Glück und Schuld der ›global tourists‹. Kirsten Hammann: Alene hjemme (2015)

hamman»Sara er forkert, og det er ikke bare en følelse, det er både synligt og målbart, at hun er anderledes i forhold til andre. Hendes skelet er forkert vokset sammen, så det er helt skævt, knoglerne vender den forkerte vej og stikker ud de forkerte steder […] Hun har gået til læge og fysiolog, afspændingspædagog og massage, gymnastik, mensendieck, rolfing, yoga, zoneterapi, body-sds, alexanderteknik, akupunktur, osteopat, homøopat og heilpraktiker, men lige meget hjælper det.« (5)

»Sara ist verkehrt, und das ist nicht nur ein Gefühl, das ist sowohl sichtbar als auch messbar, dass sie anders ist als andere. Ihr Skelett ist verkehrt zusammengewachsen, so dass es ganz schief ist, die Knochen gehen in die falsche Richtung und treten an den falschen Stellen hervor [..] Sie ist zum Arzt und zum Physiologen gegangen, zum Entspannungspädagogen und zur Massage, Gymnastik, Mensendieck, Rolfing, Yoga, Zonentherapie, Körper SDS, Alexandertechnik. Akupunktur, zum Osteopathen, Homöopathen und Heilpraktiker, aber es hilft alles nichts.«

Der Textanfang stellt uns nicht nur die Hauptperson des Romans, sondern auch die nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge im dänischen Wohlfahrtsstaat vor. Die personale Erzählperspektive impliziert eine Ambivalenz von sympathetischer Nähe zur Protagonistin und durch Übertreibung evozierte ironische Distanz. Diese Art des Erzählens ist typisch für Kirsten Hammann, und auch diese Art von Heldin kennt man schon aus ihren früheren Romanen (seit Vera Vinkelvir, 1993), was manche Rezensenten kritisch anmerken. Obwohl Hammann eine der erfolgreichsten und wichtigsten dänischen Gegenwartsautorinnen ist, muss sie für ihr um handlungsunfähige weibliche Protagonisten zentriertes Werk häufig Kritik einstecken. Die Rezensenten sind sich auch in der Bewertung ihres jüngsten Romans nicht einig; schon bei der Frage nach der Gattungsbezeichnung changieren sie zwischen Groteske, Krimi, Chicklit und »samtidsroman der spidder tidsånden« (Kamilla Löfström in: Information 27.2.2015; »Gegenwartsroman, der den Zeitgeist trifft«). Die einen zeigen sich amüsiert über Hammanns frechen Ton (man habe »den største fornøjelse ved at læse Hammann: hendes hedenske humor, det djævelske drilleri« – Lise Garsdal in: Politiken 26.2.2015; »das größte Vergnügen Hammann zu lesen: ihr heidnischer Humor, ihre teuflische Neckerei«), andere beklagen die klischeehafte Übertreibung, die zu offensichtlich und zu langatmig sei, um den Leser wirklich herauszufordern (Morten Kyndrup in: Standart 3.10.2015).

Die Handlung ist in der Tat schnell erzählt: Es geht um die 38-jährige Sara, ihre Beziehung zu dem in Scheidung lebenden Philip und seinen beiden Töchtern, die jedes zweite Wochenende bei ihnen verbringen, sowie der höchst attraktiven Nachbarin Frederikke, die immer mehr in ihr Dasein eindringt. Obwohl Saras Leben durch einen hohen Lebensstandard, eine schöne Wohnung und eine funktionierende Beziehung ausgefüllt zu sein scheint, zweifelt und verzweifelt sie an allem. Sie findet sich hässlich, langweilt sich, wünscht sich ein eigenes Kind und antizipiert Philips Untreue und das Ende der Beziehung. Ihre Suche nach dem perfekten Glück wird durch ihre ständigen Selbstzweifel verstellt, die sich in einer konstanten Selbstbeobachtung Ausdruck geben: »Hun vakler foroverbøjet ind gennem stuen. ›Jeg vakler foroverbøjet‹ tænker hun og lægger sig på sofaen« (104; »Sie wackelt nach vorne gebeugt durch das Zimmer. ›Ich wackele nach vorne gebeugt‹, denkt sie«). Ihr Leben wird zu einem Rollenspiel, in dem sie immer das Schlimmste annimmt. So kann es kaum verwundern, dass alle ihre Befürchtungen in Bezug auf die Beziehung im Stile einer self-fulfilling prophecy schließlich eintreten: Saras zunächst absurd scheinende Eifersucht erweist sich im Nachhinein als berechtigt – das erwünschte Kind bekommen Philip und Frederikke.

