Tomas Espedal: Imot naturen (notatbøkene)

Imot-naturenThomas Espedal ist, was die Rezeption und das knappe Piano seiner Sprache anlangt, leise unter den ‚Selbsterzählern’, viel leiser als der über Norwegen hinaus auch in Deutschland und den U.S.A. hinreichend bekannte Karl Ove Knausgård und seine monumentale Hexalogie (Espedal selbst spricht von „800 faste lesere“ („800 festen Lesern“), vgl. den Beitrag von Siri Økland mit dem Titel Tomas Espedal: – Ja, jeg er en åndssnobb (Tomas Espedal: Ja, ich bin ein Bildungssnobb) in Aftenposten kultur  vom 21.12.2012; vgl. zur Knausgård-Rezeption in den U.S.A. den Beitrag von Lisa Abend mit dem Titel Norway’s Proust. The unlikely stardom of Karl Ove Knausgaard im Time Magazine vom 02.07.2014). Dabei ist Espedals autonarrativ wiedergegebener ‚Lebenskampf’ nicht minder intensiv, nicht weniger schwer als Knausgårds, dazu durchdrungen von einer besonderen Sensibilität für das Tragische des Alltags. Espedals Ich-Erzählerstimme zeichnet vor allem eine Erlebnisfähigkeit für das Leidvolle aus. Seine Prosa erscheint als aufrichtige Introspektion und Selbstreflexion, ein intimes Abrechnen mit den eigenen Handlungen und Handlungsmotivationen, zugleich jedoch auch als ein eindringlicher, flehentlicher Ruf nach Erlösung von niederschmetternden Schicksalsschlägen und von der gnadenlosen Forderung des Lebens, wieder aufstehen, weitergehen, weitermachen zu müssen.

Der 48-jährige Ich-Erzähler Tomas, der – wie auch in anderen Werken Espedals – die Möglichkeit zum Wechsel in eine Außenposition hat, in der er von sich selbst in der dritten Person spricht, trifft auf einer Silvesterparty eine sehr junge Frau namens Janne, die nur etwa halb so alt ist wie er selbst. Die beiden ziehen sich in ein abseits gelegenes Bibliothekszimmer des Gastgebers zurück und erleben ein leidenschaftliches sexuelles Abenteuer. Während Janne wegen des Altersunterschieds anfänglich unsicher ist, empfindet der Ich-Erzähler sie sofort als einzig wahre und tiefste Liebe seines Lebens.

Trotz der fulminanten Introduktion (Kapitel „Biblioteket“ („Die Bibliothek“)) schwebt von Anfang an eine Tragik über der Beziehung. Diese Tragik wird allerdings erst nach einem langen retrospektiven Intermezzo (Kapitel „Arbeidet, fabrikken“ („Die Arbeit, die Fabrik“), „Kjærlighetsarbeidet“ („Die Liebesarbeit“) und „Arbeidsrom, laboratorierom“ („Arbeitszimmer, Laboratorium“) erzählerisch fortgeführt. Wiederholt vergleicht der Ich-Erzähler seine Beziehung mit derjenigen zwischen dem 38-jährigen Philosophen Pierre Abélard und dessen 16-jähriger Schülerin Heloïse. Deren Liebe endete nach Heloïses entdeckter Schwangerschaft in einer gewaltsamen Trennung, der Entmannung Abélards durch Heloïses gekränkten Onkel Fulbert und der ‚Verwahrung’ beider ehemals Liebender in Klöstern. Abélards in Historia Calamitatum vermittelte Stimmung bildet den psychisch-emotionalen Subtext, vor dem Wider die Natur zu lesen ist. Der Briefwechsel des mittelalterlichen Philosophen mit Heloïse wird ausschnittweise als Intertext in einer norwegischen Übersetzung von Harald Gullichsen zitiert. Auch Ovids Liebeskunst bildet in Thea Selliaas Thorsens norwegischer Übersetzung einen Referenztext, nimmt jedoch – verglichen mit Abélard und Heloïse – lediglich eine intertextuelle Statistenposition ein.

Das bereits erwähnte Intermezzo, das von der gesellschaftlich nicht sanktionierten Beziehung zwischen Ich-Erzähler und Janne sowie den Zitaten zu Abélard und Heloïse umrahmt wird, schlüsselt Tomas’ erste gescheiterte Liebe zu Eli und die ebenfalls gescheiterte Ehe mit der wenige Jahre nach der Scheidung an Krebs verstorbenen Agnete auf. Aus Tomas’ Verbindung mit der exzentrischen, zunächst in Rom lebenden, dann auf Tourneen in Norwegen und Nicaragua in Begleitung von Mann und Kind umherreisenden Schauspielerin Agnete ging die gemeinsame Tochter Amalie hervor, aus einer späteren Liaison Agnetes ihr zweites Kind Harriet. Der Ich-Erzähler versorgte nach Agnetes Tod durchgehend seine leibliche Tochter, eine Zeit lang auch sein ‚Stiefkind’.

Nachdem der Rahmen geschlossen und auch das glückliche Zusammenleben mit Janne dargestellt wurde (Kapitel „En liten bok om lykke“ („Ein kleines Buch vom Glück“)), läuft die Erzählung in einer Coda aus (Kapitel „Notatbøkene“ („Die Notizbücher“) – die Kapitelüberschrift stellt wieder eine Verbindung zum Anfang, zum Untertitel „notatbøkene“ her). Darin verändert sich die fließend-assoziative narrative Form zu einzelnen datierten Tagebucheinträgen und bruchstückhaften Notizen. Sie sind aufgezeichnet, nachdem Janne sowie auch die Tochter Amalie aus dem gemeinsam mit dem Ich-Erzähler bewohnten Reihenhaus ausgezogen sind. Aus unterschiedlichen Motivationen gingen die beiden jungen Frauen nach Oslo: Janne, um etwas zu erleben, um mit anderen und vor allem jüngeren Männern zusammen zu sein; die 19-jährige Amalie, um ihr eigenes Leben zu beginnen. Als Vater und Lebenspartner verlassen bleibt der Ich-Erzähler zurück, verliert sich in seinem Liebeskummer, in Alkohol- und Zigarettenkonsum. Er löst sich als psychisches Subjekt sichtbar in einer stellenweise symbolistisch-kryptischen Sprache auf, die in einigen Passagen delirierend wirkt. Die Sprachform ist teilweise sehr musikalisch, erinnert an gebetsähnliche Formeln mit Anspielungen auf eine mystisch-religiöse Erfahrung bzw. an einen sprachlich praktizierten Ritus des Hieros gamos. Durch die subversive Kraft der Sprache schient zugleich die Hoffung auf einen Wandel, eine Verkehrung des Gegebenen auf:

Ingen dager er helligdager.

