Johannes Anyuru: En storm kom från paradiset

anyuru_enstormWurzeln im Begeisterungsturm. Johannes Anyuru: En storm kom från paradiset (2012)

Johannes Anyuru ist Schwedens literarischer Überflieger des Jahres 2012. Mit dem Roman En storm kommer från paradiset (Ein Sturm weht vom Paradiese her) hat er selbst einen Sturm der Begeisterung in der schwedischen Kulturlandschaft hervorgerufen.

Die in Schweden endende Irrfahrt eines ugandischen Kampfpiloten steht im Vordergrund des Romans. Es ist jedoch kein Flugzeugunglück, das den Piloten ‚P‘ in den Norden Europas befördert, sondern vielmehr ein sozialer Absturz: Dem jungen P stehen im postkolonialen Uganda zunächst alle Türen offen, da sich das Land nach der Unabhängigkeit neu organisieren muss und Karrierewege leicht zugänglich sind. Im Militär, so glaubt P, ließe sich sein Traum vom Fliegen am Besten verwirklichen, und nach der erfolgreichen Musterung kann die Karriereleiter bei der ugandischen Luftwaffe erklommen werden. Zu Ausbildungszwecken wird P an eine Militärakademie in Griechenland abkommandiert. Dass P in Europa einen Großteil seines Lebens verbringen wird, ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht Teil seines Zukunftsplans. Doch Idi Amins Putsch in Uganda macht ihm aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit die Rückkehr unmöglich. Seinen Traum, Pilot zu werden, kann P mit dem fortan geltenden Flüchtlingsstatus nicht mehr ausleben. Die Rückkehr auf den afrikanischen Kontinent ist in dieser Hinsicht für ihn vielversprechender. Ein vermeintliches Jobangebot lockt ihn nach Sambia, wo ihn allerdings Verhörräume und Flüchtlingslager erwarten. P gelingt die Flucht nach Kenia und lebt dort zunächst am Existenzminimum. Erst durch die Heirat mit einer Schwedin gelangt P zurück nach Europa.

Die Nationalität der Frau ist das entscheidende Detail für die erfolgte Rezeption des Romans in Schweden. P stehe nämlich nicht für ‚pilot‘; es stehe für ‚pappa‘, so zumindest sieht es das schwedische Feuilleton. Eine Meinung, die an den biographischen Hintergrund Anyurus anknüpft, der eben Sohn eines ugandischen Kampfpiloten und einer Schwedin ist. Damit kann der Roman von der Kritik eingereiht werden in die Serie von (auto)biographischen Romanen, die in den letzten Jahren auf dem schwedischen Buchmarkt erschienen sind und allesamt von ‚Vätern‘ handeln. Neu ist, dass nun auch Autoren (die männliche Form wird hier bewusst verwendet) mit Migrationshintergrund über ihre Väter schreiben. Svenska Dagbladets Rezensent Mustafa Can sieht in der literarischen Annäherung an die ‚fremden‘ Väter die Suche nach einem eigenen Platz in der schwedischen Gesellschaft (siehe Can, Mustafa: „I brottet mellan fäder och nytt fädernesland“, dt. Im Bruch zwischen Vätern und neuem Vaterland, SvD vom 29.12.2012 ). Gleichzeitig eifern diese Söhne angeblich den  Autor*innen ohne Migrationshintergrund nach, die bereits vor ein paar Jahren mit ihren Vätern literarisch abgerechnet haben. So das gängigere Narrativ auf Schwedens Kulturseiten (siehe z.B. die Rezension „En bra bok om en pappa“, dt. Ein gutes Buch über einen Papa, von Mikaela Blomqvist und Mersies May in Göteborgsposten vom 28.09.2012). Ist Anyuru also auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft? Und kann er ihn durch Nachahmung finden?