Ihre emotionale Instabilität betrifft jedoch nicht nur den engsten privaten Bereich, sondern erstreckt sich auch auf globale Zusammenhänge: »Sara er bange. Jorden gik ikke under i 2012, som mayaerne mente, men ifølge fremtidsforskeren John L. Petersen havde de ret i, at det blev et vendepunkt« (9; »Sara hat Angst. Die Welt ist 2012 nicht untergegangen, wie die Maya meinten, aber dem Zukunftsforscher John L. Petersen zufolge hatten sie recht damit, dass es ein Wendepunkt war«). Sara sorgt sich also nicht nur um sich selbst, sondern um die Zukunft der Welt; während sie abspült, fühlt sie sich schuldig gegenüber »alle dem, der mangler rent drikkevand« (23; »all denen, die kein sauberes Trinkwasser haben«), und während sie Salat zubereitet, um sich gesund zu ernähren, stellt sie sich den Zusammenbruch der Nahrungsversorgung und des gesamten Wohlfahrtsstaats vor. Während die Lesenden derartige Schuldgefühle durchaus kennen, lassen die Übertreibungen eine ironische Distanz entstehen, die auf die als unangemessen dargestellte Sorge der Wohlfahrtsstaatbürgerin um den Zustand der Welt abzielen soll. Das ist vor allem deswegen der Fall, weil es für sie keinen Unterschied macht, ob sie sich um ihr Aussehen, ihren Kinderwunsch oder um den Klimawandel und globalen Wassermangel Gedanken macht. Der Roman erzielt seine kritische Dimension also aus einer Nivellierung der Problemstellungen, die allesamt in eine egozentrische Perspektive überführt werden. Die vorgebliche Sorge um die Welt wird auf diese Weise als sentimental und »hopelessly private« (vgl. Vivasvan Soni: Mourning Happiness, 2010) entlarvt.

Saras Ängste um die Zukunft, vor allem aber ihre Unzufriedenheit mit dem Leben veranlassen ihren Freund Philip, ihr eine Reise zu schenken, die sie selbstbewusster und glücklicher machen soll. Das von Sara ausgewählte Ziel ist Bhutan, durch die Fernreise bekommt die globale Perspektive nun eine konkrete Verankerung in Saras Leben. Zum Glücklichsein gibt Bhutan in besonderer Weise Anlass. In diesem Land hat man das Messen des Bruttonationalglücks (BNG) eingeführt, das den Lebensstandard in einer neuen, humanistischen Weise definieren sollte. Der Ausdruck wurde 1979 von Jigme Singye Wangchuck, dem damaligen König von Bhutan, geprägt, um dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, einem ausschließlich materiell und ökonomisch bestimmten Maß, einen ganzheitlicheren Bezugsrahmen gegenüberzustellen. In diesem Sinne entwirft Alene hjemme eine triadische Relation von Globalisierung, Schuld und Glück, die gängige Vorstellungen vom aktuellen globalen Tourismus aufgreift: Er enthält ein Glücksversprechen und bringt doch in der Konfrontation mit der Alterität des ›global south‹ Unbehagen und Schuldgefühle der Bessergestellten hervor. Eine ähnliche Problematik wurde übrigens auch in Kirsten Thorups Roman Tilfældets Gud (2011) umgesetzt.

Erstaunlich ist nun aber, dass in dem über 300 Seiten langen Roman der Bericht über die Ferien in Bhutan ausgespart bleibt. Während wir am Ende des dritten Kapitels im Detail erfahren, dass sich die Protagonistin für die Reise Sonnenbrille, Rucksack und Wanderschuhe kauft, beginnt das vierte Kapitel mit dem knappen Satz »Fire uger senere« (88; »Vier Wochen später«) – das touristische Erlebnis stellt eine signifikante Leerstelle im Roman dar. Zwar berichten die folgenden Seiten von jetlag und Müdigkeit und reißen auch ein paar Erzählungen an, die allerdings seltsam leer bleiben: »hun siger hele tiden ordet ›fantastisk‹, det var ›fantastisk‹, hun er så glad, og ›eventyr‹, det var et ›eventyr‹« (91; »sie sagte die ganze Zeit das Wort ›phantastisch‹, es war ›phantastisch‹, sie ist so froh, und ›Abenteuer‹, es war ein ›Abenteuer‹«). Der Bericht der Reise selbst reduziert sie auf den passiven Status des typischen package-tourist: »Lander med et bump i Wien, af sted, af sted, […] Kom ind! Gå ud! Næste! Og så spytter Københavns lufthavn hende ud fra bagagebåndet« (88-89; »Landet mit einem Rumms in Wien, weiter, weiter […] Komm rein! Geh raus! Nächster! Und dann spuckt der Kopenhagener Flughafen sie am Gepäckband aus«). Ebenso touristentypisch wie die Passivität der Pauschalreisenden ist das Thema Souvenirs, durch die Sara versucht, ihr Ferienerlebnis zu teilen und zu bewahren, doch die mitgebrachten Gebetstücher mit den bunten Farben Bhutans verblassen buchstäblich in der Waschmaschine. Der Tourismus wird auf diese Weise seiner Glücksverheißung beraubt, das Abenteuer, der Ausstieg aus der Zeit (vgl. Georg Simmel: »Das Abenteuer«, 1911) ist nicht nur sehr kurzfristig, sondern die touristische Reise hat keinerlei Konsequenzen für das Alltagsleben und die Persönlichkeit der Hauptperson. Auch in dieser Beziehung stellt der Tourismus eine Leerstelle dar, die durch die erzählerische Lücke markiert wird. Die Bhutan-Reise besteht lediglich aus unruhiger Vorfreude und erschöpfter Erinnerung. Die Zeitstruktur des Romans erlaubt kein momentbezogenes situationales Glück, es ist immer ins Unbestimmte hin aufgeschoben. Die erzählerische Enthaltsamkeit bedeutet aber auch, dass der Charakter Bhutans als etwas Geheimnisvolles bewahrt bleibt; er wird nicht durch die Augen einer westlich geprägten Erzählerin überformt dargestellt. Die touristische Aneignung wird nicht in die Erzählung überführt, sondern als ohnehin vergeblich markiert. Der Zusammenhang von Tourismus und Glück wird deutlich negiert.

Wie schon in En dråbe i havet (2008) konfrontiert Hammann in dem ihr eigenen witzigen Jargon die überzogenen Selbstzweifel der Wohlfahrtsstaat-Bürgerin mit einer globalen Perspektive, konfrontiert Glücksstreben und Schuldgefühle. Man darf sich also durch den egozentrischen Ton und die pathetischen Beziehungsprobleme des Romans nicht täuschen lassen – er geht durchaus über die gängigen chicklit-Anliegen hinaus. Doch kann man sich fragen, ob die durchgehende Ironisierung nicht auch auf die ernsten Themen zurückwirkt und nicht nur Sara, sondern auch die von ihr aufgerufenen Problemstellungen unfreiwillig relativiert.

Kirsten Hamman: Alene Hjemme,  Kopenhagen: Gyldendal, 2015.
(Annegret Heitmann, München)

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Aufklärung in Bildern: I morgen bliver bedre – Bind 1: Kongen von Karoline Stjernfelt

kongenDank P.O. Enquist (Livläkarens besök, 1999; Der Besuch des Leibarztes) ist die Geschichte des deutschen Arztes Struensee, seines Machtaufstiegs in Dänemark sowie seiner Liebesaffäre mit der Königin Caroline Mathilde und seines Sturzes mit der Konsequenz der Hinrichtung international bekannt geworden. Seit dem Tod Struensees (1772) haben sich Autoren mit dem Thema nicht nur im Norden, sondern auch in Deutschland, Frankreich und Italien beschäftigt. Bemerkenswert ist auch die Vielfalt der Medien, die für die Bearbeitung der Geschichte eingesetzt wurden: Romane, Theaterstücke, Filme bis zu einer Oper und einem Musical. Allein im Jahr 2015 ist ein Roman von Dario Fo über das Thema erschienen, während die Dramatisierung des Romans von P.O. Enquist ihre Premiere in Stockholm feiert. Niemand hätte jedoch gedacht, dass diese irre, aber wahre Geschichte in der Form eines Comics erzählt werden könnte! Abgesehen von der 1955 in der französischen Zeitung France Soir erschienenen „bande dessinée verticale“ Caroline-Mathilde et Struensée, wo die Texte jedoch nicht in Sprechblasen, sondern nach den Zeichnungen als Erklärung geordnet sind, markiert Karoline Stjernfelt mit dem ersten Band von I morgen bliver bedre nicht nur ihr Debüt, sondern auch die Erscheinung der bisher einzigen Graphic Novel über die faszinierenden Ereignisse, die sich zwischen 1766 und 1772 am dänischen Hof ereigneten.

Karoline Stjernfelt, 1993 geboren, hat sich an der Serieskolan in Malmö ausgebildet und ist jetzt am Zeichenbüro Kulkælderen in Kopenhagen tätig. Vor I morgen bliver bedre hat sie schon einige Comics in Anthologien wie Knivsæg, Kulkælderen 3 und Bon Kultur veröffentlicht.

1. Kongen ist der erste Band des ambitionierten Projektes von I morgen bliver bedre. Nach diesem ersten Band, der die Geschichte bis vor der europäischen Reise des Monarchen erzählt, sind in den nächsten Jahren der zweite und der dritte Band, jeweils mit den Titeln 2. Dronningen und 3. Lægen , geplant. Einem dreibändigen Projekt über diesen historischen Stoff waren schon der deutsche Dramaturg Johann Ernst Daniel Bornschein mit dem Drama Friedrich Graf von Struensee oder das dänische Blutgerüst (1793-1795) und der schwedische Schriftsteller Axel Lundegård mit dem Roman Struensee (1898-1900) nachgegangen. Während in beiden Fällen der Fokus auf die Figur des Struensee gelegt war, versucht Karoline Stjernfelt die drei Hauptakteure der Handlung – Christian VII., Caroline Mathilde und Struensee – gleichgewichtig zu behandeln. Das lässt sich nicht nur an den Titeln der drei Bände ablesen, sondern wird schon in diesem ersten Band bestätigt, in dem die Königin die Rolle der Erzählerin übernimmt, Christian der eigentliche Protagonist ist, während der Arzt schon als Wendepunkt der Geschichte eingeführt wird. Die ersten fünf Seiten lassen auch eine weitere Idee erahnen, die der Universalität bzw. der Unsterblichkeit und vielleicht daraus folgend die der Aktualität der Geschichte. Das legt zumindest der Text der Seiten 4 bis 7 nahe, der lautet: „Vor tid i verden er kort. Og verden er stor og tom og tavs. Men måske hvis vi kan være med til at ændre på fremtiden. Måske endda gøre den bedre. Så har vi jo på sin vis vores del i den. Og dermed udødelighed.” (Unsere Zeit in der Welt ist kurz. Und die Welt ist groß und leer und stumm. Aber vielleicht wenn wir helfen können die Zukunft zu verändern. Vielleicht sie sogar besser zu machen. Dann haben wir ja auf eine Art Teil daran. Und damit an der Unsterblichkeit.)

Während dieser Text eine einfachere Interpretation anbietet, lassen die Zeichnungen sowie der aus dem apokryphischen Buch der Weisheit zitierte Text („Åndedrættet i vore næsebor er som en røg, vor tanke som en gnist, der springer ved hjertets slag“; Der Atem in unseren Nasenlöchern ist wie ein Rauch, unser Gedanke wie ein Funke, der beim Herzschlag zündet) eine Art mystische Atmosphäre entstehen, die viele Fragen offen lässt. Stirbt Caroline Mathilde im Schneewald? Wer ist der Mann, der mit ihr läuft? Diese Fragen bleiben unbeantwortet und bauen Spannung für die folgenden Bände auf. Diese ersten Seiten scheinen letztendlich als Siegel der Autorin, die wie ein allwissender Gott die Geschichte einrahmen, aber gleichzeitig listig dem Leser keine präzise Antwort geben will.

Was darauf folgt, ist ein weiterer Rahmen, in dem Caroline Mathilde 1775 im Exil in Celle an ihrem Schreibtisch sitzt und die Geschichte ihrer Lebensjahre 1766 bis 1772 niederschreibt. In einem langen Flash back, der bis zum Ende des Bandes andauert, erfahren wir zunächst von dem traurigen Abschied der fünfzehnjährigen Prinzessin von ihrem Heimatland England, bevor sie nach Dänemark reist, um ihren noch nicht volljährigen Gemahl Christian zu treffen. In Kopenhagen folgt die Handlung den ersten schwierigen Momenten der Beziehung. Der Monarch erweist sich als komplizierte Person, die kein Interesse für die Königin zeigt, sondern sich lieber dem Theater – als Zuschauer sowie als Schauspieler – widmet. Bald erfährt die junge Königin, dass der König an einer psychischen Krankheit leidet, die den strengen Lehrmethoden seines Hoflehrers Reventlow zuzuschreiben sei – das behauptet jedenfalls der andere Hoflehrer, der Schweizer Reverdil. Noch schlimmer wird die Situation für die Königin, da ihr Mann regelmäßig ein Bordell besucht, wo er sich in die unter dem Namen „Støvlet-Katrine“ bekannte Prostituierte Anne Cathrine Benthagen verliebt. Die einzige sexuelle Begegnung zwischen Christian und Caroline, von der erzählt wird, dient nur der Zeugung eines Thronfolgers. „Men sådan skulle det ikke gå“ (Aber so sollte es nicht gehen), sagt die Erzählerstimme auf Seite 92. Caroline Mathilde unterstreicht schon jetzt mit einer Art Prolepse, dass ihre Präsenz am Hof nicht nur wegen der Geburt des Kronprinzen erwähnenswert ist.

Hier wird nun die Geschichte des im damaligen dänischen Altona tätigen deutschen Arztes Johann Friedrich Struensee eingeschoben, was vermuten lässt, dass er eine wichtige Rolle in Carolines Leben spielen wird. In Altona trifft der Armenarzt seine aufgeklärten Freunde Rantzau und Brandt, die von der Situation am dänischen Hof erzählen. Zurück in Kopenhagen wird die Prostituierte verhaftet und vom Hof entfernt, was eine psychische Krise des Monarchen verursacht, der kurz danach jedoch eine europäische Reise plant. Auf dieser Auslandsreise kann Caroline ihren Mann nicht begleiten, da sie sich um den Kronprinzen kümmern und deswegen in Kopenhagen bleiben muss. Wer jedoch wieder ins Spiel kommt, ist Struensee, da die Minister einen Reisearzt für Christian benötigen. Der erste Band endet mit den Vorbereitungen des Arztes, der von seinem Freund Rantzau über die höfischen Regeln unterrichtet wird, bevor er dem König begegnet.

Die Geschichte der sogenannten königlichen Affäre der dänischen Aufklärung ist sicherlich dem skandinavischen bzw. deutschen Publikum vor allem durch den Film En kongelige affære von Nikolaj Arcel (2012) bekannt. Auch im Fall der Graphic Novel ist der Königin die Rolle der Erzählerin zugeteilt. Im Gegensatz zur kinematographischen Version sorgt Karoline Stjernfelt aber für eine skrupulöse und minuziöse historische Rekonstruktion: Während die Schauspielerin Alicia Vikander eine schöne und faszinierende Königin darstellt, bleibt die Zeichnerin der Realität näher und zeigt eine unattraktive Caroline. Wichtig ist auch die gelungene Darstellung der Altonaer Zeit, die fiktionale Versionen mit solcher Präzision bislang kaum erzählt haben. Bemerkenswert ist die Recherche der Autorin, die nicht nur Biographien gelesen hat, von denen die sehr umfangreiche Biographie Den Afmægtige (2008) von Ulrik Langen über Christian VII. zu erwähnen ist, sondern auch einige wichtige Orte der Geschichte besucht hat, unter anderen das Celler Schloss und das Schloss Frederiksberg in Kopenhagen. Ein noch größeres Verdienst ist jedoch dem Stil der Zeichnerin beizumessen. Ihre Zeichnungen lassen sich als klassisch beschreiben. Karoline Stjernfelt arbeitet der französischen Schule nach, was in ihrem Zeichenstil, der von der sogenannten „ligne claire“ (Zeichnungen mit klaren Konturen) geprägt ist, zu erkennen ist. Zwei weitere Anmerkungen über die Comics von Stjernfelt sind zu erwähnen. Einerseits wirken die bunten und sehr expressiven Zeichnungen wie eine Art Stummfilm, dessen Verständnis ohne viele Texte möglich ist, andererseits machen die Dialoge die Handlung frischer, damit man sich quasi als Figur der Geschichte im 18. Jahrhundert fühlen kann.

Karoline Stjernfelt zeigt letztendlich, wie der Struensee-Stoff heute noch produktiv sein kann und sie trägt dazu bei, dass ein regelrechter Struensee-Boom die dänische literarische Szene erfüllt. Während die Graphic Novel sofort bei ihrem Erscheinen von der dänischen Zeitung Politiken als Erfolg begrüßt wurde, ist Dario Fos neuer Roman in dänischer Übersetzung veröffentlicht worden. Der er en skør konge i Danmark (auf Italienisch C´é un re pazzo in Danimarca, 2015) erzählt nämlich die Geschichte des verrückten Christian VII. Zwei unterschiedliche Werke mit zwei verschiedenen Perspektiven, die aber gemeinsam die Freude daran zeigen, einen historischen Stoff neu wiederzugeben.

Karoline Stjernfelt: I morgen bliver bedre 1: Kongen,  Kopenhagen: Cobolt, 2013.
(Sergio Ospazi, München, Dezember 2015)

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Die verlorenen Paradiese: Duraid Al-Khamisis Familienportrait Regnet luktar inte här (2015)

khamisiJag stoppar ner handen i det iskalla havet. Det är min första kontakt med Sverige. Hon är vacker, stolt och iskall. Välkomnande, men fientlig. Som en snobbig värd som egentligen inte bjudit hem den gäst som just anlänt. [10]

„Ich stecke die Hand in das eiskalte Meer. Das ist mein erster Kontakt mit Schweden. Es ist schön, stolz und eiskalt. Einladend, aber feindlich. Wie ein versnobter Gastgeber, der den gerade angekommenen Gast eigentlich nicht zu sich gebeten hat.“

Dieses Schweden jenseits von romantischen Vorstellungen betritt der achtjährige Duraid im Dezember 1994. Zusammen mit seiner Familie ist er aus Bagdad über Jordanien, Moskau und die litauische Hafenstadt Klaipėda über die Ostsee nach Gotland geflüchtet. Der Preis der Menschenschmuggler ist hoch, die Reise menschenunwürdig. Zusammengedrängt in einem engen, alten Fischerboot müssen 63 Flüchtlinge zwischen Erbrochenem und Exkrementen stumm darauf hoffen, dass das kleine Boot den Sturmböen und riesigen Wellen trotzen kann. 62 von ihnen überstehen die Überfahrt.

Für die Familie Al-Khamisi ist diese Reise nicht nur der Weg in ein fremdes Land, sie ist auch der Abstieg auf der sozialen Skala. Im Irak war Duraids Vater ein angesehener Goldschmied, der seiner Familie eine wohlhabend eingerichtete Villa bauen konnte. In Schweden wird er nie wieder arbeiten, die Familie lebt in einer Wohnung im migrantengeprägten Stockholmer Stadtteil Husby. Die Mutter erhält zwar ab und zu kleine Aushilfsjobs, leidet zu Beginn aber immer stärker unter schweren Depressionen. Obwohl sich Schweden ihnen gegenüber nicht als das erträumte Paradies offenbart, nehmen die Eltern es in Schutz. Der heranwachsende Duraid hingegen ist zornig – zornig wegen der ständigen rassistischen Kategorisierungen und Anfeindungen von allen Seiten, die ihm den Eindruck vermitteln, als Einwanderer grundsätzlich nicht willkommen zu sein, und zornig auf das Leben an sich in einem Land, in dem noch nicht einmal der Regen einen Geruch hat und ihm so ein Gefühl von Heimat geben könnte:

En betydande del av Irak är öken av rödsand. När stormarna drar in över städerna, jordarna, åkrarna och floderna lägger sig en tjock röd dimma över himlen.

När det sedan regnar lägger sig sanden, och ur den frigör sig den ljuvligaste lukt jag vet: lukten av fotogen, gasol och regn som ömsint parar sig med den varma doften av jasminblommor. Men i Sverige … Regnet luktar inte här. Mossan doftar. Barren, stenarna, löven doftar. Men inte regnet. Och det är ingen liten sak. Den som inte har en doft, eller ett berg, en gata, ett torg, ett bibliotek, en kyrka, en moské, ett bageri att längta till kommer aldrig att förstå det. Bara den som flytt från sina floder, sina sjöar, från sin säng, familj, skola, vänkrets och från sitt hantverk kan förstå vad jag menar. [132f]

„Ein bedeutender Teil des Iraks ist eine Wüste aus rotem Sand. Wenn die Stürme über die Städte, Böden, Äcker und Flüsse hereinziehen, legt sich ein dicker roter Nebel über den Himmel.

Wenn es dann regnet, legt sich der Sand, und aus ihm löst sich der lieblichste Duft, den ich kenne: der Geruch von Petroleum, Flüssiggas und Regen, der sich zärtlich mit dem warmen Duft von Jasminblüten paart. Aber in Schweden … Hier hat der Regen keinen Geruch. Das Moos duftet. Die Tannennadeln, Steine, Blätter duften. Aber nicht der Regen. Und das ist keine kleine Sache. Derjenige, der sich nicht nach einem Duft oder einem Berg, einer Straße, einem Platz, einer Bibliothek, einer Kirche, einer Moschee, einer Bäckerei sehnt, wird dies nie verstehen. Nur derjenige, der von seinen Flüssen, seinen Seen, von seinem Bett, seiner Familie, Schule, seinem Freundeskreis und Handwerk geflohen ist, kann verstehen, was ich meine.“

Ganz wie es die stereotypen Kategorisierungen vorsehen, ist Duraids tägliches Leben immer mehr von Drogen und Gewalt geprägt – bis sich auch seine engsten Einwandererfreunde von ihm abwenden und er die Macht der sprachlichen Kommunikation erkennt. Duraid wird Journalist, aber auch als Journalist muss er sich mit ethnischen Kategorisierungen und rassistisch motivierten Handlungen auseinandersetzen.

Regnet luktar inte här handelt jedoch nicht nur von Duraid und seinen Eltern. Wie der Untertitel „Ein Familienportrait“ andeutet, ist es das Album einer ganzen Familie. Dazu gehören noch Duraids vier jüngere Brüder, die mit nach Schweden geflüchteten Rami und Awsam und die in Schweden geborenen Semir und Sandro. Auch die große, im Irak verbliebene weitere Familie erhält ihren Platz. Für einen relativ kurzen Roman ist das eine Vielzahl an Schicksalen, weshalb die Geschichten von manchen Figuren aus dem engeren Kreis leider schemenhaft verbleiben. Rami und der von ihm mitgegründeten Organisation „Megafonen“ („Das Megafon“) für junge Vorortbewohner, die sich für soziale Gleichberechtigung und gegen traditionelle Medienbildern vom Vorort engagiert, werden sehr viele Seiten gewidmet, während Awsam fast unsichtbar bleibt. Dafür liefert der Text eine programmatische Erklärung:

Awsam är 23 år. Han sköter sitt, och tar inte ställning politiskt. Han vill inte tala om frågor som har att göra med hans hudfärg och ursprung. Det är hans fulla rätt. Därför tar hans berättelse i denna bok – som i högsta grad är politisk – slut här. [169]

„Awsam ist 23 Jahre alt. Er kümmert sich um seine Angelegenheiten und nimmt politisch keine Stellung. Er will nicht über Fragen sprechen, die mit seiner Hautfarbe und seinem Ursprung zu tun haben. Deswegen endet seine Erzählung in diesem Buch – das im höchsten Grade politisch ist – hier.“

Diese Stellungnahme mit ihrem Metakommentar wirkt im Romankontext dennoch eher abgerissen und unbefriedigend.

Regnet luktar inte här fordert seine Leser heraus und provoziert auf sowohl positive als auch negative Weise. An genau dieser Schnittstelle wird die Lektüre allerdings besonders interessant. Akzeptiert man nämlich das Wirrwarr, das durch die Vielfalt an Stimmen über die Vor- und Nachteile entsteht, die ein Leben in Schweden für eingewanderte Familien und ihre in Schweden geborenen Kindern mit sich bringt, ergibt sich eine ganz neue Bedeutung: Jede Stimme ist anders und unterschiedlich laut. Auch wenn sich ein Individuum mal stereotyp verhält, so gilt dies selbstverständlich nicht automatisch für dessen Familie, Freunde und Nachbarn. Ebenso führt die zentrale Stellung der Großfamilie anschaulich vor Augen, dass die familiäre Disposition jedes Individuum in seinem Verhalten prägt und gewisse Verhaltensweisen stark beeinflussen kann. Duraid ist wesentlich von Einsamkeit und Bodenlosigkeit durch den Verlust seiner irakischen Heimat und der dort zurückgelassenen Großfamilie geprägt sowie von der Ohnmacht, seine geliebten und verehrten Eltern unglücklich und arbeitslos in dem neuen Land zu sehen. Ohne Unterstützung von außen kann er sich diesen Gefühlen nicht entziehen.

Zusätzlich zu der Vielfalt individueller und doch zusammenhängender Schicksale in Schweden und im Irak, die außerdem nicht chronologisch erzählt werden, ist Regnet luktar inte här auch eine Collage aus verschiedenen Schreibstilen, unter denen die Schreibweise des Journalisten Duraid Al-Khamisi, der unter anderem für das Schwedische Radio (Sveriges Radio) oder die Tageszeitung Svenska Dagbladet gearbeitet hat, deutlich hervortritt. Züge des journalistischen Genres der Reportage wechseln insbesondere in der zweiten Hälfte regelmäßig mit längeren Interview-Passagen, in denen die Familienmitglieder im Gespräch mit Duraid zu Wort kommen. Gleichzeitig wird Regnet luktar inte här immer wieder zu einem Metaroman über die Macht des Schreibens, bei dem sich, wie es die Namensgleichheit des literarischen Duraids und des Autors Duraid Al-Khamisi bereits andeutet, stark autobiographische Elemente nicht abstreiten lassen.

Die stetigen Stilwechsel hinterlassen insbesondere in Verbindung mit den häufigen Zeitsprüngen einen Eindruck von fehlender Kohärenz und werden anstrengend. Doch spätestens hierbei wird einem das eigene Leseverhalten kritisch vor Augen geführt. Als Leser wünscht man sich möglicherweise zunächst, dass das Familienportrait keine Collage, sondern ein wirklicher Genre-Hybrid wäre. Es sind nämlich gerade die immer wieder aufblitzenden poetischen Reportage-Abschnitte, die fesseln und zutiefst berühren. Aber hier kommt erneut die aufrüttelnde Macht des Chaos zum Tragen. Regnet luktar inte här handelt hochgradig von unbequemen Situationen im eigenen Land. Weshalb sollte dann dessen Lektüre durchgängig bequem sein?

Daneben gibt es weitere Stolpersteine inhaltlichen Charakters. Der neunjährige Sandro versucht, statt des in seiner Familie verbreiteten Vorortsoziolektes Standardschwedisch zu sprechen. Dies ändert sich doch zumindest phasenweise während eines Gesprächs mit Duraid:

Sandro börjar komma igång, och nu vaknar hans rätta dialekt till liv. Nu låter han som den tväräkta förortare jag vill att han ska vara. Hans dialekt bär på min och mina föräldrars resa. Den vittnar om platsen som vi en gång kom ifrån. [173]

„Sandro läuft allmählich warm, und jetzt erwacht sein richtiger Dialekt zum Leben. Jetzt hört er sich wie der waschechte Vorort-Sprössling an, der er meiner Meinung nach sein soll. Sein Dialekt trägt die Reise von mir und meinen Eltern in sich. Er zeugt von dem Ort, von dem wir einst hergekommen sind.“

Weshalb akzeptiert Duraid nicht, dass sein jüngster, in Schweden geborener Bruder Standardschwedisch spricht, insbesondere da sein Soziolekt ihm in seiner Kindheit ungerechterweise so viel Missachtung eingebracht hat? Weshalb nimmt Duraid Kategorisierungen an Schweden vor, wenn er die Kategorisierungen von schwedischer Seite zurecht scharf kritisiert? Sollte die Frage aber nicht eigentlich lauten: Können wir dies als Außenstehende, bei denen eher freiwillige Auslandsaufenthalte als Flucht und anschließende rassistische Anfeindungen die Regel sind, überhaupt nachvollziehen?

In diesem Sinne wird Regnet luktar inte här nicht nur zu einem Familienportrait über Flucht und das darauf folgende Leben in einem anderen Land, sondern ebenso zu einem Weckruf, seine Privilegien zu reflektieren. Lässt man sich darauf ein, wird es eine sehr persönliche Lektüre, die auch die eigenen nordischen Paradiese nicht unangetastet lässt. Was bleibt, ist ein sensibilisiertes Bewusstsein für den Umgang mit Schmerz und Verlust der Heimat, das hoffentlich zu einem verständnisvolleren Umgang mit unter Umständen zunächst schwer nachvollziehbaren Verhaltensweisen führt. Und dieses Bewusstsein ist natürlich insbesondere in diesen Monaten, in denen hilfsbedürftige Menschen nicht unbedingt über das Baltikum und die Ostsee, dafür aber über südosteuropäische Länder und das Mittelmeer in Richtung Norden strömen, besonders wichtig, denn, wie es auch Duraid Al-Khamisi formuliert, es werden noch viele Menschen zu einer solchen Flucht gezwungen sein.

Sei die vielfältige Inkohärenz nun eine bewusste künstlerische Strategie oder der Tatsache geschuldet, dass Regnet luktar inte här erst das Debut eines talentierten Schriftstellers ist, man darf gespannt sein auf das, was es noch von Duraid Al-Khamisi zu lesen geben wird. Die Erwartungen an eine weitere literarische Veröffentlichung sind hoch – nicht zuletzt weil er dieses Mal mit der Wahl des Themas, das bereits vor der enormen Ausweitung der Flüchtlingskatastrophe feststand, eine hohe Sensibilität für gegenwärtige gesellschaftliche Brennpunkte bewiesen hat.

Duraid Al-Khamisi: Regnet luktar inte här, Atlas 2015.
(Hannah Tischmann, Wien, Oktober 2015)

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