Våkner i stuen, på gulvet, like i nærheten av Jannes sofa. Jeg tryglet henne om å la den bli igjen her; sofaen og lampene og mest mulig av tingene hennes, hun lot dem bli igjen.

Alt her er som det var før. Jeg våkner på gulvet, har drukket for mye vin. Tre liter, det betyr at jeg har en kartong tilbake; jeg finner hvitt brød på kjøkkenet, dypper det i glaset med vin, spiser.

Spiser, drikker.

Det er enkelt, det er rent.

Hvitt brød, den hvite kroppen.

Så enkelt, så rent.

Dypper brødet i vinen; hvordan brødet trekker opp i seg blodet hennes.

Det røde, bløte brødet. Den røde, fyldige munnen hennes; jeg spiser den.

Så rødt, så rent. Så rødt, så hvitt. Så hvitt, så rent. Så hvitt. Så hvitt, så hvitt. Så rent, så rødt.

Så rødt, så dødt, så født. Så født og bløtt. Så bløtt og søtt. Så søtsøtt. Så søtrødt. Så søtfødt i munnen.

Så dødbløtt i munnen. Inne i. Inne i munnen. I min. Så dødfødt i munnen. Inne i. I munnen. I munnen i.

I munnen i min. Inne i. Inne i munnen min. Nå er hun i munnen min.

Nå er hun min.

Så enkelt, så rent.

Drikker, spiser.

Alle dager er helligdager (Imot naturen, 148–149).

(Kein Tag ist Feiertag.

Wache im Wohnzimmer auf, auf dem Boden, dicht neben Jannes Sofa. Ich hatte sie angebettelt, es hierzulassen; das Sofa und die Lampen und so viele von ihren Sachen wie möglich, sie ließ sie hier.

Alles hier ist wie vorher. Ich wache auf dem Boden auf, habe zu viel Wein getrunken. Drei Liter, das bedeutet, ich habe noch einen Karton; in der Küche finde ich Weißbrot, tauche es ins Weinglas, esse.

Esse, trinke.

Das ist einfach, das ist rein.

Weißes Brot, den weißen Körper.

So einfach, so rein.

Tauche das Brot in den Wein; wie das Brot ihr Blut aufsaugt.

Das rote, weiche Brot. Ihr roter, voller Mund; ich esse ihn.

So rot, so rein. So rot, so weiß. So weiß, so rein. So weiß. So weiß, so weiß. So rein, so rot.

So rot, so tot, so Brot. So Brot und Not. So Not und rott. So rottrott. So rottrot. So Rottbrot im Mund.

So totnot im Mund. Innen im. Innen im Mund. In meinem. So totbrot im Mund, innen im. Im Mund. Im Mund innen.

Im Mund in meinem. Innen im. Innen in meinem Mund. Jetzt ist sie in meinem Mund.

Jetzt ist sie mein.

So einfach, so rein.

Trinken, essen.

Alle Tage sind Feiertage

(Wider die Natur, 157–159, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Die anfänglich gemachte Aussage wird somit ins Gegenteil verkehrt, wird ‚umgeschrieben’.

Außerdem ist die drohende Auflösung des Subjekts einerseits in den zunehmend von mehrtägigen Schreibpausen durchsetzten Tagebuchaufzeichnungen deutlich, andererseits durch die wiederholte Mitteilung über den Gewichtsverlust von mehreren Kilo, den der Ich-Erzähler aufgrund seines Liebeskummers erleidet.

Von Tomas Espedals Werken wurde außer Imot naturen (Wider die Natur) von Hinrich Schmidt-Henkel bisher nur Gå eller kunsten å leve et vilt og poetisk liv (Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen) von Paul Berf ins Deutsche übersetzt. Anlässlich der Übersetzung und bevorstehenden Publikation von Wider die Natur im März 2014 war der Autor auf der Leipziger Buchmesse zu Gast und las ebendort auf dem Nordischen Forum sowie in Kiel und Berlin (Pressemitteilung der Königlich Norwegischen Botschaft in Berlin vom 12. März 2014). Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung steht – davon wird sich der des Norwegischen und Deutschen mächtige Leser leicht selbst überzeugen können – Espedals sprachlich hochkonzentriertem Erzählstil und seinen spielerischen, lyrisch verdichteten Exkursen in nichts nach. Aus obigem Zitat wird die kongeniale Umdichtung des Gegensatzes von Tot-Sein und Geboren-Werden deutlich, das bei einer wörtlichen Wiedergabe im Deutschen den Sprachrhythmus und die Assonanzen zunichte gemacht hätte. Anzumerken wäre, dass Schmidt-Henkel eine größere Varianz an semantisch ähnlichen Ausdrücken wählt, wo das Norwegische dieselben Lexeme benutzt.

