Zwei Romane im Dialog – Ida Jessen: En ny tid (2015) und Doktor Bagges anagrammer (2016)

en ny tidEine ganze Reihe von Romanen, Erzählbänden und Kinderbüchern hat Ida Jessen (geb. 1964) mittlerweile veröffentlicht. Sie gehört zu den renommiertesten dänischen Schriftstellerinnen ihrer Generation und war schon zweimal für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert. Auch der Roman En ny tid (Eine neue Zeit) ist bereits preisgekrönt: Er erhielt den Blixenpreis und den DR-Romanpris. Ergänzt wird der im vergangenen Jahr veröffentlichte Roman nun durch den kürzlich erschienenen Komplementärtext Doktor Bagges anagrammer (Doktor Bagges Anagramme). Beide sind unabhängig voneinander lesbar, doch sie formen eine Einheit, indem sie eine ähnliche Geschichte aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählen.

baggeAn Bang erinnert auch das Setting in der Provinz. Wie die meisten von Jessens Texten spielen diese beiden Romane ebenfalls in der Gegend um ihren Heimatort Thyregod, der in Jütland in der Nähe von Vejle gelegen ist. Neben der psychologischen Ebene zeichnet den Roman auch die gelungene Schilderung der dänischen Provinz zu Beginn des 20. Jahrhundert aus. Durch die Perspektive der Ich-Erzählerin gefiltert, entsteht ein anschauliches Zeitbild eines einfachen Lebens. Für die Beschreibung dieser vergangenen Epoche hat sich die Autorin auf Quellen gestützt, die in einer Anmerkung am Schluss des Buches nachgewiesen werden. Ida Jessen hat sowohl autobiographische als auch kulturhistorische Aufzeichnungen benutzt und Quellenstudien im Museum und lokalhistorischen Archiv von Give-Egn betrieben. Sie legt aber Wert darauf, den fiktionalen Charakter des Romans zu betonen, wenngleich der Ort und das Zeitbild durchaus den Eindruck von Authentizität vermitteln.

Am interessantesten an der Ich-Perspektive ist jedoch nicht der Blick auf die Zeit, den Ort und seine Menschen, sondern die fiktive Selbstdarstellung, die viele Fragen offenlässt. Das entfremdete Verhältnis zu dem nun verstorbenen Ehemann wird zwar deutlich, doch mögliche Gründe dafür werden nur sukzessive und andeutungsweise enthüllt. Endgültige Klarheit über den Charakter der Beziehung gewinnen die Lesenden nicht, eher wird durch die zurückhaltende Selbstdarstellung erreicht, dass das Fremdheitsgefühl, das die Protagonistin während ihrer Ehe bestimmt hat, beim Lesen nachvollziehbar wird. Die Zurückhaltung beim Schreiben darüber erzeugt Leerstellen, die einen identifikatorischen Nachvollzug der Fremdheit und der Kommunikationsbarrieren zwischen den Ehepartnern erlauben.

Weil manche Züge der Protagonistin und vor allem der Charakter ihrer Partnerschaft enigmatisch bleiben, nähert man sich mit Spannung dem Ergänzungsband, der aus der Sicht des Ehemannes erzählt wird. Der Landarzt folgt, so die Erzählfiktion, mit seinen Aufzeichnungen einer Aufforderung von Dansk Lægeforening (Dänische Ärztevereinigung), über seine Berufserfahrungen zu berichten. Wenngleich er die Anfrage zunächst ablehnen will, fordert sie ihn doch zum Schreiben heraus. Auf diese Weise entstehen kurze Textbausteine, die er auf »løse lapper« (156, lose Zettel) schreibt und die Erinnerungen beruflicher aber auch persönlicher Art beinhalten. Bald wird deutlich, dass der Erzähler schwer krank ist und er sich durch die in schlaflose Nächten gemachten Aufzeichnungen auf seinen Tod vorbereitet, der am Anfang des aus der Perspektive der Ehefrau erzählten Bandes stand. Auch in diesem Fall wird eine psychologische mit einer kulturhistorischen Perspektive gekoppelt; auch dieser Text greift auf Quellen, wie eine Abhandlung über Diphterie und die in Danske Lægememoirer gedruckten Erinnerungen des Arztes Hans Kaarsberg, zurück. Der Roman enthält keine Chronologie oder kaum genaue Datierungen, doch die erzählte Zeit geht zurück bis in die Kindheit in den 1860er Jahren und behandelt vor allem die Zeit als Landarzt, die in den 1880ern begann und bis in die Erzählgegenwart 1927 führt. Es war ein hartes Leben mit langen Konsultationstagen und einer Vielzahl von nächtlichen Besuchen bei Schwerkranken, denen oft nicht geholfen werden konnte. Trotz des Engagements des Arztes für Hygiene und Impfungen und trotz seiner Behandlung von Diphterie und Tuberkulose bleibt ihm oft nur die Begleitung der Sterbenden. Durch die Erfahrung ständiger Todesnähe wird auch die Aussicht auf das eigene Sterben illusions- und emotionslos, doch mit genauer Beobachtung des körperlichen Verfalls geschildert. Diese Beschäftigung mit der eigenen Krankheit und dem eigenen Körper behält er jedoch für sich, ein Gespräch mit der Ehefrau darüber findet nicht statt. Die Beziehung der beiden wird von Schweigen und Verschweigen bestimmt.