Im Kanon der Hochkultur wurde ihm bereits ein Platz reserviert. Sein Roman war 2013 schwedischer Wettbewerbsbeitrag für den Literaturpreis des Nordischen Rates. Am Ende der Nominierungsbegründung von Eva Ström hieß es: „En storm kom från paradiset är ett mästerverk som tvingar oss att ompröva inte bara synen på vårt hemland, utan också på varje människa vi möter, som har rötter utanför den egna erfarenheten“ (En storm kom från paradiset ist ein Meisterwerk, das uns nicht nur zwingt, unseren Blick auf unser Heimatland zu ändern, sondern auch auf jeden Menschen, den wir treffen, der Wurzeln außerhalb unserer eigenen Erfahrung hat). Die kollektive Erfahrung macht hier das Heimatland aus. Die Besonderheit von Anyurus Literatur scheint der vermeintliche Zugang zu einer fremden Erfahrungswelt zu sein. Damit wird er jedoch auch dem Kollektiv fremd gemacht, das sonst angeblich die eigenen Erfahrungen homogen teilt. Die Nominierung hat wie jede Medaille ihre zwei Seiten.

Stimmen, wie die von Ström, weisen Anyuru also eine Randlage zu. Von dort aus nimmt er allerdings immer wieder in den Medien Stellung. Anyuru höjer rösten i debatt om utanförskap (Anyuru erhebt die Stimme in der Debatte um Ausgrenzung) heißt es dann auf der Website des schwedischen Fernsehsenders SVT. Anyurus Stimme ist vom Rand aus deutlich hörbar, denn er ist prominenter Kritiker des Rassismus in Schweden. Ausgrenzende Sätze wie in Ströms Kommentar gehören dadurch zum Alltagsgeschäft. Welchen Zweck aber hat das Gerede von den Wurzeln? Bei genauerer Betrachtung können die Rezensionen nur über die Metapher von den Wurzeln stolpern. Anyuru ist in Schweden aufgewachsen und am ehesten noch in den Vororten schwedischer Großstädte verwurzelt – damit zwar höchstwahrscheinlich außerhalb der Erfahrungswelt der meisten Kulturskribent*innen, aber nicht außerhalb Schwedens. Es wäre sicherlich falsch zu leugnen, dass Anyurus Roman nicht in Verbindung mit den Erfahrungen seines Vaters stünde. Ich möchte jedoch vorschlagen, den Blick kurz von Anyurus Vater abzuwenden, um den Roman im Ganzen zu lesen.

Nach einer „Kernfamilie“ lässt sich im Roman im doppelten Sinne vergeblich suchen. Zum einen taucht eine Mutter nur auf wenigen Seiten auf und zum anderen zerstört sie dabei alle Fotografien des Vaters, die seine einst vielversprechende Vergangenheit dokumentieren. Dieser Vorgang geschieht zwar lange vor der Geburt des Kindes, aber die Szene erklärt die Unmöglichkeit eines intakten Familienbildes. Der politisch unsichere Status in Kenya veranlasst die Mutter, alle Fotografien zu vernichten. In Sicherheit ist der Vater dadurch nicht – sogar im vermeintlich rettenden Schweden verfolgt ihn die Vergangenheit und die Familie wird schließlich daran zerbrechen. Das Vaterbild wird angeschlagen, und es gibt nicht einmal mehr Fotos, die einen besseren Zustand belegen könnten. Die einzigen Abbildungen des Buches zeigen, noch bevor die Handlung beginnt, in Sequenz den Hochsprung eines Leichtathleten. Wie der in der Luft festgehaltene Sprung ausgeht, bleibt unklar. Dies wird zum Sinnbild für die anschließende Erzählung. Die nach ihrer Vernichtung verlorenen Bilder werden an Kapitelanfängen durch Bildbeschreibungen der Erzählstimme ersetzt. Ein Porträt des Vaters kann in diesem Roman nur erzählt, aber nicht dokumentiert werden. Greifbare Fakten gibt es kaum, sondern nur die Fiktion des Romans. P ist nicht zwangsläufig ‚pappa‘ oder Anyurus realer Vater Paul. Es ist ein anonymer Platzhalter. Diese nicht-biographische Lesart bietet der Autor selbst im Interview mit Rakel Chukri für die Zeitung Sydsvenskan an („I en skeppsbruten himmelsguds spår“, dt. In der Spur eines schiffsbrüchigen Himmelsgottes, 25.11.2012).

