Jonas Hassen Khemiri: Jag ringer mina bröder

khemiri_jagringerStockholm, 11. Dezember 2010. Nachdem erst ein Auto explodiert ist, sprengt sich der Täter selbst in die Luft. Das erste Selbstmordattentat in Skandinavien ist ein Racheakt für den schwedischen Militäreinsatz in Afghanistan und für die Mohammed-Zeichnungen des schwedischen Künstlers Lars Vilks, die den Propheten als Hund darstellen. Zum Glück explodieren nicht alle Sprengsätze, was in der vollen Innenstadt zu einer Katastrophe geführt hätte. Trotzdem macht der versuchte Anschlag schmerzhaft deutlich, dass auch Schweden durch islamistischen Terror verwundbar ist.

Vor dieser emotionsgeladenen Kulisse irrt Amor umher. Eigentlich will er nur einen Bohrkopf umtauschen, doch der Weg durch die verunsicherte Stadt wird zur Suche nach seinem Platz in einer Gesellschaft, die ihm vertraut und plötzlich doch so fremd ist. Mit Verwandten und Freunden, seinen „Brüdern“, spricht Amor zumindest in Gedanken über Alltägliches, das Attentat und die große Frage: Wie verhält man sich, wenn man aufgrund seines Palästinenserschals von allen Seiten als potentieller Täter betrachtet wird? Schließlich ist sogar Amor überzeugt: Er muss es wohl selbst gewesen sein, oder?

Auf nur etwas mehr als hundert Seiten hat Jonas Hassen Khemiri eine intime, aber große Erzählung geschrieben. Jag ringer mina bröder ist ein Dialog zwischen Amor und seinen Mitmenschen und ein Dialog mit sich selbst. Das kleine Werk ist ein Grenzgänger zwischen fiktionaler Realität und Einbildung, zwischen Zugehörigkeit und Außenseitertum, Individualität und Anpassung und nicht zuletzt zwischen literarischen Genres.

Jag ringer mina bröder überzeugt gerade durch seine sprachliche Klarheit. Im Gegensatz zu Khemiris Debütroman Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker, 2003) ist die Ernsthaftigkeit des Themas nicht mehr hinter einer ironischen Leichtigkeit versteckt. Khemiri findet eine Balance zwischen Humor und Ernst, einfachen Worten und intensiver Bildsprache. Die Erzählung wirkt durch die Mischung aus Alltag und Ausnahmezustand und die Komplexität der Charaktere erschreckend realistisch.

Khemiri umgeht die Gefahr, seine Schilderung der Betroffenen einseitig und unreflektiert werden zu lassen. Amor weiß, dass er aufgrund seines Aussehens zu Unrecht verurteilt wird. Trotzdem ist seine Reaktion ebenso von stereotypen Denkmustern beeinflusst: Dass schwedische Polizisten dem Fahrer eines ausländischen Autos ohne Gewaltanwendung und Machtdemonstration den Weg zeigen, ist für ihn unvorstellbar. Das Misstrauen seiner Umgebung macht auch Amor paranoid. Statt dem Schwarz-Weiß-Bild des machthabenden Schwedens das des unterdrückten, hilflosen Schwedens gegenüberzustellen, wendet sich der Roman gegen Stereotypisierungen. Es gibt keine eindeutigen Grenzen, weder im Inhalt noch in der Form.

Jonas Hassen Khemiri ist Schriftsteller und Dramatiker. In Jag ringer mina bröder verschmelzen durch die überwiegende Dialogform beide Genres miteinander. Seine dramatische Struktur macht den Roman nicht nur zu einem intensiven, sondern auch höchst dynamischen Text. Zwischen plötzlichen Perspektivwechseln und Momentaufnahmen, die die weitere Handlung bestimmen, wirken etwas längere Beschreibungen der Vergangenheit fast schon störend.

Als wenn er sich in seinem eigenen Drama befindet, tritt Amor in verschiedenen Rollen auf. Mal passt er sich an, mal rebelliert er, mal erlebt sein physisches Ich und mal fantasiert sein Traum-Ich. Wir sind direkt in seinem Kopf und sehen die Welt mit seinen Augen – beziehungsweise werden in seinem Körper gesehen. Genau wie für Amor verschwimmen auch für uns die Grenzen zwischen Realität und Einbildung. Das, was bleibt, ist Verwirrung und Unsicherheit.

In Schweden ist Jonas Hassen Khemiri längst nicht mehr nur als Schriftsteller, sondern auch als Gesellschaftskritiker bekannt. Der Roman Jag ringer mina bröder basiert auf einem gleichnamigen Beitrag, den Khemiri nach dem Selbstmordattentat in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter geschrieben hat und in dem er über genau dieselben Themen wie Angst, richtiges und falsches Verhalten, Identität und Schuld reflektiert.