Wider die Natur ist als Fortspinnung des 2009 von Espedal publizierten, noch nicht ins Deutsche übersetzen Romans Imot kunsten (Wider die Kunst) und damit als Erforschung einer ‚Natur’ als einem scheinbaren Antipoden zu ‚Kunst’ zu verstehen. Setzt sich das Erzähler-Ich Tomas in Imot kunsten mit sich wiederholenden Mustern innerhalb seiner Herkunftsfamilien auseinander und erforscht selbstreflexiv und biographisch den Schreibprozess, das Schreiben als Arbeit, dessen Implementierung in den Alltag, seine Funktion im und sein Verhältnis zum Leben, so kreisen die Gedanken des Ich-Erzählers in Wider die Natur um die – perspektivisch und kontextuell variable – Natürlichkeit oder Widernatürlichkeit von Handlungen in Intim- und Liebesbeziehungen. Agnete etwa bringt den Ich-Erzähler dazu, den Sexualakt vor der Überwachungskamera einer Villenpforte im nächtlichen Rom auszuführen, eine Handlung, die den Ich-Erzähler zu folgender Reflexion veranlasst:

Det var ingenting naturlig i kjærlighetslivet vårt. Hun hadde alle disse ideene, alle disse påfunnene som skulle krysse en grense, som ikke skulle være normale; hun klarte ikke, kunne ikke være normal; jeg tror hun ønsket å være normal, jeg tror hun ønsket å være naturlig, i samsvar med menneskene og verden rundt seg, men hun klarte det ikke […] (Imot naturen, 64).

(Unser Liebesleben hatte nichts Natürliches an sich. Sie hatte all diese Ideen, diese Vorschläge, die eine Grenze überschreiten, über das Normale hinausführen sollten; es gelang ihr nicht, normal zu sein, sie konnte es nicht; ich glaube, sie wollte aber normal sein, ich glaube, sie wollte natürlich sein, im Einklang mit den Menschen und der Welt um sich herum, aber sie schaffte es nicht […] (Wider die Natur, 65, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Der Begriff ‚Natürlichkeit’, den der Text entwickelt, entspricht dem der Authentizität. Er ist in seiner Definitionen immer an Exempel aus dem Beziehungsleben gebunden. Dies zeigt sich in der Reaktion des Ich-Erzählers auf Agnetes aus rein ökonomischen Gründen forcierte Heirat, ihren zweimal – trotz medizinischer Risiken – durchgesetzten Wunsch nach Hausgeburten und schließlich in ihrem Wunsch, zu Hause im eigenen Bett sterben zu dürfen.

Jeg var ikke glad for å måtte gifte meg, men jeg var glad for at vi skulle komme oss bort fra småbruket i skogen, huset i dumpen, det harde, naturlige og falske livet på landet.

Var ikke livet vårt ekte? Bodde vi ikke i naturen, omgitt av skog og dyr? Hadde vi ikke født et barn i huset hvor vi bodde? Jo, men vi elsket hverandre ikke. Vi levde sammen, hadde et barn sammen, samarbeidet så vidt det var, men kjærligheten mellom oss var borte. Kanskje hadde den aldri vært der (Imot naturen, 77).

Det året da den minste datteren fylte tre år i mai, døde Agnete i september. Hun døde i huset. Hun ville dø hjemme. Hun hadde født begge døtrene hjemme, nå ville hun dø på den samme måten, i sin egen seng.

Det var naturlig (Imot naturen, 107).

(Ich war nicht erfreut über die Heiratspläne, aber ich sehnte mich danach, aus dem Kleinbauernhaus im Wald herauszukommen, aus dem Haus in der Senke, aus dem harten, natürlichen und falschen Leben auf dem Lande.

War unser Leben nicht echt? Lebten wir denn nicht in der Natur, umgeben von Wald und Tieren? Hatten wir nicht ein Kind in dem Haus, wo wir lebten, zur Welt gebracht? Schon, aber wir liebten einander nicht. Wir lebten zusammen, hatten ein Kind miteinander, kooperierten ganz gut, aber die Liebe zwischen uns war weg. Vielleicht hatte es sie nie gegeben (Wider die Natur, 79–80, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).

Die Jüngere [i.e. der beiden Töchter, J.E.] wurde in einem Mai drei, im September desselben Jahres starb Agnete. Sie starb zu Hause. Sie wollte zu Hause sterben. Sie hatte beide Kinder zuhause zur Welt gebracht, jetzt wollte sie auf dieselbe Weise sterben, in ihrem eigenen Bett (Wider die Natur, 113, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Genauso widernatürlich wie die rational definierte Natürlichkeit Agnetes erscheint die spontane, nicht-rationale Nachgiebigkeit des Ich-Erzählers gegenüber dem situativen, emotionalen, erotisch-sexuellen Impuls, der von Janne ausgeht. Allerdings ist es hier nicht ein intrinsischer Erkenntnisakt des Ich-Erzählers, sondern die Perspektive des sozialen Umfeldes, das Janne mit Tomas’ Tochter Amalie verwechselt, und so die Unnatürlichkeit der Beziehung eines älteren Mannes zu einer sehr jungen Frau aufdeckt.

Da vi skulle gå, strakte han [i.e. ein Bekannter namens Martin Larsson, J.E.] frem hånden: Det var trivelig å hilse på deg og din datter, sa han.

Det skjedde hele tiden. Vi gikk ut sammen, noen kom bort og ville hilse på min datter.

Det var skammelig.

Vi skammet oss.

Hvor kom skamfølelsen fra?

Var lykken skammelig; vår lykke var skammelig, den var ikke naturlig, den var imot naturen.

Vi sluttet å gå ut, vi isolerte oss inne. (Imot naturen, 120)

(Als wir uns voneinander verabschiedeten, reichte er [i.e. ein Bekannter namens Martin Larsson, J.E.] mir die Hand: Es war nett, dich und deine Tochter zu treffen.

Das passierte unablässig. Wir gingen zusammen aus, jemand kam und wollte meine Tochter kennenlernen.

Es war beschämend.

Wir schämten uns.

Woher kam das Schamgefühl?

War das Glück beschämend? Unser Glück war beschämend, es war nicht natürlich, es war wider die Natur.

Wir hörten auf auszugehen, wir verkrochen uns zuhause (Wider die Natur, 127–128, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Dies lässt den verunsicherten Ich-Erzähler schließlich in einer ausweglosen epistemologischen Leere zurück. Ihm bleibt nur, sich auf seine Introvertiertheit zurückzuziehen und sich das Unvermögen einzugestehen, jegliche Umwelt, sei es die Zivilisation oder seien es unbesiedelte Gebiete mit ihrer Flora und Fauna – d.h. die populäre und alltagssprachliche Bedeutung von ‚Natur’ –, erfolgreich relational bewältigen zu können.