»Skjuler du noget for mig, Vigand?‹ ›Skjuler du noget for mig, Lilly?‹« (›Verschweigst du mir etwas, Vigand?‹ ›Verschweigst du mir etwas, Lilly?‹, S. 59), könnte ein charakteristischer Dialog lauten, doch nur äußerst selten kommt es überhaupt zum vertraulichen Gespräch der beiden. Auch eine Antwort auf die Fragen erhalten die Gesprächspartner nicht, aber den Lesenden wird im Laufe der Lektüre klar, dass beide ihre Gründe für ihre Verschwiegenheit und die fehlende Öffnung gegenüber dem Ehepartner haben. Man könnte von Trauma-Erzählungen sprechen, in denen unbewältigten Verletzungen in der Vergangenheit die Gegenwart überschatten.

Ein Trost für den todkranken Dr. Bagge ist seine Leidenschaft für Anagramme, die hier und da in seine Textbausteine eingefügt sind: »Sentimentalitet. Til en sen nattetime« (unübersetzbar: Sentimentalität. Zu einer späten Nachtstunde) oder »Lilly og Vigand. Lovgyldig lian« (Lilly und Vigand. Gesetzmäßige Liane«). Der Verweis auf die Gesetzmäßigkeit als Grundlage ihrer Partnerschaft, zu deren Aufrechterhaltung sie – wie eine Liane – auf ein stützendes Anderes angewiesen sind, kann vielleicht ein Bild dieser merkwürdigen Ehe bieten. Ein Anagramm kann entweder als ein hermeneutisches Verfahren verstanden werden, das eine sinnhafte Beziehung von Ding und Wort voraussetzt und durch die Permutation die Sinnfindung befördern will. Eine solche Sinnsuche könnte man in Bezug auf das eben zitierte Ehe-Anagramm annehmen. Man kann Anagramme aber auch als kryptographische Verfahren benutzen, die zur Verschlüsselung oder geheimen Übermittlung von Botschaften eingesetzt werden. Vor allem diese Betonung des Geheimnisvollen trifft auf die beiden Protagonisten des Doppelbuches von Ida Jessen zu. So deutet das nächtliche Hobby von Dr. Bagge auf die Doppelheit dieser beiden Texte zwischen Sinnsuche und Geheimnisbewahrung hin, die die beiden Protagonisten teilen.

Ida Jessen: En ny tid. Roman, Kopenhagen: Gyldendal, 2015.
Ida Jesssen: Doktor Bagges anagrammer. Roman, Kopenhagen: Gyldendal, 2016.
(Annegret Heitmann, München)

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Immer dasselbe – wie schön! Tomas Espedal: Året (2016)

espedalIm Jahr 2006 schreibt Tomas Espedal an einer Stelle seines Buches Gå (eller kunsten å leve et vilt og poetisk liv):

„Det er bare å tenke tanken: du skal leve hele livet med deg selv. Du kan finne en ny kjæreste, du kan forlate familie og venner, reise bort, finne en ny by og nye steder, du kan selge det du eier og kvitte deg med alt du ikke liker, men du kan aldri – så lenge du lever – bli kvitt deg selv.” (S. 17)

(Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben. Du kannst eine neue Geliebte finden, du kannst Freunde und Familie verlassen, verreisen, eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst verkaufen, was du besitzt, und dich von allem trennen, was dir nicht passt, aber solange du lebst, wirst du dich nie von dir selber trennen können. – Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen, 2011)