Im vergangenen Jahr erregte sein an die schwedische Justizministerin gerichteter Brief „Bästa Beatrice Ask“ in Dagens Nyheter enorme öffentliche Aufmerksamkeit. In diesem Brief, der auch in der Taschenbuchversion von Jag ringer mina bröder abgedruckt ist, kritisiert Khemiri das Projekt Reva („rättssäkert och effektivt verkställighetsarbete“, rechtssichere und effektive Vollzugsarbeit), welches unter anderem durch erweiterte Personenkontrollen die Ausweisung von Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung verbessern soll. Auch wenn Personen nicht nur aufgrund ihres Aussehens kontrolliert werden dürfen, wird dieses von vielen als einziger Grund empfunden. Anlass des Briefes ist die Aussage Asks im schwedischen Radio, dass sie trotzdem nicht über Kategorisierungen nach rassistischen Merkmalen beunruhigt sei, da dass das Empfinden von Rassismus auf persönlichen Vorerfahrungen beruhe: „Es gibt früher Verurteilte, die denken, dass sie immer in Frage gesetzt werden, obwohl man es niemandem ansieht, dass er eine Straftat begangen hat. Das handelt viel von dem eigenen Erlebnis.“ Khemiris Brief ist allerdings ein Zeugnis von ständigen Vorurteilen und Verurteilungen durch seine Mitmenschen und durch den eigenen Staat aufgrund einer anderen Hautfarbe.

Jag ringer mina bröder ist im Oktober 2012 in Schweden erschienen und feiert als Theaterstück immer wieder neue Premieren. Dass Jag ringer mina bröder schnell für das Theater adaptiert wurde, ist aufgrund seiner dramatischen Form nicht überraschend. Schon im Januar 2013 wurde es im Stadttheater Malmö uraufgeführt und ist seitdem in mehreren schwedischen Städten zu sehen gewesen.

Im schwedischen Kontext entstanden, haben die Problematik und die grundlegenden Ideen des Werkes auch internationale Relevanz. Jag ringer mina bröder ist der schwedische Beitrag zu „Europe Now“, einem Projekt von fünf europäischen Theatern, das sich mit zeitgenössischen Dramen der neuen europäischen Wirklichkeit widmet, die durch neue Grenzziehungen, Bevölkerungsstrukturen und Identitäten geprägt ist. Zurzeit wird das Stück außerdem im New Ohio Theatre in New York gespielt.

Jag ringer mina bröder berührt auch ein internationales Publikum, weil jeder ein Amor sein kann, der unter kollektiven Stigmatisierungen leidet. Genauso kann jeder Teil dieses Kollektivs und somit für die individuelle Krise eines anderen mitverantwortlich sein. Jag ringer mina bröder ist nicht bequem zu lesen, aber es ist ein wichtiges Buch. Es rüttelt auf, indem es die Konsequenzen vorschneller Verurteilungen sichtbar macht, mit denen das Gegenüber zu kämpfen hat. In seiner scharfsinnigen Wiedergabe der sozialen Missstände reiht es sich in die große Tradition der schwedischen politisch und gesellschaftlich engagierten Literatur ein.

Jonas Hassen Khemiri: Jag ringer mina bröder, Stockholm: Albert Bonniers Verlag, 2012.
(Hannah Tischmann, Malmö, März 2014)

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Beate Grimsrud: God Jul. Hvor er du?

Grimsrud_GodJulÜber Gaben, die man gerne nicht bekommen hätte, und solche, ohne die man nicht leben kann.
Beate Grimsruds God Jul. Hvor er du?