Jeg har alltid vært mest lykkelig innendørs, sjelden ute, bortsett fra i enkelte lynaktige glimt som lyste opp noe ufattelig og nytt, noe jeg aldri hadde sett før, noe i naturen.

Jeg har aldri hatt et forhold til naturen (Imot naturen, 109).

(Ich war immer drinnen am glücklichsten, selten draußen, abgesehen von einzelnen, aufblitzenden Funken, die etwas Unfassbares und Neues aufleuchten ließen, etwas, das ich nie gesehen hatte, etwas in der Natur.

Zur Natur hatte ich nie ein Verhältnis (Wider die Natur, 115–116, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).

Der eingangs angestellte Vergleich mit Knausgård empfiehlt sich nicht nur wegen der ähnlichen Thematik – dem öffentlichen Aussetzen intimer Privatheit durch ihre Verwertung als literarisches Material –, sondern auch wegen der realen Freundschaft zwischen den beiden Autoren und schließlich wegen der Knausgård-Rezeption, die in Wider die Natur in den Plot integriert wird:

Vi [i.e. Janne und der Ich-Erzähler Tomas, J.E.] lå ved siden av hverandre i sengen og leste. Vi leste hver våre eksemplarer av Knausgård-bøkene, begynte samtidig og leste parallelt, plutselig la hun ned boken og så på meg; leste du det? spurte hun. Hvordan våger han, det er jo helt utrolig, han er ikke riktig klok, sa hun.

Så leste vi videre.

Helt til jeg la boken min ned og så på henne; leste du det? spurte jeg. Hvordan våger han, det er jo helt utrolig, han ødelegger seg selv, sa jeg. (Imot naturen, 115–116).

(Wir [i.e. Janne und der Ich-Erzähler Tomas, J.E.] lagen nebeneinander im Bett und lasen. Wir lasen jeder in seinem Exemplar der Bücher von Knausgaard, begannen gleichzeitig und lasen parallel, auf einmal legte sie das Buch hin und sah mich an; hast du das schon gelesen?, fragte sie. Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, ist er wahnsinnig, sagte sie.

Dann lasen wir weiter.

Bis ich mein Buch hinlegte und sie ansah; hast du das schon gelesen?, fragte ich. Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, er zerstört sich selbst (Wider die Natur, 123, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).

 Tomas Espedal steht trotz seines autofiktionalen Erstaunens in eben zitierter Passage nicht hinter seinem Freund Knausgård zurück. Ist der Stil auch ein anderer – weniger abschweifend und weniger um essayistische Themen als vielmehr um das Erzähler-Ich selbst, seine Position als schreibendes, liebendes Ich im eigenen Leben und in der Welt sowie um seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu kreisend –, so ist Espedal doch nicht weniger mutig als Knausgård. Auch er wagt Ehrlichkeit und Intimität, einen Einbezug der lesenden Öffentlichkeit in seine Erlebnisse und Erwägungen.

Espedals Wider die Natur fügt sich ebenso wie das 2013 erschienene Bergeners (Bergenser – der norwegische Titel ist in Anlehnung an Dubliners von James Joyce gebildet) und auch das vorausgehende Imot kunsten in eine Reihe ein, in der sich Espedal mit der Materialität und der lyrischen Gestaltung von Sprache im Roman beschäftigte. Im Gespräch mit Cathrine Strøm anlässlich seiner Einladung auf das Poesie-Festival Audiatur äußerte der Autor am 14.02.2014: „Imot kunsten inngår også i en større syklus. Det er viktig, for når jeg skriver vet jeg at boken ikke er ment å være uttømmelig. Imot naturen fortsetter der den slipper, og så kommer Bergeners. Det skal være mulig å lese bøkene i en større sammenheng“ („Wider die Kunst geht auch in einen größeren Zyklus ein. Das ist wichtig, denn wenn ich schreibe, weiß ich, dass das Buch nicht unerschöpflich sein kann. Wider die Natur setzt an der Stelle an, wo jenes aufhört, und dann kommt Bergeners. Es soll möglich sein, die Bücher in einem größeren Zusammenhang zu lesen“ (Tomas Espedal/Cathrine Strøm (2014): Jag skriver i dina ord. En samtale. Oslo, 7).

So stimmt Wider die Natur als stiller, gefühlvoller, zeitloser Verismo, als aufrichtig und konstant (weiter) sprechender Bordun in das Fortissimo der realistischen, autobiographischen, autonarrativen und autofiktionalen Tendenzen der skandinavischen Gegenwartsliteratur ein. Seine unterbrochene und dennoch schlichte Narration mit lyrisch-poetischen Einschüben macht den Roman zu einem sehr lesenswerten Stück Literatur.

Espedal brach übrigens am 6. April 2014 nach Avignon auf, um anschließend auf den Spuren Petrarcas (und Lauras) zu reisen und ein Jahr lang jeden Tag ein Gedicht – diesmal offensichtlich ausschließlich als solche definierte Lyrik – in Form eines „liten kjærlighetsbok“ („kleinen Liebesbuchs“) zu schreiben (Tomas Espedal/Cathrine Strøm (2014): Jag skriver i dina ord. En samtale. Oslo, 24–25). Es bleibt mit Spannung zu erwarten, wie sich Espedals laufendes lyrisches Sprachprojekt ausnehmen wird.