Året (Das Jahr) könnte man als eine Bestätigung dieser Sätze lesen, oder doch zumindest als eine Nuancierung: Die Haupt- und Erzählerfigur dieses Romans ist – wie auch in Espedals allen anderen Publikationen der letzten 20 Jahre – ein norwegischer Schriftsteller aus Bergen, dessen Bücher dieselben Titel tragen wie die von Tomas Espedal. Und ebenfalls wie in den Büchern der letzen 20 Jahre schreibt dieser Erzähler über sein eigenes Leben, vor allem über die Verluste, die er erleidet und über die er nicht hinwegkommt, über sein Grübeln und sein Selbstmitleid, das er noch mehr zu lieben scheint als die Menschen, Zeiten und Gefühlszustände, deren Verlust er betrauert; diesmal schreibt er über die Zeit nach der Trennung von seiner sehr viel jüngeren Geliebten, die wir aus Imot Naturen (2011 – Wider die Natur, 2014) kennen, und wie sich der Trennungsschmerz mit den emotionalen Schwierigkeiten verwebt, die ihm das Altern des eigenen Vaters bereitet. Bei Året handelt sich also um ein weiteres Beispiel desjenigen Genres, das bewusst die Unschärfe der Grenze zwischen Autobiographie und Roman, zwischen Bekenntnis und Fiktion nutzt, desjenigen Genres, das die literaturwissenschaftliche Forschung mit dem Begriff „Autofiktion“ belegt hat und dessen skandinavische Ikone Karl Ove Knausgaards Min Kamp-Serie ist – mit dem Unterschied, dass Espedals Notizbücher, wie einige seiner Autofiktionen im Untertitel heißen, sehr viel schmaler, aber dafür viel interessanter, verdichteter, kunstreicher als die Bekenntnisse seines Landsmannes sind. Diesmal nährt er seinen Text sogar der Lyrik an, indem er feste Zeilenumbrüche setzt und sich einer ungewöhnlichen Interpunktion bedient.

Wen ein voyeuristisches Interesse zum Lesen treibt, der kann parallel zu Espedals Året Silje Aanes Fagerlunds Roman Eneste (Einzige), lesen, ebenfalls ein Exemplar der Gattung Autofiktion. Denn Fagerlund ist eben die junge Frau, von der Espedal nach einer heftigen Beziehung verlassen wurde, und ihr Roman ist der Spiegeltext zu Imot Naturen und Året. Dort spricht eine junge Frau (mit dem Vornamen der Autorin) über das Verhältnis zu einem sehr viel älteren Liebhaber, der sie zur „Einzigen“ seines Lebens erhebt, und den sie, so wird ihr langsam klar, verlassen will.

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Doch wenn man Tomas Espedals Bücher nur als Bekenntnisse liest, die nichts anderes sagen wollen, als „So bin ich eben; ich muss mich nehmen, wie ich bin; und deshalb müsst auch Ihr, liebe Leser und Leserinnen, mich nehmen, wie ich bin!“ – wenn man Tomas Espedals Reflexionsschleifen also nur als Bekenntnisse eines unverbesserlichen Ichs und als Bekenntnis zu diesem unverbesserlichen Ich liest (das noch dazu ein Chauvi ersten Ranges ist), dann verpasst man die eigentliche Pointe. In Året geht es gerade nicht darum, dass ich Ich bin, sondern wie das Ich und die Anderen ineinanderfließen, wie das Ich nur als Aktualisierung der Anderen seine Identität bekommt.

Die Handlung ist wie immer bei Espedal nur die Oberfläche, in die sich die kreisende Reflexion einschreibt. Im ersten Teil mit dem Titel Vår (Frühling) wandelt der Erzähler während einer Lesereise durch Südfrankreich auf den Spuren Petrarcas, trifft dann seinen Vater, mit dem er eine Kreuzfahrt unternimmt, damit der alte Herr endlich mal wieder unter Leute kommt. Im zweiten Teil Høst (Herbst) leidet er weiterhin unter dem Altern des Vaters, durchbricht dann aber die Reflexionsschleifen und seine Liebesschmerzlethargie, um in einem Anfall von Raserei von Bergen nach Oslo zu reisen, um dort dem neuen Liebhaber von Janne – so wird die junge Geliebte in Året genannt – auf der Straße aufzulauern und ihn niederzuschlagen. Doch als Janne ihrem neuen Liebhaber kurz vor dem geplanten Angriff entgegenkommt, bleibt der Erzähler in seinem Versteck:

„[D]er / kommer Janne jeg kjenner igjen luen og jakken / og måten å gå på det er like før jeg roper / til henne brøler / et varselrop / men jeg klarer å holde det inne / idet hun går ham i møte og omfavner ham / slik hun pleide å gå meg i møte / og omfavne meg. / I et plutselig blikk er det som å se / seg selv bli omfavnet / og i samme øyeblikk kjenner jeg en sympati / for ham / og den jeg var / da jeg var elsket.“ (S. 184)

(Dort / kommt Janne ich erkenne die Mütze und die Jacke wieder / und die Art und Weise zu gehen fast rufe ich / zu ihr brülle / einen Warnruf / aber ich halte ihn gerade noch zurück / weil sie ihm entgegengeht und ihn umarmt / wie sie mir immer entgegen ging / und mich immer umarmte. / Einen kurzen Moment ist es, wie wenn man / sich selbst sieht, wie man umarmt wird / und im gleichen Augenblick fühle ich eine Sympathie / für ihn / und für den, der ich war / als ich geliebt war.)

Diese plötzliche Einsicht des Erzählers am Ende des Buchs, dass sein Verhältnis zu Janne gar nicht einzigartig war, dass er in ‚dem Neuen’ den erkennt, der er einmal war, nämlich ein glücklich Liebender, und schließlich dass diese Überschneidung seine eigene Liebe zu Janne (in der glücklichen Vergangenheit und der unglücklichen Gegenwart) nicht entwertet, diese Einsicht wird durch das gesamte Buch vorbereitet.

So gilt etwa die Petrarca-Begeisterung des Erzählers, die ihn zu einer Pilgerfahrt auf den Spuren des Dichters führt, nicht dessen Literatur – oder zumindest nur mittelbar. Vielmehr erscheint ihm Petrarcas Entschluss nachahmenswert, sich nach dem Tod seiner Laura in das Dorf Fontaine-de-Vaucluse zurückzuziehen und dort der Erotik zu entsagen, um die Liebe zu Laura zu verewigen:

„Francesco Petrarca skriver: / Da jeg nærmet meg førtiårsalderen og ennå var i besittelse / av min ungdomskraft og ild brøt jeg så fullstendig / med driften at jeg slukket selve minnet om den og / det var som om jeg aldrig hadde sett på en kvinne“ (163).

(Francesco Petrarca schreibt: / Als ich mich den Vierzigern näherte und noch im Besitz / meiner Jugendkraft und meines Feuers war, brach ich so vollständig / mit dem Trieb, dass ich selbst die Erinnerung an ihn auslöschte und /es war, als ob ich nie eine Frau angesehen hätte.)

Petrarcas Schriften, die Canzoniere, De vita solitaria und Secretum, liest der Erzähler (berechtigterweise oder nicht) so wie seine eigenen Texte als Autofiktionen. Mit ihnen in der Hand denkt der Erzähler also darüber nach, ob eine ewige Liebe möglich sei, beziehungsweise ob man die Liebe zu einer Person nicht einfach zur ewigen erklären kann, um diese Erklärung dann performativ umzusetzen – ganz egal, ob der/die Geliebte gestorben ist (wie im Falle Petrarcas) oder ob er/sie einen verlassen hat (wie im Falle Espedals): „[K]jærligheten dør ikke / den fortsetter / nå elsker du en som er borte / og som du aldri vil få tilbake“ (S. 56 – Die Liebe stirbt nicht / sie geht weiter / jetzt liebst du eine, die weg ist / und die du nie zurückbekommen wirst).

Der Erzähler wandert also mit den Canzoniere in der Hand durch die ländliche Gegend um Avignon, doch nur um festzustellen, dass Petrarca auf seiner Besteigung des Mont Ventoux ebenfalls ein Buch dabei hatte, nämlich Augustins Confessiones, „som han [= Petrarca] alltid bærer med seg. / Han slår tilfeldig opp i boken / og leser for sin bror: Mennesket går / for å beundre de høye fjellene og de store elvene / og stjernenes bevegelser, men glemmer å utforske / seg selv“ (S. 51 – das er [= Petrarca] immer bei sich trägt. / Er schlägt es auf gut Glück auf / und liest seinem Bruder vor: Der Mensch geht umher / um die hohen Berge und die großen Flüsse zu bewundern / und die Bewegung der Sterne, aber vergisst sich selbst / zu erforschen). Was er nicht erzählt, aber beim Leser / bei der Leserin voraussetzen kann, ist das intertextuelle Echo, das Petrarca mit der Geste des zufälligen Aufschlagens einer Seite erzeugt. Denn eine der bekanntesten Stellen aus den Confessiones – also aus dem Buch, das Petrarca aufschlägt – erzählt gerade davon, wie Augustinus in einer Lebenskrise unter einem Baum in einem Garten sitzt und plötzlich eine Kinderstimme hört, die wiederholt „Tolle, lege!“ ruft, „Nimm und lies!“. Er versteht diesen nicht lokalisierbaren Ruf als Befehl Gottes, ein Buch aufzuschlagen und die Stelle zu lesen, die ihm als erstes in die Augen fällt. Als er dann schließlich genau dies mit den Paulusbriefen tut, findet er seine innere Ruhe. Er liest Römer 13, 13-14: „Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet den Herrn Jesus Christus an und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste“. Schon Petrarca imitiert also einen anderen und – so könnte man fortsetzen – auch Augustin imitiert bereits, weil er eine ähnliche Lesepraxis bereits vom heiligen Antonius, dem „Vater der Mönche“, kennt.

Diese Reihe der Imitationen in die Geschichte des frühen Christentums hinein motiviert denn auch die Wortwahl für die geplante Praxis der Verewigung der Liebesbeziehung: Nach drei Viertel des Buches bekennt der Erzähler gegenüber Cecilie Løveid und Agathe Simon, dass er sich dazu entschieden hat „for å leve i sølibat“ (S. 152 – im Zölibat zu leben). Und er motiviert diesen Rückgriff auf eine alte Praxis der Askese damit, dass er „har virkelig lyst til å oppleve noe nytt“ (S. 153 – wirklich Lust hat etwas Neues zu erleben).

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Dieses Oxymoron, dass das Alte Neuheitswert besitze, wird noch paradoxer, wenn man auf den zweiten Strang des plots achtet, die Auseinandersetzung mit dem alternden Vater. Denn der Anlass, dass der Erzähler seinen Vater mit einer gemeinsamen Kreuzfahrt aus der Verkrustung des Alters locken will, ist das Erschrecken darüber, dass sich ein für den Erzähler unerträglicher Rollentausch vollzieht:

„[J]eg tåler ikke å se / at min far blir mer og mer / hjelpeløs jeg tåler ikke å se / at min far er i ferd med å bli / min sønn. // Jeg tåler ikke å se at min far / er blitt avhengig av meg / slik jeg var avhengig av ham / da jeg var hans sønn [… J]eg er blitt […] en motvillig far for min far / som blir yngre og yngre / med årene“ (79).

(Ich ertrage es nicht zu sehen / dass mein Vater immer / hilfloser wird ich ertrage es nicht zu sehen / dass mein Vater dabei ist / mein Sohn zu werden. // Ich ertrage es nicht zu sehen, dass mein Vater / abhängig von mir geworden ist / so wie ich abhängig von ihm war / als ich sein Sohn war [… I]ch bin […] ein widerwilliger Vater für meinen Vater geworden / der jünger und jünger wird / mit den Jahren.)

In der Ausnahmesituation auf dem Kreuzfahrtschiff gewinnt der Vater tatsächlich an Lebensfreude und Agilität und schießt sogar über das Ziel hinaus; er ist laut und peinlich, er flirtet mit jungen Frauen. Doch der Erzähler muss feststellen, dass diese ‚Verjüngung’ den Rollentausch eher vorantreibt: „[J]eg blir svakere og svakere / og han blir sterkere / for hver dag som går / […]: Han kommer til å overleve meg / min far kommer til å overleve meg tenker jeg“ (S. 97-8 – [I]ch bin immer schwächer geworden / und er wird stärker / mit jedem Tag, der geht / […]: Er wird mich überleben / mein Vater wird mich überleben denke ich). Später baut Espedal den Postitionswechsel noch stärker aus: „Hvordan skal sønnen klare seg / uten sin far? / […] / Du som ville ligne din far / du ligner din far. / Er det derfor du er så rasende / så skuffet på vegne av dere begge?“ (S. 127-8 – Wie soll der Sohn er schaffen / ohne seinen Vater? / […] / Du, der du Deinem Vater ähneln wolltest / du ähnelst Deinem Vater. / Bist du deshalb so rasend / so enttäuscht über euch beide?) Und nach einer Flasche Gin und einer Flasche Vodka wird klar, dass sogar die Petrarca-Begeisterung eine Imitation des Vaters ist, eine Imitation von dem Verhältnis seines Vaters zu dessen Frau:

„Min Far har levd alene / i snart sytten år / uten kjærlighet / uten annen kjærlighet enn den / han fremdeles har til den døde. / Han har aldri klart aldri villet / treffen en annen kvinne / han har villet være sammen med den døde / så lenge han lever. / Han traff henne som femtenåring / og var sammen med den samme kvinnen / i åtteogførti år da hun levde / sytten år etter at hun var død / et livslangt kjærlighetsforhold / ikke ulikt forholdet Petrarca hadde til Laura / først den levende Laura / og siden den døde Laura“ (S. 129).

(Min Vater hat bald siebzehn Jahre / alleine gelebt / ohne Liebe / ohne andere Liebe als die / die nach wie vor zu der Toten hat. / Er hat es nie geschafft nie gewollt / eine andere Frau zu treffen / er will mit der Toten zusammen sein / so lange er lebt. / Er traf sie als fünfzehnjähriger / und war mit derselben Frau / achtundvierzig Jahr zusammen als sie lebte / siebzehn Jahre als sie tot war / ein lebenslanges Liebesverhältnis / nicht unähnlich dem Verhältnis, das Petrarca zu Laura hatte / zuerst die lebende Laura / und dann die tote Laura.)

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Man versucht, sich den großen Erfolg der „Wirklichkeitsliteratur“, wie sie im norwegischen Feuilleton genannt wird, damit zu erklären, dass das Lesepublikum die schonungslose Offenheit schätzt, mit der sich die Autoren und Autorinnen ausliefern – als ob man diese Autoren und nicht nur die Figuren selben Namens kennen würde. Offenbar besitzt der pubertäre Versuch, trotzig auf der eigenen Identität zu bestehen und jeden Patzer, jede Rüpelhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit damit zu entschulden, dass man eben so ist, wie man ist, nach wie vor Attraktion. Doch im Unterschied zu der einleitend zitierten Stelle geht es Espedal in Året nicht um ein tumbes Bestehen auf Authentizität, nicht um den ranzigen Trotz, dass man dazu stehe, wer man sei, weil man sich eben nicht losbekomme. Denn der Text scheint ja sagen zu wollen, dass wir uns in der Liebe (egal ob zum Vater oder zum erotischen Partner) nicht unsere gegenseitige Einzigartigkeit bestätigen, wie uns das Konzept der romantischen Liebe glauben lassen will; sondern dass wir gerade in den Momenten, in denen wir lieben, Positionen einnehmen, die älter sind als wir selbst. Gerade indem wir in die Serialität der Autoren, der Liebhaber, der Eltern und Kinder eintreten, reicht man an die Ewigkeit heran – scheint Espedal sagen zu wollen.

Genau deshalb heißt das Buch Året / Das Jahr. In der Abfolge der Jahreszeiten sieht Espedal diese Ewigkeit des Seriellen abgebildet: „Jeg ville gjerne skrive en bok om årstidene / vår høst sommer vinter/ […] og forandringene som gjentar det samme / altid på en ny måte“ (S. 9 – Ich wollte gerne ein Buch über die Jahreszeiten schreiben / Frühling Herbst Sommer Winter / […] und die Veränderungen, die dasselbe / immer auf eine neue Weise wiederholen). Da überrascht es nicht, dass sich letztlich alle Bücher Espedals gleichen und „dasselbe / immer auf eine neue Weise wiederholen“ („gjentar det samme / altid på en ny måte“).

Tomas Espedal: Året. Roman. Oslo: Gyldendal, 2016.
(Joachim Schiedermair, Greifswald)

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Christina Hesselholdt: Vivian (2016)

Buchcover Christina Hesselholdt VivianEin Interesse für Fotografie war schon in Christina Hesselholdts Debütwerk Køkkenet, gravkammeret & landskabet (1991) erkennbar, das sie zusammen mit den beiden Folgetexten der sog. Marlon-Trilogie zu einer der führenden Minimalistinnen der 1990er Jahre machte. Es überrascht daher nicht, dass sie in ihrem jüngsten Werk Vivian zur Fotografie zurückkehrt und dieser jetzt eine tragende Rolle gibt. Doch nicht nur in Bezug auf diese Thematik, sondern auch stilistisch und strukturell stellt dieser Text eine konsequente Fortsetzung von Hesselholdts bisherigem literarischem Projekt dar: Wiederum spielt die Erkundung der Kindheit und der Psyche eine große Rolle, wiederum sind ihre Figuren von Stummheit umgeben. Auch die ästhetischen Mittel sind in ihren vorhergehenden Werken bereits erprobt worden: Die fragmentarische Form und der mosaikartige Aufbau charakterisierten u.a. das autobiographische Buch Hovedstolen (1998), das Dialogische bestimmte die Struktur von Eks (1995) und ihrer jüngsten Serie über Camilla (2008-2012). Eine völlig neue Dimension bekommen die charakteristischen Mittel Hesselholdts, die bislang überwiegend autobiographisch fundiert waren, aber durch ihre Anwendung auf eine reale Biographie: die Lebensgeschichte Vivians Maiers.

»Vivian er en roman om den amerikanske gadefotograf Vivian Maier (1926-2009)« (Vivian ist ein Roman über die amerikanische Straßenfotografin Vivian Maier (1926-2009)), lautet der lakonische Klappentext auf der Rückseite des Buches. Der durch ihre Lebensgeschichte vorgegebene Stoff ist mehr als einen Roman wert: Allein der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über Maier enthält 7500 Wörter und 80 Fußnoten und bietet neben vielen Fakten auch Rätsel und Kontroversen bezüglich des Lebens und des Werks von Maier. Sie war die Tochter einer französischen Mutter und eines aus Österreich stammenden Vaters und wuchs in New York auf; einige Jahre ihrer Jugend verbrachte sie in Südfrankreich, im späteren Leben wohnte sie überwiegend in Chicago. Die Familienverhältnisse waren schwierig und von Armut geprägt, der Vater war Alkoholiker und verließ die Familie, als Vivian noch ein kleines Kind war; ihr jüngerer Bruder hatte zeitlebens mit psychischer Krankheit und Drogenproblemen zu kämpfen. In den 1940er Jahren begann Vivian Maier zu fotografieren, und bis zu ihrem Tod entstanden – so schätzt man heute – ungefähr 150.000 Fotografien, die vor allem das städtische Leben in New York und Chicago dokumentieren: Menschen, Gebäude, Alltagsszenen, spielende Kinder und auch eine Vielzahl ausdrucksvoller Selbstporträts. Als bedeutende Vertreterin der sog. street photography wurde Maier jedoch erst nach ihrem Tod entdeckt, vorher hatte niemand ihre Bilder zu Gesicht bekommen. Ein sehr großer Teil der enormen Zahl ihrer Fotos war nicht einmal entwickelt worden: Bei einer Zwangsversteigerung im Jahre 2007 wurden die bislang unbekannten Filmrollen entdeckt und 2008 erstmals zugänglich gemacht. Seitdem hat es etliche Werkausstellungen gegeben, eine rege Maier-Forschung, aber auch umfassende Rechtsstreitigkeiten über den Nachlass und künstlerische wie finanzielle Kontroversen über die Vermarktung des Werks.

Der letztgenannte Aspekt liegt außerhalb des Fokus von Hesselholdts Darstellung. Sie interessiert sich auch kaum für die technischen Seiten der Fotografie, Maiers Kameras, ihre ästhetische Entwicklung (während der überwiegend Teile ihrer Bild Schwarz-Weiß- Fotografien sind, arbeitete sie in späteren Jahren auch mit Farbe) oder ihre Experimente mit Licht, Spiegeln oder Bildbegrenzungen. Ihr Interesse liegt eindeutig auf der biographischen Darstellung, die aus einem Mosaik von Stimmen hervorgeht, in dem neben der Hauptfigur Vivian u.a. ihre Mutter, eine Tante, die Fotografin Jeanne Bertrand, bei der Mutter und Tochter zeitweise gewohnt haben, eine Rolle spielen. Durch die Zersplitterung der Annäherung entsteht ein Bild von Maiers Leben, das das Vielschichtige und Enigmatische ihrer Persönlichkeit mit den vielen Namen (Viv, Vivian, Kiki, Miss Maier, V. Smith) zu bewahren versucht. Großen Raum in dem mehrstimmigen Szenario erhält die fiktive Familie Rice (Peter, Sarah und die Tochter Ellen), die für eine der Familien steht, bei denen die reale Vivian Maier als Kindermädchen arbeitete. Über viele Jahre hinweg bestritt die Einzelgängerin so ihren Lebensunterhalt: Mit geringem Einkommen, aber in gutsituierten Familien lebend, verbrachte sie ihre Tage mit deren Kindern, was ihr erlaubte, die Stadt zu durchstreifen und unablässig zu fotografieren. So sammelte sie Gesichter, Situationen, Porträts, Stadtbilder und Armutsszenen, aber sie sammelte auch alte Zeitungen, Quittungen, Koffer, Schachteln, Nippes und Gerümpel, sie war offenbar, wie man heute sagen würde, ein Messi und umgab sich mit einer Fülle von Gegenständen, unter denen eben auch ihre Bilder und unzähligen Filmrollen waren.

Vivian Maier tritt als eine schwierige Persönlichkeit hervor, die sicher kein ideales Kindermädchen, keine Mary Poppins war (S. 30). Ihr Leben wird nicht chronologisch dargestellt, es gibt immer wieder Vor- und Rückgriffe. Ein Schwerpunkt des in drei Teile gegliederten Romans liegt auf der Kindheit der Porträtierten. Der weitaus längste erste Teil verwebt Stimmen aus der Kindheit mit der Zeit als Kindermädchen der Familie Rice. Manche der Stimmen, z.B. die von Sarah Rice, werden so ausführlich repräsentiert, dass auch ihr Leben beleuchtet wird. Im zweiten Teil wird die Fotografin Jeanne Bertrand eingeführt und die Zeit der Kinderjahre in Frankreich fokussiert. Im kurzen letzten Teil des Buches tritt dann die Erzählerin in den Vordergrund, die einen Dialog mit Vivian führt. Sie stellt eine der vielen Stimmen des Romans dar, die manchmal kommentiert, Hintergründe erklärt und Bruchstücke zusammenfügt: »Og nu et mægtigt spring frem til 1968.« (S. 13; Und jetzt ein mächtiger Sprung vorwärts in das Jahr 1968). Sie ergänzt Informationen zur politischen und sozialen Situation in den USA, rückt einzelne Äußerungen der anderen Stimmen zurecht und greift gelegentlich auch ironisierend ein.

Die Erzählerstimme macht auch die Motivation für das Romanprojekt insgesamt deutlich, sie fügt also dem Text eine selbstreflexive Dimension hinzu. Deutlich wird der Anlass für das Interesse an Maier durch eine Ausstellung in Dunkers Kulturhus in Helsingborg motiviert, die im Frühjahr 2016 stattfand und das fotografische Werk erstmals in Skandinavien präsentierte. Während die Erzählstimme erklärt, sie sei nicht an der fotografischen Technik interessiert (»forvent ikke ord som eksponeringstid mørkekammer kontaktark fra min mund«, 38; erwarte keine Wörter wie Belichtungszeit Dunkelkammer Kontaktabzug aus meinem Mund), ist das von Roland Barthes inspirierte »det-har-været-følelse« (126; so-ist-es-gewesen-Gefühl) ein sie antreibender Ausgangspunkt. Skeptisch gegenüber der Statik des Objekts, die das Medium zur Darstellung bringt, und gegenüber der Endlichkeitserfahrung, die von der Fotografie ausgeht, nähert sie sich dieser Fotografin und ihrem Werk an. Viele ihrer Bilder werden ekphrastisch aufgerufen, sie lassen sich bei Kenntnis des Werks problemlos wiedererkennen (vgl. eine Auswahl der Bilder auf www.vivianmaier.com), d.h. die verbale Repräsentation evoziert nachvollziehend den Gegenstand des Fotos, doch der künstlerische Gehalt des fotografischen Werks wird dabei vernachlässigt.

Der Dialog zwischen Viv und der Erzählerin im letzten Teil des Romans ruft den alten Wettstreit der Künste wieder wach, den die Erzählerin zugunsten der Sprache entscheiden möchte: »et fotografi kan ikke gribe hele den menneskelige Tilstandsform, men det kan skrift« (128; eine Fotografie kann nicht die gesamte Zustandsform des Menschen ergreifen, aber das kann Schrift). Dem Bildmedium fehle die zeitliche Dimension, so die Erzählerin von Hesselholdts Roman, die allerdings auf Vivians Frage, warum sie überhaupt nicht über die Komposition der Bilder spreche, keine rechte Antwort weiß (187). Ihre Meinung ist: »Kun det der fortæller kan få en til at forstå den omskiftelighed som er liv« (129; Nur das, was erzählt, kann einen dazu bringen, die Veränderlichkeit zu verstehen, die das Leben ausmacht). So ist es kein Wunder, dass der ästhetische Wettstreit im letzten Teil des Buches dann wieder einmündet in die dominante psychologische Ebene, der Hesselholdts Interesse vorrangig gilt – der Roman schließt mit einem imaginären Treffen von Vivian und ihrem in einer psychiatrischen Anstalt lebenden Bruder. Weder der soziale Kommentar der street photography noch – das vermag zu erstaunen – die vielen bedeutsamen Selbstporträts der Fotografin haben die Autorin herausgefordert, diesen Roman zu schreiben, sondern für sie ist Vivian Maiers rätselhaftes Leben und Werk Ausdruck der unergründlichen menschlichen Psyche, die in der Kindheit angelegt wird. Doch läuft nicht die Ästhetik der Vielstimmigkeit, die gewählt wurde, um das Enigmatische des Lebens zu bewahren, der von der Erzählerin favorisierten narrativen und zeitlich ausgedehnten Repräsentation des Lebens gerade entgegen? Der Erzählverlauf besteht eher aus Schnappschüssen und gleicht damit der Fotografie, über die dieses Buch zu wenig Neues aussagt.

Christina Hesselholdt: Vivian. Roman. København: Rosinante, 2016.
(Annegret Heitmann, München)

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