Ole Karlsen zum sechzigsten Geburtstag

„[J]ulepresangene jeg ikke ville ha som barn […] sparte [jeg] til sommeren i en rosemalt kiste og siden gravde ned i en grop i hagen. De uønskede presangene tok opp hele plassen i kroppen min og overskygget det fine. Å få noe uønsket var så smertefullt, siden det var så mye jeg ønsket meg. En gang fikk jeg et broderi som var festet til en ramme, der det var forventet at jeg skulle brodere bokstaven B med ørsmå sting. […] Gropen i hagen ble en grav. Jeg ville ikke at sånt jeg ikke ville ha skulle finnes når det var så mye jeg ville ha som ikke fantes. Så mye jeg savnet. En sørgegrop. En grop for den usynlige Beate. Den jeg nektet å bli. Man kan bli sett og tydelig gjennom en presang, men man kan også bli usynlig og sint.“
(S. 9-10 – „Die Weihnachtsgeschenke, die ich als Kind nicht haben wollte, hob ich bis zum Sommer in einer rosenbemalten Kiste auf und vergrub sie dann in einer Mulde im Garten. Die ungewünschten Geschenke nahmen den ganzen Platz in meinem Körper ein und überschatteten das Schöne. Etwas Ungewünschtes zu bekommen, war so schmerzhaft, denn es gab so vieles, was ich mir wünschte. Einmal bekam ich eine Stickerei, die auf einem Rahmen befestigt war, und es wurde erwartet, dass ich den Buchstaben B mit winzigkleinen Stichen sticken sollte. […] Die Mulde im Garten wurde ein Grab. Ich wollte nicht, dass das existierte, was ich nicht haben wollte, wo es doch so viel gab, was ich haben wollte, was aber nicht existierte. So viel, was ich entbehrte. Eine Trauermulde. Eine Mulde für die unsichtbare Beate. Für die, die ich mich weigerte zu sein. Man kann durch ein Geschenk gesehen und deutlich werden, aber man kann auch unsichtbar und wütend werden.“)
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In vielen Buchhandlungen gibt es ein Regal, auf dem man ausschließlich sogenannte „Geschenkbücher“ findet. Diese Bücher heißen „Von ganzem Herzen“ oder „Jetzt ist der Augenblick“ oder „Lebenslust“. Die Weihnachtsvarianten haben Titel wie „Weihnachten wie es einmal war“ oder „Winterzauber, Weihnachtsglanz“ oder „Wenn die Nächte länger werden“. Sie wurden nicht zum Lesen geschrieben, sondern aus rein dekorativen Gründen. Geschenkbücher gehören für viele zu der Kategorie Geschenke, die sie gerne nicht bekommen hätten.
Auf den ersten Blick gibt sich Beate Grimsruds Büchlein God Jul. Hvor er du? (2012 – Frohe Weihnachten. Wo bist Du?) den Anschein, ein solches Geschenk zu sein: Es kam kurz vor Weihnachten in die Buchhandlungen, es ist dünn, es hat viele Bilder, der Umschlag zeigt auf der Vorderseite eine lichtergeschmückte Palme in einer Wüstenlandschaft, auf der Rückseite ein lichtergeschmückte Tanne in einer Schneelandschaft, die Titelseite ist mit einem Weihnachtswichtel mit roter Zipfelmütze dekoriert. Auch der Titel entspricht ganz den Genrekonventionen. Im Zusammenspiel mit den vielen Schnee- und Kindheitsfotos bekommt er einen melancholischen Klang: Früher (d.h. unter der Tanne, als ich noch Kind war,) war Weihnachten froh; doch wo ist es hin, die frohe Weihnacht? Zu Weihnachten gehört die Klage über den Verlust des echten Weihnachten.
Doch dann liest man die erste Passage über die ungewünschten Geschenke, die so gar nicht in ein Geschenkbuch passen wollen. Die Autorin will uns nicht mit nostalgischen Erinnerungen an verklärte Familienfeste rühren, sondern zeigen, dass unsere Identität von anderen geformt ist: Geschenke werden zu Identitätsangeboten, die schlimmstenfalls begraben werden müssen, bevor sie Macht über uns bekommen.
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God Jul soll als autobiographische Skizze gelesen werden. Das Büchlein enthält Reflexionen und narrative Abschnitte, die vom Verhältnis der Autorin zu ihrer großen Schwester Torunn handeln, von Nächten, die sie unter freiem Himmel verbracht hat, von Weihnachtsabenden, die sie auf verschiedenen Kontinenten feierte, von Gemeinsamkeiten zwischen Jordaniens Sandwüsten und Norwegens Schneewüsten und von vielem anderen. Die Passagen geben die Gedanken der Autorin in der Weihnachtsnacht 2010 wieder, die sie zusammen mit der großen Schwester in der Wadi Rum Wüste in Jordanien verbringt. In der Regel – so erfährt der/die Lesende – sei sie gesprächig und munter, doch die Schweser muss sich auf der gemeinsamen Reise immer wieder über ihre Verschlossenheit beschweren. Offensichtlich befindet sich die Erzählerin in einer Krise. Schlaflos grübelt sie über die Globalisierung, den weltumspannenden Tourismus, das Schreiben und immer wieder über das Beschenktwerden nach.