Tomas Espedal: Wider die Natur (Die Notizbücher). Berlin 2014.
Original: Imot naturen (notatbøkene). Oslo 2011.
(Juliane Egerer, Erlangen-Nürnberg 2014)

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Jonas Hassen Khemiri: Jag ringer mina bröder

khemiri_jagringerStockholm, 11. Dezember 2010. Nachdem erst ein Auto explodiert ist, sprengt sich der Täter selbst in die Luft. Das erste Selbstmordattentat in Skandinavien ist ein Racheakt für den schwedischen Militäreinsatz in Afghanistan und für die Mohammed-Zeichnungen des schwedischen Künstlers Lars Vilks, die den Propheten als Hund darstellen. Zum Glück explodieren nicht alle Sprengsätze, was in der vollen Innenstadt zu einer Katastrophe geführt hätte. Trotzdem macht der versuchte Anschlag schmerzhaft deutlich, dass auch Schweden durch islamistischen Terror verwundbar ist.

Vor dieser emotionsgeladenen Kulisse irrt Amor umher. Eigentlich will er nur einen Bohrkopf umtauschen, doch der Weg durch die verunsicherte Stadt wird zur Suche nach seinem Platz in einer Gesellschaft, die ihm vertraut und plötzlich doch so fremd ist. Mit Verwandten und Freunden, seinen „Brüdern“, spricht Amor zumindest in Gedanken über Alltägliches, das Attentat und die große Frage: Wie verhält man sich, wenn man aufgrund seines Palästinenserschals von allen Seiten als potentieller Täter betrachtet wird? Schließlich ist sogar Amor überzeugt: Er muss es wohl selbst gewesen sein, oder?

Auf nur etwas mehr als hundert Seiten hat Jonas Hassen Khemiri eine intime, aber große Erzählung geschrieben. Jag ringer mina bröder ist ein Dialog zwischen Amor und seinen Mitmenschen und ein Dialog mit sich selbst. Das kleine Werk ist ein Grenzgänger zwischen fiktionaler Realität und Einbildung, zwischen Zugehörigkeit und Außenseitertum, Individualität und Anpassung und nicht zuletzt zwischen literarischen Genres.

Jag ringer mina bröder überzeugt gerade durch seine sprachliche Klarheit. Im Gegensatz zu Khemiris Debütroman Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker, 2003) ist die Ernsthaftigkeit des Themas nicht mehr hinter einer ironischen Leichtigkeit versteckt. Khemiri findet eine Balance zwischen Humor und Ernst, einfachen Worten und intensiver Bildsprache. Die Erzählung wirkt durch die Mischung aus Alltag und Ausnahmezustand und die Komplexität der Charaktere erschreckend realistisch.

Khemiri umgeht die Gefahr, seine Schilderung der Betroffenen einseitig und unreflektiert werden zu lassen. Amor weiß, dass er aufgrund seines Aussehens zu Unrecht verurteilt wird. Trotzdem ist seine Reaktion ebenso von stereotypen Denkmustern beeinflusst: Dass schwedische Polizisten dem Fahrer eines ausländischen Autos ohne Gewaltanwendung und Machtdemonstration den Weg zeigen, ist für ihn unvorstellbar. Das Misstrauen seiner Umgebung macht auch Amor paranoid. Statt dem Schwarz-Weiß-Bild des machthabenden Schwedens das des unterdrückten, hilflosen Schwedens gegenüberzustellen, wendet sich der Roman gegen Stereotypisierungen. Es gibt keine eindeutigen Grenzen, weder im Inhalt noch in der Form.

Jonas Hassen Khemiri ist Schriftsteller und Dramatiker. In Jag ringer mina bröder verschmelzen durch die überwiegende Dialogform beide Genres miteinander. Seine dramatische Struktur macht den Roman nicht nur zu einem intensiven, sondern auch höchst dynamischen Text. Zwischen plötzlichen Perspektivwechseln und Momentaufnahmen, die die weitere Handlung bestimmen, wirken etwas längere Beschreibungen der Vergangenheit fast schon störend.

Als wenn er sich in seinem eigenen Drama befindet, tritt Amor in verschiedenen Rollen auf. Mal passt er sich an, mal rebelliert er, mal erlebt sein physisches Ich und mal fantasiert sein Traum-Ich. Wir sind direkt in seinem Kopf und sehen die Welt mit seinen Augen – beziehungsweise werden in seinem Körper gesehen. Genau wie für Amor verschwimmen auch für uns die Grenzen zwischen Realität und Einbildung. Das, was bleibt, ist Verwirrung und Unsicherheit.

In Schweden ist Jonas Hassen Khemiri längst nicht mehr nur als Schriftsteller, sondern auch als Gesellschaftskritiker bekannt. Der Roman Jag ringer mina bröder basiert auf einem gleichnamigen Beitrag, den Khemiri nach dem Selbstmordattentat in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter geschrieben hat und in dem er über genau dieselben Themen wie Angst, richtiges und falsches Verhalten, Identität und Schuld reflektiert.

Im vergangenen Jahr erregte sein an die schwedische Justizministerin gerichteter Brief „Bästa Beatrice Ask“ in Dagens Nyheter enorme öffentliche Aufmerksamkeit. In diesem Brief, der auch in der Taschenbuchversion von Jag ringer mina bröder abgedruckt ist, kritisiert Khemiri das Projekt Reva („rättssäkert och effektivt verkställighetsarbete“, rechtssichere und effektive Vollzugsarbeit), welches unter anderem durch erweiterte Personenkontrollen die Ausweisung von Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung verbessern soll. Auch wenn Personen nicht nur aufgrund ihres Aussehens kontrolliert werden dürfen, wird dieses von vielen als einziger Grund empfunden. Anlass des Briefes ist die Aussage Asks im schwedischen Radio, dass sie trotzdem nicht über Kategorisierungen nach rassistischen Merkmalen beunruhigt sei, da dass das Empfinden von Rassismus auf persönlichen Vorerfahrungen beruhe: „Es gibt früher Verurteilte, die denken, dass sie immer in Frage gesetzt werden, obwohl man es niemandem ansieht, dass er eine Straftat begangen hat. Das handelt viel von dem eigenen Erlebnis.“ Khemiris Brief ist allerdings ein Zeugnis von ständigen Vorurteilen und Verurteilungen durch seine Mitmenschen und durch den eigenen Staat aufgrund einer anderen Hautfarbe.