P ist demnach ein ästhetischer Kunstgriff, der allzu autobiographische Lesarten zu Fall bringt. Ps Geschichte ist zudem nicht der einzige Erzählstrang des Romans. Mehrmals liefert der Wechsel der Erzählstimme zu einem erzählenden ‚Ich‘ den noch fehlenden Sohn im Familienbild. Das ‚Ich‘ markiert immer wieder, dass es sich auf einer Ps Geschichte vorgelagerten Ebene befindet und reflektiert die Möglichkeit über den eigenen Vater zu erzählen, der aufgrund biographischer Details als P identifizierbar ist. Das erzählende Ich beschäftigt sich davon abgesehen mit seinem eigenem Umzug und kann nicht leicht verortet werden. Es verlässt die Vororte Göteborgs und begibt sich in eine bessere Wohngegend. Während des Erzählens befindet es sich somit immer im Dazwischen. Erzählt wird an Durchgangsstationen, wie z.B. einem Hotel, eine ‚Klassresa‘, wie es im Schwedischen heißt – also eine Geschichte von sozialem Auf- bzw. Abstieg. Diese findet allerdings innerhalb der schwedischen Landesgrenzen statt, und die Erzählung von fernen Ländern ist nur Kulisse. Die erzählerische Ausgestaltung des Romans über den Vater, und damit den fiktiven Gehalt des Erzählten, stellt das Ich entsprechend immer wieder aus:

Jag tänker att jag är ett träd med rötterna uppryckta. Jag läser ännu en gång texten han skrev den där hösten och jag noterar för första gången att mer än en tredjedel eller kanske till och med så mycket som hälften utgörs av hans minnen från det halvårs värnplikt som han genomgick i Uganda innan han sändes till Aten: långradiga beskrivningar av hur det går till att marschera, listor över befälens öknamn, beskrivningar av rutinen i militärbarackerna och den taktiska excercisen.
(Ich denke, dass ich ein Baum mit herausgezogenen Wurzeln bin. Ich lese noch einmal den Text, den er letzten Herbst geschrieben hat und stelle zum ersten Mal fest, dass mehr als ein Drittel oder sogar fast die Hälfte der Aufzeichnungen sein halbes Jahr Wehrpflicht ausmachen, die er in Uganda absolviert hat, bevor er nach Athen geschickt wurde: langatmige Beschreibungen darüber, wie marschiert wird, Listen über die Schimpfnamen der Befehlshabenden, Beschreibungen der Abläufe in den Militärbaracken und der taktischen Übungen; S.176).

Dies ist nicht der Stoff, aus dem ein spannender Roman gemacht wäre. Es muss noch etwas geschehen sein, damit am Ende das ‚gute Buch über einen Papa‘ entstand. Das Ich, als vermeintlicher Autor des restlichen Erzähltexts, greift also ein. Nicht der eintönige Kasernendrill ist es, der die Publikumssehnsucht nach einer neuen Erfahrungswelt außerhalb der eigenen Erfahrung stillt, sondern das Abenteuer. Diese Sehnsucht wird allerdings schnell zur Erwartungshaltung an den Roman: Endlich wird erzählt, wie und warum es zu den ‚Flüchtlingsdramen‘ im Mittelmeer kommt. Die Bilder aus der Abendschau erhalten ein Prequel in Buchform: Es gibt Einblick, welche Erfahrungen Menschen dazu treiben, die gefährliche Überfahrt zu versuchen. Erfahrungen, wie  bspw. brutale Verhöre durch Behörden. Deren realistische Schilderung ist eine Stärke des Romans, wie mehrere Rezensionen bereits festgestellt haben. Allerdings sind die Verhöre inspiriert von Anyurus Erfahrungen mit schwedischen Behörden und wurden nur zugespitzt, behauptet zumindest der Autor im bereits erwähnten Interview mit Rakel Chukri. Damit weist er, wie sein vermeintliches Ich im Roman, auf die Rolle der Fiktion bei Produktion und Rezeption hin – die eigentliche Stärke des Romans. Anyuru eröffnet damit auch die Frage nach der narrativen Funktion des Verhörs. Es bringt uns dem Protagonisten näher, es zwingt ihn regelrecht, seine Identität preiszugeben, eine Identität, die die Behörden bereits zu kennen meinen. Die meisten Informationen über P liefert der Verhörsleiter in direkter Rede, während die verhörte Figur keine Chance bekommt, durch entsprechende Erzählperspektive oder eigenen Redebericht ihre eigene Geschichte zu präsentieren.