Überraschenderweise nennt sie an keiner Stelle ihren Megaerfolg, den Roman En dåre fri (Ein Tor in Freiheit). Das ist seltsam, denn der Roman kam 2010 heraus, also im selben Jahr, von dem das autobiographische God Jul erzählt. Der Roman handelt von Eli, die von klein auf an Schizophrenie leidet; sie muss ihr Leben in ständigem Kampf gegen die zerstörerischen Stimmen in ihrem Kopf, gegen Espen, Erik, Emil und Eugen, behaupten. En dåre fri ist damit die Geschichte eines leidenden, aber auch eines siegreichen Menschen, der allen Widerständen zum Trotz seine erzählerische Begabung zur Entfaltung bringt und dem es gelingt, eine erfolgreiche Autorin zu werden. Da Elis Publikationen allesamt die Titel von Grimsruds Büchern tragen, besteht keinen Zweifel, dass man auch Elis Geschichte autobiographisch lesen soll. Wo freilich die Grenze zwischen Fiktion und der sogenannten “Realität“ geht, lässt Grimsrud offen. Nicht nur beim Publikum, auch bei den Kritikern kam diese Autofiktion sehr gut an. 2010 erhielt sie den Kritikerpris, 2011 Sveriges Radios Romanpris und den Doblougpris; darüber hinaus wurde der Roman 2010 für den Bragepris nominiert und 2011 für Nordisk Råds Litteraturpris und zwar sowohl von schwedischer wie von norwegischer Seite.
Es ist deshalb wenig plausibel, dass gerade die Ereignisse um den Roman herum in einer autobiographischen Skizze ausgespart werden, die eine grübelnde Autorin am Ende desselben Jahres zeigt, in dem sie ihren Erfolg feiert. Hier liegt entweder der Fall einer klassischen Verdrängung vor oder aber der einer ausgelegten Spur: Gerade weil der Roman verschwiegen wird, ist man gewillt, eine besonders enge Beziehung zwischen En dåre fri und Gud Jul anzunehmen.
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God Jul muss man schon deshalb als Supplement zu En Dåre fri lesen, weil im Weihnachtsbuch etliche der Themen und Motive kryptische Andeutungen blieben, wenn man sie nicht durch den Resonanzboden des Romans verstärken könnte. So scheinen etwa die Unsicherheit der geschlechtlichen Identität oder das Bettnässen oder der problematische doch gleichzeitig verehrte Vater des Romans schemenhaft auch in God Jul wieder auf. Als Supplement betrachtet ist God Jul jedoch nicht einfach repetitiv oder ergänzend, vielmehr bewirkt es eine Perspektivverschiebung und entwickelt so einen eigenen Wertungsrahmen. So kehrt etwa auch die Episode mit den vergrabenen Geschenken wider. In seiner ersten Version in En dåre fri liest sie sich so:
„Og så, endelig. Jeg får åpne gavene i pysjamas. Jeg får en plate med hvitt stoff av noen slektninger hvor jeg skal brodere en E med en blomst rundt. Jeg kan ikke brodere og vil ikke lære meg det. […] De fine gavene kan ikke overskygge det uhjelpelige sinnet jeg føler over dem som er feil. Det føles så meningsløst å få noe jeg ikke vil ha, når jeg vil ha så mye. Jeg får et skrin som pappa har snekret og rosemalt. Det liker jeg. I det skal jeg gjemme det jeg ikke liker, og grave det ned i hagen til sommeren. Jeg har et spesielt sted for sånt som jeg ikke vil skal fins.“ (En dåre fri, Taschenbuchausgabe 2012, S. 52. – „Und dann, endlich. Im Schlafanzug darf ich die Geschenke auspacken. Von irgendwelchen Verwandten bekomme ich eine Platte mit weißem Stoff, auf das ich ein E umrankt von Blumen sticken soll. Ich kann nicht sticken und will es auch nicht lernen. […] Die schönen Geschenke können die hilflose Wut über die falschen nicht überschatten. Es fühlt sich so sinnlos an, etwas zu bekommen, was ich nicht haben will, wenn ich so vieles haben möchte. Ich bekomme ein Kästchen, das Papa gezimmert und mit Rosen bemalt hat. Das mag ich. In diesem Kästchen werde ich das verstecken, was ich nicht mag, und im Sommer werde ich es im Garten vergraben. Ich habe eine spezielle Stelle für all das, von dem ich nicht will, dass es existert.“)
Die beiden Passagen erzählen dieselbe Episode, doch ihre Pointen gehen innerhalb ihres Kontextes in ganz unterschiedliche Richtungen. In der älteren Version muss man die Episode mit den Geschenken vor dem Hintergrund der Schizophrenie lesen: En dåre fri handelt davon, dass das Ich nicht allein ist, sondern von einer Vielzahl von Personen besessen. Ein Überleben ist nur möglich, wenn Espen, Erik, Emil und Eugen in Schach gehalten werden; ein Ich zu sein bedeutet in ständiger Abwehr anderer Stimmen zu leben. Man kann die Handlung deshalb als einen Versuch interpretieren, Identität immer wieder durch Reduktion zu erreichen. Die ungewünschten Weihnachtsgeschenke gleichen damit den Stimmen, die im Innern von Eli leben. Die Stimmen, die ihr immer widersprechen, sind abgekapselte und ins Innere abgelegte Forderungen – so wie die Geschenke Forderungen von außen sind, die im Garten vergraben werden.