Jag ringer mina bröder ist im Oktober 2012 in Schweden erschienen und feiert als Theaterstück immer wieder neue Premieren. Dass Jag ringer mina bröder schnell für das Theater adaptiert wurde, ist aufgrund seiner dramatischen Form nicht überraschend. Schon im Januar 2013 wurde es im Stadttheater Malmö uraufgeführt und ist seitdem in mehreren schwedischen Städten zu sehen gewesen.

Im schwedischen Kontext entstanden, haben die Problematik und die grundlegenden Ideen des Werkes auch internationale Relevanz. Jag ringer mina bröder ist der schwedische Beitrag zu „Europe Now“, einem Projekt von fünf europäischen Theatern, das sich mit zeitgenössischen Dramen der neuen europäischen Wirklichkeit widmet, die durch neue Grenzziehungen, Bevölkerungsstrukturen und Identitäten geprägt ist. Zurzeit wird das Stück außerdem im New Ohio Theatre in New York gespielt.

Jag ringer mina bröder berührt auch ein internationales Publikum, weil jeder ein Amor sein kann, der unter kollektiven Stigmatisierungen leidet. Genauso kann jeder Teil dieses Kollektivs und somit für die individuelle Krise eines anderen mitverantwortlich sein. Jag ringer mina bröder ist nicht bequem zu lesen, aber es ist ein wichtiges Buch. Es rüttelt auf, indem es die Konsequenzen vorschneller Verurteilungen sichtbar macht, mit denen das Gegenüber zu kämpfen hat. In seiner scharfsinnigen Wiedergabe der sozialen Missstände reiht es sich in die große Tradition der schwedischen politisch und gesellschaftlich engagierten Literatur ein.

Jonas Hassen Khemiri: Jag ringer mina bröder, Stockholm: Albert Bonniers Verlag, 2012.
(Hannah Tischmann, Malmö, März 2014)

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Beate Grimsrud: God Jul. Hvor er du?

Grimsrud_GodJulÜber Gaben, die man gerne nicht bekommen hätte, und solche, ohne die man nicht leben kann.
Beate Grimsruds God Jul. Hvor er du?