Die Macht des Erzählens ist das Hauptthema des Romans. Nicht umsonst ist der Romantitel En storm kom från paradiset dem Fragment Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte entliehen. Benjamins Gedanken zu einer Geschichtsschreibung der Unterdrückten werden aufgerufen, und sein berühmter ‚Engel der Geschichte‘ erhält in Anyurus Vaterfigur eine neue Inkarnation. Der Engel wird vom Sturm aus dem Paradies davongetragen und ist machtlos, während sein Blick auf die sich unter ihm türmenden Trümmer der Geschichte gerichtet ist. P wird dem Engel gleich vom Wind der Ereignisse gefasst und von ihm davon getragen.

Mehrmals greift der Roman die Metapher von Benjamins Engel auf. Sie wirft auch Licht auf Anyurus Projekt, sich eine Stimme in der schwedischen Hochkultur zu verschaffen. Eine Stimme für viele, die im medialen Selbstbild der schwedischen Gesellschaft oft übertönt und bevormundet werden. Ein Selbstbild, um das die (kulturelle) Elite des Landes zur Zeit mit der rechtspopulistischen Partei Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) ringt. Johannes Anyuru arbeitet derweil an seiner literarischen Karriere durch ästhetische Leistung und das Sich-zu-Eigen-Machen der europäischen Literaturtradition; nicht durch Nachahmung des Literaturtrends der sog. ‚pappaböcker‘ (Papa-Bücher) in Schweden. Es bleibt zu hoffen, dass der Begeisterungssturm ihn nicht davonweht. Bislang zeigt er Bodenhaftung und wählt sich seinen Platz am liebsten selbst. So engagiert er sich in den sozial gebrandmarkten Vororten Schwedens. Am bekanntesten ist wohl das von ihm betreute skrivprojekt (Schreibprojekt) der Pantrarna (Die Panther), einer selbstorganisierten Interessensvertretung der Vorortsbewohner*innen, die das mediale Bild ihrer Heimatorte verändern wollen. Vielleicht verhilft dieses Engagement der schwedischen Kulturlandschaft zu einem festeren Stand – ohne Wurzeln – gegen die Sverigedemokraterna.

Johannes Anyuru: En storm kom från paradiset. Stockholm: Norstedts, 2012.
(Philipp Wagner, Wien, März 2014)

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Gaute Heivoll: Over det kinesiske hav

gaute_heivollDer 1978 geborenen norwegische Autor Gaute Heivoll hat seit seinem Debut im Jahre 2002 bereits ein Dutzend Bücher in verschiedenen Genres publiziert. International und einer breiteren Leserschaft bekannt ist er erst seit seinem Erfolg mit Før jeg brenner ned (2012; dt. Bevor ich verbrenne, 2012) vor gut drei Jahren. Der neue, 2013 veröffentlichte Roman Over det kinesiske hav (Über das chinesische Meer) weist eine vergleichbare Technik auf und wird wiederum von der Kritik sehr gelobt. Die norwegischen Rezensenten charakterisieren ihn mit Ausdrücken wie »fesselnd«, »ergreifend«, »stimmungsvoll« und »melancholisch«. Sie sprechen von einem »Leseerlebnis« und attestieren dem Autor, er sei ein »eminenter Erzähler«. Thematisch bewegt sich der Roman zwischen einer erinnernden Kindheitsschilderung und einer Milieustudie der norwegischen Nachkriegszeit, einem Stück Sozialgeschichte, das – so wiederum die Kritiker – mit »Nächstenliebe«, »menschlicher Wärme« und »Humor« erzählt wird.

Über all das hinaus stellt der Roman das Konzept der Familie, von Nähe und Zusammengehörigkeit, in den Mittelpunkt, und zwar indem er es mit einer Normalitätsdiskussion verknüpft. Die Geschichte handelt von einem christlich engagierten Ehepaar, das im Jahr 1945 in seinem Privathaus fünf geistig zurückgebliebene Kinder und später noch drei als geisteskrank klassifizierte Erwachsene aufnimmt und sich – gegen Bezahlung aus Mitteln der öffentlichen Hand – ihrer annimmt, sie versorgt und ihnen ein Heim gibt. Sie sind in der Betreuung und Pflege geisteskranker Menschen geschult, da sie zuvor etliche Jahre in einer Institution gearbeitet haben, überführen diese Tätigkeit aber nun in ihren privaten Bereich und vergrößern ihre Kleinfamilie mit zwei eigenen kleinen Kindern um die genannte Gruppe der fünf Geschwister und der drei sehr unterschiedlichen erwachsenen Männer. Der Roman beschreibt diese Menschen, ihre Behinderungen und Schwächen, aber auch ihre Fähigkeiten und Stärken, und ist sehr zurückhaltend mit Kategorisierungen wie ›geisteskrank‹, ›lernbehindert‹ o.ä. Zwar werden die fünf Kinder nie ein integraler Teil der Familie, sie bleiben für sich, aber sie sind trotzdem sehr nah und Teil des Alltags. Es entsteht der Eindruck, dass sie – so wie sie sind – akzeptiert werden.