Auf dieser Basis lässt sich rekonstruieren, warum der an sich interessante Roman eine deutliche Schwäche hat. Unfreiwillig (?) legt er das verschlissene Klischee vom genialen Künstler neu auf: Von klein auf weiß Eli, dass sie Autorin werden will. Doch aufgrund einer verschleppten Sehschwäche kann sie nicht lesen und nur sehr schlecht schreiben. Entsprechend kann sie in ihren schriftstellerischen Versuchen auch nicht von anderen beeinflusst werden; alles, was sie schreibt, erschafft sie ganz und gar aus sich selbst; besucht sie die Forfatterskole, dann wird nur geschildert, dass sie eine Außenseiterin ist. En dåre fri wärmt somit die verbrauchte Geschichte vom Ausnahmemenschen auf, der zum Dichter geboren ist und entgegen aller Widerstände seine Dichtergabe ausleben muss. Wie gesagt: Auf der Basis der Schizophrenie ist eine solche Selbstdarstellung nachvollziehbar; Leben heißt Stimmen abwehren, Schreiben wird offensichtlich ebenso gefasst.
God Jul nun setzt genau hier ein: Das Büchlein beginnt wie oben zitiert damit, die Geste der Abwehr noch einmal zu wiederholen: Geschenke haben nur dann einen Wert, wenn sie zur Identität der Person passen, sie unterstreichen und herausheben. Sie haben sozusagen tautologischen Charakter „Man kan bli sett og tydelig gjennom en presang, men man kan også bli usynlig og sint“ (S. 10 – „Man kann sichtbar und deutlich durch ein Geschenk werden, aber man kann auch unsichtbar und wütend werden“).
Doch dann wird die Semantik der Gabe in God Jul Stück für Stück umcodiert. Die Erzählerin entdeckt, dass Sie selbst für die große Schwester ein Geschenk war und sie ergänzt bange die Frage, die auf der Folie des einleitenden Zitats naheliegt: „Men var det den jeg ble, som hun lengtet etter?“ (S. 14 – „Aber war es die, die ich wurde, nach der sie sich sehnte?“) Ist sie vielleicht selbst ein Geschenk der Kategorie, die man gerne nach einer Weile im Garten vergraben hätte? Später lässt sie die Schwester jedoch folgende Gedanken denken: „Jeg [Torunn] skal vise deg [Beate] verden og du skal få si hva du ser. Du kan vise deg for meg. Hvordan det føles. Hvorfor du gråter. Hvorfor du tisser på deg. Hvorfor du skjærer tenner. Hvorfor du ler og hva du drømmer om. Hvorfor du lager grimaser med munnen. Hva som skremmer deg. Jeg har vært så ensom i vår store familie før du kom.“ (S. 22 – „Ich [Torunn] werde dir [Beate] die Welt zeigen und du wirst mir sagen dürfen, was du siehst. Du kannst dich mir zeigen. Wie es sich anfühlt. Warum du weinst. Warum du in die Hose machst. Warum du mit den Zähnen knirschst. Warum du lachst und wovon du träumst. Warum du Grimassen mit dem Mund machst. Was dir Angst macht. Ich war so einsam in unserer großen Familie, bevor du kamst.“) Mit dem Aspekt der Einsamkeit verliert das Geschenk seinen tautologischen Charakter. Es soll gerade nicht der Identität des Beschenkten entsprechen, sondern Gemeinschaft stiften. Und so lauten die letzten Zeilen von God Jul etwas pathetisch, aber ganz im Sinne des neuen Gabenkonzeptes: „Jeg tenker at selv Gud ønsket seg en storesøster. En å være liten sammen med. En å vokse inn i og ut av. Inn i og ut. En å bli gammel sammen med“ (S. 76 – „Ich denke mir, dass sich selbst Gott eine große Schwester gewünscht hat. Eine, mit der er zusammen klein sein kann. Eine, in die man hinein- und aus der man herauswachsen kann. Hinein und raus. Eine, mit der man zusammen alt werden kann“).
Dieser Satz klingt wie eine Gegenthese zu den ersten Worten in En dåre fri, das so beginnt: „Det er jeg som er Eli. Det betyr min Gud på hebraisk“ (En dåre fri, S. 7 – „Eli, das bin ich. Es bedeutet mein Gott auf Hebräisch“). Diese zwei Sätze kann man zu einem zusammenziehen: Det er jeg som er min Gud (Mein Gott, das bin ich). Und der Verweis auf den hebräischen Ursprung des Namens macht klar, dass es sich hier um einen Gott handelt, der keine anderen Götter neben sich duldet.
* * *
God Jul ist sicher kein literarischer Höhepunkt in Grimsruds Karriere; doch es enthält mehr Wahrheit als das vielgelobte En dåre fri. Oder sollte man womöglich die beiden Texte als Schwesternpaar auffassen, die je für sich ihr eigenes Autorschaftsmodell entwickeln? Möglicherweise werden die vergrabenen Weihnachtsgeschenke ja in einem späteren Roman noch mal ausgegraben. Und vielleicht bekommen wir dann eine Antwort auf diese Frage.