Ole Karlsen zum sechzigsten Geburtstag

„[J]ulepresangene jeg ikke ville ha som barn […] sparte [jeg] til sommeren i en rosemalt kiste og siden gravde ned i en grop i hagen. De uønskede presangene tok opp hele plassen i kroppen min og overskygget det fine. Å få noe uønsket var så smertefullt, siden det var så mye jeg ønsket meg. En gang fikk jeg et broderi som var festet til en ramme, der det var forventet at jeg skulle brodere bokstaven B med ørsmå sting. […] Gropen i hagen ble en grav. Jeg ville ikke at sånt jeg ikke ville ha skulle finnes når det var så mye jeg ville ha som ikke fantes. Så mye jeg savnet. En sørgegrop. En grop for den usynlige Beate. Den jeg nektet å bli. Man kan bli sett og tydelig gjennom en presang, men man kan også bli usynlig og sint.“
(S. 9-10 – „Die Weihnachtsgeschenke, die ich als Kind nicht haben wollte, hob ich bis zum Sommer in einer rosenbemalten Kiste auf und vergrub sie dann in einer Mulde im Garten. Die ungewünschten Geschenke nahmen den ganzen Platz in meinem Körper ein und überschatteten das Schöne. Etwas Ungewünschtes zu bekommen, war so schmerzhaft, denn es gab so vieles, was ich mir wünschte. Einmal bekam ich eine Stickerei, die auf einem Rahmen befestigt war, und es wurde erwartet, dass ich den Buchstaben B mit winzigkleinen Stichen sticken sollte. […] Die Mulde im Garten wurde ein Grab. Ich wollte nicht, dass das existierte, was ich nicht haben wollte, wo es doch so viel gab, was ich haben wollte, was aber nicht existierte. So viel, was ich entbehrte. Eine Trauermulde. Eine Mulde für die unsichtbare Beate. Für die, die ich mich weigerte zu sein. Man kann durch ein Geschenk gesehen und deutlich werden, aber man kann auch unsichtbar und wütend werden.“)
* * *
In vielen Buchhandlungen gibt es ein Regal, auf dem man ausschließlich sogenannte „Geschenkbücher“ findet. Diese Bücher heißen „Von ganzem Herzen“ oder „Jetzt ist der Augenblick“ oder „Lebenslust“. Die Weihnachtsvarianten haben Titel wie „Weihnachten wie es einmal war“ oder „Winterzauber, Weihnachtsglanz“ oder „Wenn die Nächte länger werden“. Sie wurden nicht zum Lesen geschrieben, sondern aus rein dekorativen Gründen. Geschenkbücher gehören für viele zu der Kategorie Geschenke, die sie gerne nicht bekommen hätten.
Auf den ersten Blick gibt sich Beate Grimsruds Büchlein God Jul. Hvor er du? (2012 – Frohe Weihnachten. Wo bist Du?) den Anschein, ein solches Geschenk zu sein: Es kam kurz vor Weihnachten in die Buchhandlungen, es ist dünn, es hat viele Bilder, der Umschlag zeigt auf der Vorderseite eine lichtergeschmückte Palme in einer Wüstenlandschaft, auf der Rückseite ein lichtergeschmückte Tanne in einer Schneelandschaft, die Titelseite ist mit einem Weihnachtswichtel mit roter Zipfelmütze dekoriert. Auch der Titel entspricht ganz den Genrekonventionen. Im Zusammenspiel mit den vielen Schnee- und Kindheitsfotos bekommt er einen melancholischen Klang: Früher (d.h. unter der Tanne, als ich noch Kind war,) war Weihnachten froh; doch wo ist es hin, die frohe Weihnacht? Zu Weihnachten gehört die Klage über den Verlust des echten Weihnachten.
Doch dann liest man die erste Passage über die ungewünschten Geschenke, die so gar nicht in ein Geschenkbuch passen wollen. Die Autorin will uns nicht mit nostalgischen Erinnerungen an verklärte Familienfeste rühren, sondern zeigen, dass unsere Identität von anderen geformt ist: Geschenke werden zu Identitätsangeboten, die schlimmstenfalls begraben werden müssen, bevor sie Macht über uns bekommen.
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God Jul soll als autobiographische Skizze gelesen werden. Das Büchlein enthält Reflexionen und narrative Abschnitte, die vom Verhältnis der Autorin zu ihrer großen Schwester Torunn handeln, von Nächten, die sie unter freiem Himmel verbracht hat, von Weihnachtsabenden, die sie auf verschiedenen Kontinenten feierte, von Gemeinsamkeiten zwischen Jordaniens Sandwüsten und Norwegens Schneewüsten und von vielem anderen. Die Passagen geben die Gedanken der Autorin in der Weihnachtsnacht 2010 wieder, die sie zusammen mit der großen Schwester in der Wadi Rum Wüste in Jordanien verbringt. In der Regel – so erfährt der/die Lesende – sei sie gesprächig und munter, doch die Schweser muss sich auf der gemeinsamen Reise immer wieder über ihre Verschlossenheit beschweren. Offensichtlich befindet sich die Erzählerin in einer Krise. Schlaflos grübelt sie über die Globalisierung, den weltumspannenden Tourismus, das Schreiben und immer wieder über das Beschenktwerden nach.
Überraschenderweise nennt sie an keiner Stelle ihren Megaerfolg, den Roman En dåre fri (Ein Tor in Freiheit). Das ist seltsam, denn der Roman kam 2010 heraus, also im selben Jahr, von dem das autobiographische God Jul erzählt. Der Roman handelt von Eli, die von klein auf an Schizophrenie leidet; sie muss ihr Leben in ständigem Kampf gegen die zerstörerischen Stimmen in ihrem Kopf, gegen Espen, Erik, Emil und Eugen, behaupten. En dåre fri ist damit die Geschichte eines leidenden, aber auch eines siegreichen Menschen, der allen Widerständen zum Trotz seine erzählerische Begabung zur Entfaltung bringt und dem es gelingt, eine erfolgreiche Autorin zu werden. Da Elis Publikationen allesamt die Titel von Grimsruds Büchern tragen, besteht keinen Zweifel, dass man auch Elis Geschichte autobiographisch lesen soll. Wo freilich die Grenze zwischen Fiktion und der sogenannten “Realität“ geht, lässt Grimsrud offen. Nicht nur beim Publikum, auch bei den Kritikern kam diese Autofiktion sehr gut an. 2010 erhielt sie den Kritikerpris, 2011 Sveriges Radios Romanpris und den Doblougpris; darüber hinaus wurde der Roman 2010 für den Bragepris nominiert und 2011 für Nordisk Råds Litteraturpris und zwar sowohl von schwedischer wie von norwegischer Seite.
Es ist deshalb wenig plausibel, dass gerade die Ereignisse um den Roman herum in einer autobiographischen Skizze ausgespart werden, die eine grübelnde Autorin am Ende desselben Jahres zeigt, in dem sie ihren Erfolg feiert. Hier liegt entweder der Fall einer klassischen Verdrängung vor oder aber der einer ausgelegten Spur: Gerade weil der Roman verschwiegen wird, ist man gewillt, eine besonders enge Beziehung zwischen En dåre fri und Gud Jul anzunehmen.
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God Jul muss man schon deshalb als Supplement zu En Dåre fri lesen, weil im Weihnachtsbuch etliche der Themen und Motive kryptische Andeutungen blieben, wenn man sie nicht durch den Resonanzboden des Romans verstärken könnte. So scheinen etwa die Unsicherheit der geschlechtlichen Identität oder das Bettnässen oder der problematische doch gleichzeitig verehrte Vater des Romans schemenhaft auch in God Jul wieder auf. Als Supplement betrachtet ist God Jul jedoch nicht einfach repetitiv oder ergänzend, vielmehr bewirkt es eine Perspektivverschiebung und entwickelt so einen eigenen Wertungsrahmen. So kehrt etwa auch die Episode mit den vergrabenen Geschenken wider. In seiner ersten Version in En dåre fri liest sie sich so:
„Og så, endelig. Jeg får åpne gavene i pysjamas. Jeg får en plate med hvitt stoff av noen slektninger hvor jeg skal brodere en E med en blomst rundt. Jeg kan ikke brodere og vil ikke lære meg det. […] De fine gavene kan ikke overskygge det uhjelpelige sinnet jeg føler over dem som er feil. Det føles så meningsløst å få noe jeg ikke vil ha, når jeg vil ha så mye. Jeg får et skrin som pappa har snekret og rosemalt. Det liker jeg. I det skal jeg gjemme det jeg ikke liker, og grave det ned i hagen til sommeren. Jeg har et spesielt sted for sånt som jeg ikke vil skal fins.“ (En dåre fri, Taschenbuchausgabe 2012, S. 52. – „Und dann, endlich. Im Schlafanzug darf ich die Geschenke auspacken. Von irgendwelchen Verwandten bekomme ich eine Platte mit weißem Stoff, auf das ich ein E umrankt von Blumen sticken soll. Ich kann nicht sticken und will es auch nicht lernen. […] Die schönen Geschenke können die hilflose Wut über die falschen nicht überschatten. Es fühlt sich so sinnlos an, etwas zu bekommen, was ich nicht haben will, wenn ich so vieles haben möchte. Ich bekomme ein Kästchen, das Papa gezimmert und mit Rosen bemalt hat. Das mag ich. In diesem Kästchen werde ich das verstecken, was ich nicht mag, und im Sommer werde ich es im Garten vergraben. Ich habe eine spezielle Stelle für all das, von dem ich nicht will, dass es existert.“)
Die beiden Passagen erzählen dieselbe Episode, doch ihre Pointen gehen innerhalb ihres Kontextes in ganz unterschiedliche Richtungen. In der älteren Version muss man die Episode mit den Geschenken vor dem Hintergrund der Schizophrenie lesen: En dåre fri handelt davon, dass das Ich nicht allein ist, sondern von einer Vielzahl von Personen besessen. Ein Überleben ist nur möglich, wenn Espen, Erik, Emil und Eugen in Schach gehalten werden; ein Ich zu sein bedeutet in ständiger Abwehr anderer Stimmen zu leben. Man kann die Handlung deshalb als einen Versuch interpretieren, Identität immer wieder durch Reduktion zu erreichen. Die ungewünschten Weihnachtsgeschenke gleichen damit den Stimmen, die im Innern von Eli leben. Die Stimmen, die ihr immer widersprechen, sind abgekapselte und ins Innere abgelegte Forderungen – so wie die Geschenke Forderungen von außen sind, die im Garten vergraben werden.
Auf dieser Basis lässt sich rekonstruieren, warum der an sich interessante Roman eine deutliche Schwäche hat. Unfreiwillig (?) legt er das verschlissene Klischee vom genialen Künstler neu auf: Von klein auf weiß Eli, dass sie Autorin werden will. Doch aufgrund einer verschleppten Sehschwäche kann sie nicht lesen und nur sehr schlecht schreiben. Entsprechend kann sie in ihren schriftstellerischen Versuchen auch nicht von anderen beeinflusst werden; alles, was sie schreibt, erschafft sie ganz und gar aus sich selbst; besucht sie die Forfatterskole, dann wird nur geschildert, dass sie eine Außenseiterin ist. En dåre fri wärmt somit die verbrauchte Geschichte vom Ausnahmemenschen auf, der zum Dichter geboren ist und entgegen aller Widerstände seine Dichtergabe ausleben muss. Wie gesagt: Auf der Basis der Schizophrenie ist eine solche Selbstdarstellung nachvollziehbar; Leben heißt Stimmen abwehren, Schreiben wird offensichtlich ebenso gefasst.
God Jul nun setzt genau hier ein: Das Büchlein beginnt wie oben zitiert damit, die Geste der Abwehr noch einmal zu wiederholen: Geschenke haben nur dann einen Wert, wenn sie zur Identität der Person passen, sie unterstreichen und herausheben. Sie haben sozusagen tautologischen Charakter „Man kan bli sett og tydelig gjennom en presang, men man kan også bli usynlig og sint“ (S. 10 – „Man kann sichtbar und deutlich durch ein Geschenk werden, aber man kann auch unsichtbar und wütend werden“).
Doch dann wird die Semantik der Gabe in God Jul Stück für Stück umcodiert. Die Erzählerin entdeckt, dass Sie selbst für die große Schwester ein Geschenk war und sie ergänzt bange die Frage, die auf der Folie des einleitenden Zitats naheliegt: „Men var det den jeg ble, som hun lengtet etter?“ (S. 14 – „Aber war es die, die ich wurde, nach der sie sich sehnte?“) Ist sie vielleicht selbst ein Geschenk der Kategorie, die man gerne nach einer Weile im Garten vergraben hätte? Später lässt sie die Schwester jedoch folgende Gedanken denken: „Jeg [Torunn] skal vise deg [Beate] verden og du skal få si hva du ser. Du kan vise deg for meg. Hvordan det føles. Hvorfor du gråter. Hvorfor du tisser på deg. Hvorfor du skjærer tenner. Hvorfor du ler og hva du drømmer om. Hvorfor du lager grimaser med munnen. Hva som skremmer deg. Jeg har vært så ensom i vår store familie før du kom.“ (S. 22 – „Ich [Torunn] werde dir [Beate] die Welt zeigen und du wirst mir sagen dürfen, was du siehst. Du kannst dich mir zeigen. Wie es sich anfühlt. Warum du weinst. Warum du in die Hose machst. Warum du mit den Zähnen knirschst. Warum du lachst und wovon du träumst. Warum du Grimassen mit dem Mund machst. Was dir Angst macht. Ich war so einsam in unserer großen Familie, bevor du kamst.“) Mit dem Aspekt der Einsamkeit verliert das Geschenk seinen tautologischen Charakter. Es soll gerade nicht der Identität des Beschenkten entsprechen, sondern Gemeinschaft stiften. Und so lauten die letzten Zeilen von God Jul etwas pathetisch, aber ganz im Sinne des neuen Gabenkonzeptes: „Jeg tenker at selv Gud ønsket seg en storesøster. En å være liten sammen med. En å vokse inn i og ut av. Inn i og ut. En å bli gammel sammen med“ (S. 76 – „Ich denke mir, dass sich selbst Gott eine große Schwester gewünscht hat. Eine, mit der er zusammen klein sein kann. Eine, in die man hinein- und aus der man herauswachsen kann. Hinein und raus. Eine, mit der man zusammen alt werden kann“).
Dieser Satz klingt wie eine Gegenthese zu den ersten Worten in En dåre fri, das so beginnt: „Det er jeg som er Eli. Det betyr min Gud på hebraisk“ (En dåre fri, S. 7 – „Eli, das bin ich. Es bedeutet mein Gott auf Hebräisch“). Diese zwei Sätze kann man zu einem zusammenziehen: Det er jeg som er min Gud (Mein Gott, das bin ich). Und der Verweis auf den hebräischen Ursprung des Namens macht klar, dass es sich hier um einen Gott handelt, der keine anderen Götter neben sich duldet.
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God Jul ist sicher kein literarischer Höhepunkt in Grimsruds Karriere; doch es enthält mehr Wahrheit als das vielgelobte En dåre fri. Oder sollte man womöglich die beiden Texte als Schwesternpaar auffassen, die je für sich ihr eigenes Autorschaftsmodell entwickeln? Möglicherweise werden die vergrabenen Weihnachtsgeschenke ja in einem späteren Roman noch mal ausgegraben. Und vielleicht bekommen wir dann eine Antwort auf diese Frage.

Beate Grimsrud: God Jul. Hvor er du? Oslo: Cappelen Damm, 2012.
(Joachim Schiedermair, Greifswald 2013)

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