Dieser Eindruck ergibt sich in erster Linie aus der Art der Narration und der Perspektive des Erzählers. Wie schon in Før jeg brenner ned entwirft Heivoll einen fiktiven, involvierten Ich-Erzähler. Zwar beruht der Roman im Kern auf authentischen Gegebenheiten, die entscheidende Beglaubigung erfährt das Berichtete aber dadurch, dass wir mit der Stimme des fiktiven Sohnes der Familie konfrontiert werden, der seine Kindheit mit den fremden Geschwistern erinnert. Seine Perspektive, die aus dem Jahr 1994 in die Kinderjahre nach dem 2. Weltkrieg zurückblickt, dient der Authentifizierung des Berichteten. Durch die erinnernde Sicht auf längst vergangene Ereignisse, die Distanz beinhaltet, einerseits und den involvierten Blick des beteiligten Kindes andererseits entsteht die Vorstellung von Akzeptanz. Die Toleranz der geschilderten Familie gegenüber den acht ›Patienten‹, wie sie im Roman genannt werden, deren Behinderungen, geistige Schwächen oder Idiosynkrasien als selbstverständlich hingenommen werden, prägt den Roman als Ganzen und vermittelt die Idee der Akzeptanz an den Leser. Eingeschlossen in die Hinnahme der Gegebenheiten sind allerdings die Anweisungen der Obrigkeit, die eine Zwangssterilisation geistig Behinderter anordnet (und durchführen lässt), die mangelnde Entwicklungsfähigkeit der Kinder sowie auch die schließlich notwendige Unterbringung in Pflegeheimen.

Diese Sozialschilderung wird nicht einfach als historische Milieustudie entfaltet, sondern um einen Plot herum erzählt, in dessen Zentrum ein tragisches Unglück steht, bei dem die kleine Schwester des Ich-Erzählers ums Leben kommt. Dieses Ereignis bringt sowohl die Melancholie des Erzählens hervor als auch den Spannungsbogen, denn der Tod des kleinen Mädchens bewirkt ein Ende der Unbeschwertheit und eine Krise der im Roman zentralen Figur der Mutter. Auch der Titel »Über das chinesische Meer« bezieht sich auf dieses tragische Ereignis, auf einen Traum des Ich-Erzählers von seiner kleinen Schwester Tone. Wie dieses Traumbild, das eine hoch über dem glitzernden Meer schwebende Apfelsinenkiste – die erste Schlafstätte der neugeborenen Schwester – zeigt, enthält der Roman viele visuelle Impressionen: die lachende Mutter beim Baden, ihre Verzweiflung nach dem Tod der Tochter, Matiassen auf seinem Stuhl unter der Esche im Hof, Josefs Mitternachtssonne oder der sterbende Christian Jensen. Das episodische, die Chronologie aufbrechende Erzählen ist insgesamt stark visuell ausgerichtet. Doch nicht das titelgebende Bild des chinesischen Meeres, sondern ein Gemälde Tones steht meiner Ansicht nach im Zentrum des Romans und fasst ihn als Ganzes gewissermaßen in ein Bild.

Ein Porträtmaler wird nach Tones Tod beauftragt, sie zu malen. Dazu werden ihm ein Gruppenfoto der Kinder und die Kleidung Tones übersandt, aus denen er das Porträt rekonstruieren soll. Das Bild wird gemalt, es wird aufgehängt, niemand kommentiert es, aber niemandem gefällt es. Erst in der Rückschau entdeckt der Erzähler den Fehler:

Det var noe som ikke stemte. Det sto ei jente der, og det var kanskje Tone, for hun hadde Tones klӕr, og hun holdt et fast tak i kattungen, men det var noe med munnen og øynene som ikke stemte. Noe med blikket. Mamma hadde set det. Jeg hadde sett det, kanskje pappa også, men ingen av oss hadde sagt det høyt, Pappa hadde slått spikeren inn i veggen og maleriet ble hengende uten at noen sa noe. Men alle så det.