Beate Grimsrud: God Jul. Hvor er du? Oslo: Cappelen Damm, 2012.
(Joachim Schiedermair, Greifswald 2013)

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Johannes Anyuru: En storm kom från paradiset

anyuru_enstormWurzeln im Begeisterungsturm. Johannes Anyuru: En storm kom från paradiset (2012)

Johannes Anyuru ist Schwedens literarischer Überflieger des Jahres 2012. Mit dem Roman En storm kommer från paradiset (Ein Sturm weht vom Paradiese her) hat er selbst einen Sturm der Begeisterung in der schwedischen Kulturlandschaft hervorgerufen.

Die in Schweden endende Irrfahrt eines ugandischen Kampfpiloten steht im Vordergrund des Romans. Es ist jedoch kein Flugzeugunglück, das den Piloten ‚P‘ in den Norden Europas befördert, sondern vielmehr ein sozialer Absturz: Dem jungen P stehen im postkolonialen Uganda zunächst alle Türen offen, da sich das Land nach der Unabhängigkeit neu organisieren muss und Karrierewege leicht zugänglich sind. Im Militär, so glaubt P, ließe sich sein Traum vom Fliegen am Besten verwirklichen, und nach der erfolgreichen Musterung kann die Karriereleiter bei der ugandischen Luftwaffe erklommen werden. Zu Ausbildungszwecken wird P an eine Militärakademie in Griechenland abkommandiert. Dass P in Europa einen Großteil seines Lebens verbringen wird, ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht Teil seines Zukunftsplans. Doch Idi Amins Putsch in Uganda macht ihm aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit die Rückkehr unmöglich. Seinen Traum, Pilot zu werden, kann P mit dem fortan geltenden Flüchtlingsstatus nicht mehr ausleben. Die Rückkehr auf den afrikanischen Kontinent ist in dieser Hinsicht für ihn vielversprechender. Ein vermeintliches Jobangebot lockt ihn nach Sambia, wo ihn allerdings Verhörräume und Flüchtlingslager erwarten. P gelingt die Flucht nach Kenia und lebt dort zunächst am Existenzminimum. Erst durch die Heirat mit einer Schwedin gelangt P zurück nach Europa.

Die Nationalität der Frau ist das entscheidende Detail für die erfolgte Rezeption des Romans in Schweden. P stehe nämlich nicht für ‚pilot‘; es stehe für ‚pappa‘, so zumindest sieht es das schwedische Feuilleton. Eine Meinung, die an den biographischen Hintergrund Anyurus anknüpft, der eben Sohn eines ugandischen Kampfpiloten und einer Schwedin ist. Damit kann der Roman von der Kritik eingereiht werden in die Serie von (auto)biographischen Romanen, die in den letzten Jahren auf dem schwedischen Buchmarkt erschienen sind und allesamt von ‚Vätern‘ handeln. Neu ist, dass nun auch Autoren (die männliche Form wird hier bewusst verwendet) mit Migrationshintergrund über ihre Väter schreiben. Svenska Dagbladets Rezensent Mustafa Can sieht in der literarischen Annäherung an die ‚fremden‘ Väter die Suche nach einem eigenen Platz in der schwedischen Gesellschaft (siehe Can, Mustafa: „I brottet mellan fäder och nytt fädernesland“, dt. Im Bruch zwischen Vätern und neuem Vaterland, SvD vom 29.12.2012 ). Gleichzeitig eifern diese Söhne angeblich den  Autor*innen ohne Migrationshintergrund nach, die bereits vor ein paar Jahren mit ihren Vätern literarisch abgerechnet haben. So das gängigere Narrativ auf Schwedens Kulturseiten (siehe z.B. die Rezension „En bra bok om en pappa“, dt. Ein gutes Buch über einen Papa, von Mikaela Blomqvist und Mersies May in Göteborgsposten vom 28.09.2012). Ist Anyuru also auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft? Und kann er ihn durch Nachahmung finden?

Im Kanon der Hochkultur wurde ihm bereits ein Platz reserviert. Sein Roman war 2013 schwedischer Wettbewerbsbeitrag für den Literaturpreis des Nordischen Rates. Am Ende der Nominierungsbegründung von Eva Ström hieß es: „En storm kom från paradiset är ett mästerverk som tvingar oss att ompröva inte bara synen på vårt hemland, utan också på varje människa vi möter, som har rötter utanför den egna erfarenheten“ (En storm kom från paradiset ist ein Meisterwerk, das uns nicht nur zwingt, unseren Blick auf unser Heimatland zu ändern, sondern auch auf jeden Menschen, den wir treffen, der Wurzeln außerhalb unserer eigenen Erfahrung hat). Die kollektive Erfahrung macht hier das Heimatland aus. Die Besonderheit von Anyurus Literatur scheint der vermeintliche Zugang zu einer fremden Erfahrungswelt zu sein. Damit wird er jedoch auch dem Kollektiv fremd gemacht, das sonst angeblich die eigenen Erfahrungen homogen teilt. Die Nominierung hat wie jede Medaille ihre zwei Seiten.

