Per Petterson: Jeg Nekter

PettersonInnerhalb von wenigen Jahren ist der Norweger Per Petterson (geb. 1952) zu einem der international erfolgreichsten skandinavischen Gegenwartsautoren geworden. Seit er 2003 seinen Publikumsdurchbruch mit Ut og stjæle hester (dt. Pferde stehlen) erlangte, ist er in 49 Sprachen übersetzt worden und hat eine Vielzahl von literarischen Preisen erhalten, u.a den angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats für Jeg forbanner tidens elv (2009; dt. Ich verbanne den Fluss der Zeit). Auch sein jüngstes von mittlerweile neun Werken, der 2012 erschienene Roman Jeg nekter (Ich verneine), wurde von der norwegischen Kritik wiederum enthusiastisch aufgenommen. Petterson gilt als traditioneller, aber großer Erzähler, als Realist des Alltags- und Familienlebens, als sicherer Stilist, der Sätze schreibt »wie gemeißelt« (Lars Bonnevi); seine Charaktere gelten als absolut authentisch, er verstünde es, so heißt es, die einfachen Themen mit großer Intensität wirken zu lassen. »En vakker og trist og barmhjertig og ubønnhørlig tekst« schrieb Trygve Riiser Gundersen in Dagbladet »bekrefter Per Pettersons status som en av Norges aller, aller beste romanforfattere i dag […] Med stillferdig selvfølgelighet omdanner nordmannen alle verdens tilfeldigheter til litteratur« (Ein schöner und trauriger und barmherziger und unerbittlicher Text bestätigt Per Pettersons Status als einen von Norwegens aller, allerbesten heutigen Romanschriftstellern. […] Mit stiller Selbstverständlichkeit verwandelt der Norweger die Zufälligkeiten der Welt in Literatur.).

Ein Charakteristikum und eine Besonderheit ist es, dass es fast immer die Gefühlswelt von Männern ist, die Petersson entwirft, es sind die Beziehungen von Vätern und Söhnen, von Söhnen zu Müttern oder von Brüdern zu Schwestern oder auch Jungenfreundschaften, die aus der männlichen Perspektive geschildert werden. Seine Protagonisten, die Männerleben auf verschiedenen Altersstufen repräsentieren, stellen zum Teil Verkörperungen von autobiographisch belegbaren Erfahrungen und Beziehungen dar, wobei die psychologische Darstellung aber immer auch Elemente des unauflösbar Rätselhaften enthält und nicht im biographisch belegbaren aufgeht. Eine besondere Rolle spielt meist auch die Beziehung zur Natur, die den Texten ein Moment von Ruhe, ja fast von Idyll unterlegt, das aber nicht ungebrochen oder regressiv eingesetzt wird, sondern eher einen Projektionsraum der Gefühle darstellt. Ihre Stille bildet ein Gegengewicht zur physischen und psychischen Gewalt, die eine weitere Konstante im Romanuniversum Pettersons bildet, seine Protagonisten bedroht, sie in den meisten Fällen aber nicht scheitern lässt.

Jeg nekter setzt sowohl stilistisch als auch thematisch die Reihe der Romane in einer Manier fort, die die Kritik von spezifisch ›pettersonsch‹ sprechen lässt und diesen Roman mit dem Buchhändlerpreis 2012 auszeichnete. Es geht um zwei Kindheitsfreunde, die sich nach 35 Jahren der Trennung auf einer Brücke zufällig wieder begegnen. Der Roman stellt die – unbeantwortete – Frage, was eine Freundschaft ausmacht und wieso der Verlauf des Lebens zwei enge Freunde auseinandertreiben kann, ohne dass die Betroffenen selbst es zu verstehen scheinen. Der Text unterscheidet sich von seinen Vorgängern durch eine kapitelweise wechselnde Erzählperspektive, in der die beiden Protagonisten Jim und Tommy, aber gelegentlich auch Tommys Schwester Siri, zu Wort kommen; andere Kapitel fokussieren punktuell Tommys Mutter Tya und seinen Pflegevater Jonsen, über sie wird jedoch ausschließlich in der dritten Person berichtet. Die Narration wechselt also zwischen erster und dritter Person und zwischen verschiedenen Perspektiven, so dass der Leseprozess zwangsläufig nach Konvergenzpunkten sucht. So kommt es auch punktuell zu Perspektivenüberschneidungen, die aber keine Erklärungen liefern.

Das mosaikartige Arrangement des Erzählens wird gesteigert durch die aufgebrochene Chronologie der Handlung. Die zeitliche Perspektive wechselt zwischen einer Gegenwartsebene im Jahre 2006 und Rückblicken in die 1960er und 70er Jahre. Einen Kernpunkt der Handlung stellt dabei der Winter 1970/71 dar, als die Freundschaft der beiden bis dahin unzertrennlichen Jungen zerbricht und Jim nach einem Suizidversuch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, ohne dass der Grund dafür explizit gemacht wird. Der Aufbau macht auf diese Weise auch auf die Zeit als ein weiteres der in Pettersons Werk immer wiederkehrenden Themen aufmerksam: Im Falle dieses Romans ist die Zeit in Szenen aufgesplittert, sie enthalt viele Leerstellen und ergibt keine Kohärenz, die den Sinn eines Lebens hervorbringen würde. Es gibt zwar bedeutungsvolle Momente, aber aus ihnen scheint sich kein Sinnzusammenhang zu erwachsen, sind es Zufälle, Sinnlosigkeit oder unterbrochene Linien, die die beiden Lebensläufe bestimmen. Dieses strukturelle Moment erfährt eine Steigerung in den Schlusskapiteln des Romans, als die beiden früheren Freunde, nach ihrem zufälligen Wiedertreffen, sehr nah zueinander geführt werden – sie halten sich wiederum zufällig ganz kurze Zeit nacheinander im selben Gebäude auf – und sich doch nicht begegnen, was einen Effekt der Sinnlosigkeit hervorbringt und tragische Konsequenzen hat.

In den ersten Kapiteln des Buches schien es zunächst, als ob der von seiner Mutter früh verlassene Tommy die tragische Figur des Buches werden soll. Seine Kindheit ist von brutalen Schlägen des Vaters geprägt, deren lakonisch-sachliche Schilderung sie für den Leser umso unerträglicher erscheinen lassen. Den gewaltsamen Übergriffen des Vaters, unter denen vor allem auch die jüngeren Schwestern zu leiden haben, entzieht er sich schließlich durch Gegengewalt, vor der der Vater flieht und verschwindet. Danach sind die vier Geschwister vollkommen auf sich allein gestellt, die Freundschaft zu Jim stellt die emotionale Konstante in Tommys Leben dar. Diese Elendsschilderung, in der Milieustudie und psychologische Schilderung sich die Waage halten, wird aber nicht im naturalistischen Sinne fortgeführt: Denn es ist Tommy, der später im Leben erfolgreich ist, er ist der Mercedesfahrer mit den schicken Anzügen, während der ehemalige Freund arbeitslos und verzweifelt ist und sich am Ende wohl umbringen wird. Kein Determinismus unterliegt dieser Schilderung, das in vielen Aspekten rätselhaft bleibende Leben der beiden Männer verweigert Vorhersehbarkeit und logische Erklärungen, eine Sinngebung bleibt aus.

Darin liegt die Melancholie dieses Romans, der durch den Titel Jeg nekter Bestätigung erfährt. Die Phrase wird mehrfach im Verlauf des Textes von unterschiedlichen Personen in Bezug auf unterschiedliche Situationen benutzt: So verweigert Tommy die Versöhnung mit dem Vater und im Schlusskapitel weigert sich Siri, eine Spur der verloren geglaubten Mutter sowie ihre eigene Vergangenheit anzuerkennen und zu verfolgen. Immer wenn der Roman Zufälle des Zusammentreffens und der schicksalhaften Begegnungen arrangiert, entziehen sich die Figuren dem Sinngebungsangebot. Auf diese Weise bleiben sie alle allein, und die Struktur des Romans wird zum Ausdruck von Sinnkrise und Traurigkeit.

Wieder einmal hat Petterson große Themen und große Gefühle stilsicher und an Lakonie grenzend erzählt. Und doch vermag dieser Roman, vielleicht bedingt durch den – thematisch berechtigten – Aufbruch der Narration, nicht ganz dieselbe erzählerische Magie zu entwickeln wie die Vorgängertexte Ut og stjæle hester oder Jeg forbanner tidens elv. Man wünscht sich, dass dieser begabte Erzähler einmal ein ganz anderes Thema aufgreift und dass der Erfolg nicht zur Stagnation des Werkes führen möge, die eine gewisse Gefahr darstellt. Wenn man wohlwollend liest, könnte man die strukturellen und narrativen Neuerungen als einen Schritt zu einer Komplexitätssteigerung sehen, die dem Weg vielleicht neue Wege öffnen.

Per Petterson: Jeg Nekter. Oslo: Forlaget Oktober, 2012.
(Annegret Heitmann, München, April 2013)

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