Det var jo Ingrid.

Etwas stimmte nicht. Da stand ein Mädchen, und es war vielleicht Tone, denn sie hatte Tones Kleider an, und sie hielt das Kätzchen mit festem Griff, aber es war etwas mit dem Mund und den Augen, das nicht stimmte. Etwas mit dem Blick. Mama hatte es gesehen. Ich hatte es gesehen, vielleicht Papa auch, aber keiner von uns hatte etwas gesagt. Papa hatte den Nagel in die Wand geschlagen und das Gemälde blieb hängen ohne dass jemand irgendetwas sagte. Aber alle sahen es.

Es war Ingrid.

Dieses ›Bild vom Bild‹ fasst viele der Problemstellungen des Romans zusammen: Die Überblendungen zweier Mädchen – der verstorbenen leiblichen Tochter mit dem etwa gleichaltrigen Pflegekind – die zum Eindruck führt, dass »etwas nicht stimmte«, zeigt einerseits die große Nähe der Kinder untereinander, die Erweiterung der Kernfamilie, deren Rand sich nicht mehr abgrenzen lässt, andererseits aber die Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit von Individuen. Ob das ›schiefe Bild‹ auch etwas über den psychiatrischen Handlungsansatz aussagt, der im Roman vertreten wird, mag dem Leser überlassen bleiben. Der Roman enthält sich der Wertung, genau wie es seine Figuren angesichts des falschen Bildes tun: niemand sagt etwas.

Heivolls Roman ist geschickt aufgebaut, stilsicher erzählt und schildert ein bewegendes Stück Sozial- und Kulturgeschichte. Kaum etwas vermag deutlicher Auskunft Auskünfte über den Zustand einer Gesellschaft zu geben als ihre Behandlung von geistig behinderten Menschen. Seine humanitäre Botschaft wird durch die bildreiche, aber wertungsarme Erinnerungsperspektive überzeugend umgesetzt. Der Melancholie hervorbringende Plot des Textes ist allerdings weder dieser Botschaft noch dem Erinnerungsverlauf geschuldet, sondern verdankt sich wohl in erster Linie der Spannungsgenerierung. Auf diese Weise kann der Roman wohl Leser gewinnen, verliert aber an Konsequenz und Glaubwürdigkeit der für die Botschaft wichtigen Erzählperspektive.

Gaute Heivoll: Over det kinesiske hav. Roman. Oslo: Tiden Norsk Forlag, 2013.
(Annegret Heitmann, München, Januar 2014) 

In Norwegen veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Josefin Holmström: Antarktis

holmströmDie arktischen Regionen haben Konjunktur. Nachdem die Polarregionen aus ökonomischen und ökologischen Gründen um das Jahr 2000 wieder ein breites öffentliches Interesse erlangt haben, das nahezu dem der Entdeckerneugier der vorigen Jahrhundertwende entspricht, ist es nicht erstaunlich, dass auch literarische Texte über die Arktis wieder gelesen, neu aufgelegt oder geschrieben werden. Waren die Expeditionsberichte von Scott, Nansen oder Amundsen zu ihrer Entstehenszeit Bestseller, so haben auch einige moderne Romane bereits den Status von Arktis-Klassikern erreicht. In der deutschen Literatur gilt das vor allem für Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) und Christoph Ransmayers Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1987), im skandinavischen Zusammenhang muss man Kåre Holts Südpolroman Kappløpet (1974) sowie Per Olof Sundmans Ingenjör Andrées luftfärd (1969) über die missglückte Ballonfahrt erwähnen, die beide einen höchst kritischen Dialog mit dem angeblichen Heldentum der Entdecker führen. Da ein dokumentarisches Interesse ein allen diesen Romanen gemeinsamer Ausgangspunkt ist, könnte man vermuten, dass die Thematik sich mit diesen großartigen Texten eventuell schon erschöpft haben könnte.