Stimmen, wie die von Ström, weisen Anyuru also eine Randlage zu. Von dort aus nimmt er allerdings immer wieder in den Medien Stellung. Anyuru höjer rösten i debatt om utanförskap (Anyuru erhebt die Stimme in der Debatte um Ausgrenzung) heißt es dann auf der Website des schwedischen Fernsehsenders SVT. Anyurus Stimme ist vom Rand aus deutlich hörbar, denn er ist prominenter Kritiker des Rassismus in Schweden. Ausgrenzende Sätze wie in Ströms Kommentar gehören dadurch zum Alltagsgeschäft. Welchen Zweck aber hat das Gerede von den Wurzeln? Bei genauerer Betrachtung können die Rezensionen nur über die Metapher von den Wurzeln stolpern. Anyuru ist in Schweden aufgewachsen und am ehesten noch in den Vororten schwedischer Großstädte verwurzelt – damit zwar höchstwahrscheinlich außerhalb der Erfahrungswelt der meisten Kulturskribent*innen, aber nicht außerhalb Schwedens. Es wäre sicherlich falsch zu leugnen, dass Anyurus Roman nicht in Verbindung mit den Erfahrungen seines Vaters stünde. Ich möchte jedoch vorschlagen, den Blick kurz von Anyurus Vater abzuwenden, um den Roman im Ganzen zu lesen.

Nach einer „Kernfamilie“ lässt sich im Roman im doppelten Sinne vergeblich suchen. Zum einen taucht eine Mutter nur auf wenigen Seiten auf und zum anderen zerstört sie dabei alle Fotografien des Vaters, die seine einst vielversprechende Vergangenheit dokumentieren. Dieser Vorgang geschieht zwar lange vor der Geburt des Kindes, aber die Szene erklärt die Unmöglichkeit eines intakten Familienbildes. Der politisch unsichere Status in Kenya veranlasst die Mutter, alle Fotografien zu vernichten. In Sicherheit ist der Vater dadurch nicht – sogar im vermeintlich rettenden Schweden verfolgt ihn die Vergangenheit und die Familie wird schließlich daran zerbrechen. Das Vaterbild wird angeschlagen, und es gibt nicht einmal mehr Fotos, die einen besseren Zustand belegen könnten. Die einzigen Abbildungen des Buches zeigen, noch bevor die Handlung beginnt, in Sequenz den Hochsprung eines Leichtathleten. Wie der in der Luft festgehaltene Sprung ausgeht, bleibt unklar. Dies wird zum Sinnbild für die anschließende Erzählung. Die nach ihrer Vernichtung verlorenen Bilder werden an Kapitelanfängen durch Bildbeschreibungen der Erzählstimme ersetzt. Ein Porträt des Vaters kann in diesem Roman nur erzählt, aber nicht dokumentiert werden. Greifbare Fakten gibt es kaum, sondern nur die Fiktion des Romans. P ist nicht zwangsläufig ‚pappa‘ oder Anyurus realer Vater Paul. Es ist ein anonymer Platzhalter. Diese nicht-biographische Lesart bietet der Autor selbst im Interview mit Rakel Chukri für die Zeitung Sydsvenskan an („I en skeppsbruten himmelsguds spår“, dt. In der Spur eines schiffsbrüchigen Himmelsgottes, 25.11.2012).

P ist demnach ein ästhetischer Kunstgriff, der allzu autobiographische Lesarten zu Fall bringt. Ps Geschichte ist zudem nicht der einzige Erzählstrang des Romans. Mehrmals liefert der Wechsel der Erzählstimme zu einem erzählenden ‚Ich‘ den noch fehlenden Sohn im Familienbild. Das ‚Ich‘ markiert immer wieder, dass es sich auf einer Ps Geschichte vorgelagerten Ebene befindet und reflektiert die Möglichkeit über den eigenen Vater zu erzählen, der aufgrund biographischer Details als P identifizierbar ist. Das erzählende Ich beschäftigt sich davon abgesehen mit seinem eigenem Umzug und kann nicht leicht verortet werden. Es verlässt die Vororte Göteborgs und begibt sich in eine bessere Wohngegend. Während des Erzählens befindet es sich somit immer im Dazwischen. Erzählt wird an Durchgangsstationen, wie z.B. einem Hotel, eine ‚Klassresa‘, wie es im Schwedischen heißt – also eine Geschichte von sozialem Auf- bzw. Abstieg. Diese findet allerdings innerhalb der schwedischen Landesgrenzen statt, und die Erzählung von fernen Ländern ist nur Kulisse. Die erzählerische Ausgestaltung des Romans über den Vater, und damit den fiktiven Gehalt des Erzählten, stellt das Ich entsprechend immer wieder aus:

Jag tänker att jag är ett träd med rötterna uppryckta. Jag läser ännu en gång texten han skrev den där hösten och jag noterar för första gången att mer än en tredjedel eller kanske till och med så mycket som hälften utgörs av hans minnen från det halvårs värnplikt som han genomgick i Uganda innan han sändes till Aten: långradiga beskrivningar av hur det går till att marschera, listor över befälens öknamn, beskrivningar av rutinen i militärbarackerna och den taktiska excercisen.
(Ich denke, dass ich ein Baum mit herausgezogenen Wurzeln bin. Ich lese noch einmal den Text, den er letzten Herbst geschrieben hat und stelle zum ersten Mal fest, dass mehr als ein Drittel oder sogar fast die Hälfte der Aufzeichnungen sein halbes Jahr Wehrpflicht ausmachen, die er in Uganda absolviert hat, bevor er nach Athen geschickt wurde: langatmige Beschreibungen darüber, wie marschiert wird, Listen über die Schimpfnamen der Befehlshabenden, Beschreibungen der Abläufe in den Militärbaracken und der taktischen Übungen; S.176).

Dies ist nicht der Stoff, aus dem ein spannender Roman gemacht wäre. Es muss noch etwas geschehen sein, damit am Ende das ‚gute Buch über einen Papa‘ entstand. Das Ich, als vermeintlicher Autor des restlichen Erzähltexts, greift also ein. Nicht der eintönige Kasernendrill ist es, der die Publikumssehnsucht nach einer neuen Erfahrungswelt außerhalb der eigenen Erfahrung stillt, sondern das Abenteuer. Diese Sehnsucht wird allerdings schnell zur Erwartungshaltung an den Roman: Endlich wird erzählt, wie und warum es zu den ‚Flüchtlingsdramen‘ im Mittelmeer kommt. Die Bilder aus der Abendschau erhalten ein Prequel in Buchform: Es gibt Einblick, welche Erfahrungen Menschen dazu treiben, die gefährliche Überfahrt zu versuchen. Erfahrungen, wie  bspw. brutale Verhöre durch Behörden. Deren realistische Schilderung ist eine Stärke des Romans, wie mehrere Rezensionen bereits festgestellt haben. Allerdings sind die Verhöre inspiriert von Anyurus Erfahrungen mit schwedischen Behörden und wurden nur zugespitzt, behauptet zumindest der Autor im bereits erwähnten Interview mit Rakel Chukri. Damit weist er, wie sein vermeintliches Ich im Roman, auf die Rolle der Fiktion bei Produktion und Rezeption hin – die eigentliche Stärke des Romans. Anyuru eröffnet damit auch die Frage nach der narrativen Funktion des Verhörs. Es bringt uns dem Protagonisten näher, es zwingt ihn regelrecht, seine Identität preiszugeben, eine Identität, die die Behörden bereits zu kennen meinen. Die meisten Informationen über P liefert der Verhörsleiter in direkter Rede, während die verhörte Figur keine Chance bekommt, durch entsprechende Erzählperspektive oder eigenen Redebericht ihre eigene Geschichte zu präsentieren.

Die Macht des Erzählens ist das Hauptthema des Romans. Nicht umsonst ist der Romantitel En storm kom från paradiset dem Fragment Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte entliehen. Benjamins Gedanken zu einer Geschichtsschreibung der Unterdrückten werden aufgerufen, und sein berühmter ‚Engel der Geschichte‘ erhält in Anyurus Vaterfigur eine neue Inkarnation. Der Engel wird vom Sturm aus dem Paradies davongetragen und ist machtlos, während sein Blick auf die sich unter ihm türmenden Trümmer der Geschichte gerichtet ist. P wird dem Engel gleich vom Wind der Ereignisse gefasst und von ihm davon getragen.

Mehrmals greift der Roman die Metapher von Benjamins Engel auf. Sie wirft auch Licht auf Anyurus Projekt, sich eine Stimme in der schwedischen Hochkultur zu verschaffen. Eine Stimme für viele, die im medialen Selbstbild der schwedischen Gesellschaft oft übertönt und bevormundet werden. Ein Selbstbild, um das die (kulturelle) Elite des Landes zur Zeit mit der rechtspopulistischen Partei Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) ringt. Johannes Anyuru arbeitet derweil an seiner literarischen Karriere durch ästhetische Leistung und das Sich-zu-Eigen-Machen der europäischen Literaturtradition; nicht durch Nachahmung des Literaturtrends der sog. ‚pappaböcker‘ (Papa-Bücher) in Schweden. Es bleibt zu hoffen, dass der Begeisterungssturm ihn nicht davonweht. Bislang zeigt er Bodenhaftung und wählt sich seinen Platz am liebsten selbst. So engagiert er sich in den sozial gebrandmarkten Vororten Schwedens. Am bekanntesten ist wohl das von ihm betreute skrivprojekt (Schreibprojekt) der Pantrarna (Die Panther), einer selbstorganisierten Interessensvertretung der Vorortsbewohner*innen, die das mediale Bild ihrer Heimatorte verändern wollen. Vielleicht verhilft dieses Engagement der schwedischen Kulturlandschaft zu einem festeren Stand – ohne Wurzeln – gegen die Sverigedemokraterna.

Johannes Anyuru: En storm kom från paradiset. Stockholm: Norstedts, 2012.
(Philipp Wagner, Wien, März 2014)

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