Nun legt die schwedische Debütantin Josefin Holmström einen kurzen Roman mit dem Titel Antarktis vor, der das ideologiekritische ihrer skandinavischen Vorgängertexte nicht teilt. Die Autorin ist in Oxford ausgebildete Literaturwissenschaftlerin und dem schwedischen Publikum als Rezensentin und Feuilletonredakteurin vom Svenska Dagbladet bekannt. Die schwedische Literaturkritik fand einhelliges Lob für den Debütroman; ihre eigene Zeitung lud, um Interessenskonflikte zu vermeiden, die prominente Gastrezensentin Maria Schottenius ein, die den Roman als »raffinerad i ord och tanke« bezeichnete. Die hier angesprochene Raffinesse bezieht sich in erster Linie auf die Parallelführung zweier Handlungsstränge, von denen einer wiederum eine dokumentarische Ebene darstellt. Verwoben wird die berühmte Geschichte vom Scheitern der englischen Südpolexpedition Robert Falcon Scotts mit einer in der Gegenwart angesiedelten Handlung, die die Ich-Erzählerin als Teilnehmerin einer wissenschaftlichen Expedition ebenfalls an den Südpol führt. Sie nimmt nicht als Wissenschaftlerin, sondern als Schriftstellerin an dieser Reise teil, an der sie zum einen ihr reges Interesse an Scotts tragischer Biographie reizt, zum anderen die Begegnung mit dem Jugendfreund Jonathan, der der Gruppe als Geophysiker angehört und den sie seit Jahren nicht gesehen hat. Im ersten Teil des Buches wechseln kurze Passagen zwischen der historischen Perspektive auf Scott und der Gegenwartshandlung um die Erlebnisse und Gedanken der Ich-Erzählerin regelmäßig, ja geradezu schematisch ab. Im weiteren Verlauf treten dann die aktuelle Expedition, das Verhältnis zu Jonathan und die Psyche der Erzählerin Gertrude immer mehr in den Vordergrund.

Der Spannungsbogen wird dadurch generiert, dass dem Leser das Wissen vorenthalten wird, was die Erzählerin und Jonathan in Wahrheit verbindet. Um dieses Geheimnis im Zentrum des Textes auch hier nicht preiszugeben, sei nur erwähnt, dass es nicht nur um das Verhältnis der beiden zueinander, sondern um ein Dreiecksverhältnis und einen tragischen Todesfall geht, der seinerseits Gertrudes Interesse an Scott und an der Eislandschaft des Pols motiviert. Beabsichtigt ist wohl, dass auch aus der doppelten Handlungsführung ein Drittes hervorgeht, dass aus der Gegenüberstellung von Damals und Jetzt eine Verallgemeinerung erwächst, die aus einer psychologischen Individualstudie und einem tragischen Scheitern eine anthropologisch oder existentiell ausgerichtete Botschaft hervortreten lässt. Schließlich geht es in diesem kleinen Roman um die ganz großen Themen: um Leben und Tod, um Liebe und Schuld, um Heldentum und um Scheitern.

Um dieses Ziel glaubhaft zu erreichen, ist der Roman in seinem Handlungskern aber zu konstruiert, seine Plotelemente sind zu unwahrscheinlich, die psychologische Ebene ist nicht durchgehend glaubhaft. Der Text ist zwar sprachlich gelungen, angenehm zurückhaltend, doch mit Sinn für das beobachtete Detail formuliert, so dass sich Knappheit und Klarheit die Waage halten. Es stellt sich auch heraus, dass die Sehnsucht nach der Eislandschaft des Pols sowohl psychologisch motiviert ist als auch metaphorisch verstanden werden kann: Eis und Schweigen, Schuld und Tod werden miteinander überblendet. Aber dass der Plot, der die beiden Protagonisten erst in Lebensgefahr bringen muss, um sie (und den Leser) zu Gesprächen und Erkenntnissen zu führen, erscheint dann doch als schriftstellerisches Mittel aus der Trickkiste. Der Roman weist durchaus sprachliches Potential und etliche gute Darstellungsmittel auf, die aus dieser Debütantin möglicherweise bald eine erfolgreiche Schriftstellerin machen, aber Antarktis wird sicher kein Klassiker der modernen Polarliteratur.

Josefin Holmström: Antarktis. Stockholm: Norstedt 2013.
(Annegret Heitmann, München, Oktober 2013)

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen