Auf Entdeckungsreise – Sami Said: Människan är den vackraste staden (2018)

Sami Said hat sich auf dem schwedischen Buchmarkt längst etabliert: 2012 erschien sein vielbeachtetes Debüt Väldigt sällan fin (Ungeheuer selten schön) über das Ringen des verschlossenen Studenten Noha um eine Identität zwischen zwei Kulturen, Schweden und Eritrea. Presse und Medien hoben den knappen Schreibstil des Autors hervor, der in jedem Lesemoment überraschend, detailstark und oft witzig, aber auch spröde und unzugänglich wirkt. Da Said selbst aus Eritrea stammt, sahen viele in diesem biografisch inspirierten Erstling eine sprachlich neuartige Variante von Migrationsliteratur. Der nachfolgende Briefroman Monomani (2013) – eine Figur namens ‚Sami‘ schreibt eine Art Entschuldigung an seine wegen eines Buchprojektes vernachlässigte Mailfreundin ‚Sara‘ – wurde ebenso positiv aufgenommen. Erzählt wird in beiden Fällen aus der Ich-Perspektive, wobei die Protagonisten Noha bzw. ,Sami‘ ihr Lesepublikum nicht an die Hand nehmen; vielmehr zeichnen sich beide Figuren durch eine begrenzte Sicht sowie durch eine gewisse erzählerische Unzuverlässigkeit aus, bedingt durch ihre (jeweils unterschiedlich begründete) Isoliertheit, Unsicherheit und Überforderung im sozialen Miteinander. Es wäre jedoch zu kurz gedacht, das „Draußen-Sein“ der Ich-Erzähler als primär migrationsbedingt aufzufassen, wie einige überzeugende Rezensionen zeigen (darunter Antje Wischmanns Buchbesprechung zu Väldigt sällan fin).

Einfaches Schubladendenken würde dem reichen semantischen Potenzial von Saids Erzählkunst auch keinesfalls gerecht werden, was sich erst recht in dem sechs Jahre später folgenden Roman Människan är den vackraste staden (Der Mensch ist die schönste Stadt) zeigt. Dessen literarische Qualität wurde mit zwei wichtigen Preisnominierungen (2018 Augustpriset, 2019 Literaturpreis des Nordischen Rates) bedacht und 2019 mit Aftonbladets Literaturpris belohnt. Im Mittelpunkt der Handlung steht der illegale Flüchtling San Francisco, vermutlich somalischer Herkunft, der irgendwo zwischen Afrika und Skandinavien einem Platz sucht, an dem er willkommen ist. Die seltenen geografischen Hinweise lassen nur eine ungefähre Verortung des Geschehens zu, stattdessen werden die drei Romanteile von Figurenkonstellationen getragen: Der erste Teil „Inte mitt skep“ (Nicht mein Schiff) ist mit dem Massai ,Manni‘ verbunden, der für den schwedischen Pass eine Einheimische geheiratet hat, nun aber durch die Ehefrau und auch durch Arbeitgeber erniedrigt und ausgebeutet wird. Im zweiten Teil „Meteoriten“ (Der Meteorit) steht vor allem Richard ,Lejonhjärta‘ (Löwenherz), ehemals Hussain, im Fokus, der für seine Lebensziele den Weg der Anverwandlung von fremden Haltungen und Worten wählt. So möchte er beispielsweise die gehobene schwedische Gesellschaft mit antiislamischem Nationalismus und eine angehimmelte Frau mit Bonmots seines Freundes San Francisco erobern – für Letzteren ein Grund weiterzuziehen, zumal inzwischen klar ist, was ihm wirklich wichtig ist: „Mamma. Yei. Hela lyckan. Aldrig lilleman igen. Miljoner. San Francisco. Ett världspass. Aldrig hunger igen. Tio par skor. Yei.“ (Mama. Yei. Das ganze Glück. Niemals mehr ,kleiner Mann‘. Millionen. San Francisco. Ein Weltpass. Niemals wieder Hunger. Zehn Paar Schuhe. Yei. – 184, kursiv im Original). San Franciscos Wünsche nach dem „ganzen Glück“ vollenden sich in einer Art Utopie am Ende des dritten Teils „Vi vill ha frukten, inte trädet“ (Wir wollen die Frucht haben, nicht den Baum). Eine wichtige Rolle im dritten Teil spielt der genannte Yei, bester Freund und liebenswerter Halbkrimineller mit einer traumatischen Vergangenheit, den San Francisco auf einer Insel im Atlantik wiedertrifft. Wie es zu dem Spitznamen Yei (statt ursprünglich Malik) kam, erfährt man nicht. Denkbar wäre eine Anspielung auf eine Stadt im Süd-Sudan, aber auch auf den gleichlautenden japanischen Mädchennamen, zu deutsch ,blühend‘ – ein passendes Adjektiv für die wahnwitzigen Einfälle und die mädchenhafte Schönheit des Freundes, der zuweilen auch ,Wendy‘ oder ,Sötnos‘ (Herzchen) genannt wird. Yei wiederum wählte für seinen Freund, der eigentlich Ahad heißt, den Spitznamen San Francisco aus, weil dieser sich eine Zukunft in Amerika erträumt. Aufgrund der engen Freundschaft zwischen San Francisco und dem androgynen Yei ist man versucht, an die gleichnamige kalifornische Metropole mit ihrer weltbekannten LGBT-Szene als heimlichen Sehnsuchtsort des Protagonisten zu denken, und tatsächlich wird die Stadt gelegentlich im Text genannt (so etwa im oben angeführten Zitat). Doch auch andere Reiseziele sind im Gespräch, zudem gibt es keine expliziten Hinweise auf die sexuelle Orientierung der beiden Freunde. Stattdessen erfährt man, dass eine Sternenkarte irgendwo in einem afrikanischen Bushäuschen einst den Ausschlag für den ,Leitstern‘ Amerika als allgemeines Reiseziel gab. Sterne, Mond und Universum sind wiederkehrende Symbole im Roman, dessen Umschlagbild folgerichtig ein Sternenhimmel ziert. Zugleich lässt sich der ,Griff zu den Sternen‘ als Metapher interpretieren, denn San Francisco ist Idealist, er denkt ,groß‘ und über alle Grenzen hinweg – doch dazu später mehr.

Es lässt sich feststellen, dass die eingangs genannten Merkmale der zwei Vorgängerromane auch hier zutreffen: Die Handlung wird getragen vom Ich-Erzähler San Francisco, der sich als „pålitligt opålitlig“ (zuverlässig unzuverlässig – 13) beschreibt. Er ist ein einsam Suchender im Schatten der Illegalität, der seine Erlebnisse und Überlegungen überwiegend nur anskizziert, nicht erklärt; die augenzwinkernde Ironie macht die Lektüre zwar zu einem großen Vergnügen, verschleiert aber das Textverständnis oft zusätzlich. Der Zusammenhang vieler Informationen, die alle relevant zu sein scheinen, erschließt sich, wenn überhaupt, erst im Nachhinein. Das gilt nicht zuletzt für die Dialoge, denn im Gegensatz zu den anderen Figuren haben San Franciscos eigene Repliken keine Anführungszeichen; somit wird nicht immer deutlich, ob er gerade spricht oder denkt.

Doch wie bei Said üblich, folgt auch hier die Form dem Inhalt: Dass die Leser im Unklaren gelassen werden, spiegelt beispielsweise die Orientierungslosigkeit illegaler Flüchtlinge auf der Sprachebene, wie viele Rezensenten erkannt haben, darunter Mats Kolmisoppi: „[D]en dallrande språkridån är en viktig del i en medveten poetik som vill försätta läsaren i ett tillstånd av förhöjd förvirring. Att det är svårt att veta vilken sida om gränserna man befinner sig på spelar ingen roll för den som är på väg, människorna i romanen är ändå inte önskvärda någonstans.“ (Der zitternde Sprachvorhang ist ein wichtiger Teil in einer bewussten Poetik, die den Leser in einen Zustand erhöhter Verwirrung versetzen will. Dass es schwer ist, zu wissen, auf welcher Seite der Grenzen man sich befindet, spielt keine Rolle für denjenigen, der unterwegs ist, die Menschen im Roman sind dennoch nirgendwo erwünscht. – in: „Ett tillstånd av förhöjd förvirring“ / Ein Zustand erhöhter Verwirrung, Göteborgs Posten, 20.09.2018)

Durch diese Verwirrung entsteht aber auch ein Zuwachs an Deutungsmöglichkeiten, den man als Plus verbuchen könnte. Manche*r Lesende fühlt sich vielleicht gerade deshalb ,abgeholt‘, weil auf diese Weise den Assoziationen freien Lauf gelassen und ein ganz eigener Zugang zum Geschehen gefunden werden kann. Und damit wäre man ganz auf einer Linie mit San Francisco:

Denn Saids dritter Roman entwickelt sich in eine völlig andere Richtung als seine beiden Vorgänger, weil die Figur San Francisco aus ganz anderem Holz als Noha oder ,Sami‘ geschnitzt ist. Er ist nicht kontaktscheu und kämpft auch bei unvorhergesehenen Ereignissen nicht um Kontrolle und Abgrenzung, sondern geht offen und lernbereit auf seine Mitwelt zu. Wo irgend möglich, sucht er Kontakt und Austausch, inklusive Selbstgespräche und ,Dialoge‘ mit Pflanzen, Tieren und unbelebten Gegenständen. Seine leicht ironische Neugierde auf die Umwelt grenzt gelegentlich an Leichtsinn, etwa wenn er sich an eine Gruppe maskierter Rechtsradikaler wendet, die ein Einwandererghetto besetzen wollen und deshalb an der Fassade eines Gebäudes hochklettern, um eine Flagge zu hissen:

„Får vi gå med? Vi är som ni. Insisterar ni tar vi på oss masker fast vi är snyggare utan. Förresten, vad är poängen med flaggan? Det har jag aldrig begripit. Måste man dra med hela stammen upp till toppen för att det ska räknas? […] Stick, sa de med händerna och uppblåsta bröst.“ (245/246)

(Dürfen wir mitgehen? Wir sind wie ihr. Wenn ihr darauf besteht, setzen wir Masken auf, obwohl wir ohne hübscher sind. Übrigens, was ist eigentlich der Sinn der Flagge? Das habe ich nie begriffen. Muss man mit dem ganzen Stamm [= hier: Volksgruppe] bis zur Spitze hinaufziehen, damit es gilt? […] Hau ab, sagten sie mit den Händen und geschwollener Brust.)

Auch wenn er also zuweilen keinen rechten Erfolg hat: San Francisco interessiert sich nicht für die rein theoretische Auseinandersetzung mit Geschichte und Kultur, sondern möchte Menschen, Orte und Ereignisse in ihrer vollen Bandbreite und Konkretheit erfahren. San Francisco versteht sich nämlich als „Entdeckungsreisender“ – ein tragendes Motiv des Romans, der in den Presserezensionen gern als „Robinsonade“ (Aftonbladet, 20.05.2019) bzw. „Odyssee“ (Dagens Nyheter, 20.05.2019) bezeichnet oder mit der Gattung des pikaresken Schelmenromans (Dagens Nyheter, 05.09.2018; Helsingborgs Dagblad, 20.09.2018) verglichen wurde. Ich halte diese literarischen Kategorisierungen jedoch für zu eng gefasst. Meiner Ansicht nach stellt gerade der Begriff der Entdeckungsreise – also die Erkundung von etwas bislang Unbekanntem in weitestem Sinne – den entscheidenden Schlüssel zur gesamten Machart des Romans dar, weil er neben der geografischen Komponente auch auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit sowie das weite Feld zwischenmenschlicher Beziehungen anwendbar ist. Jeden dieser Bereiche findet man im Roman vertreten, zudem nutzt San Francisco die Erforschung sinnlicher, phantastisch-assoziativer und (in Ansätzen) sprachpoetischer Erfahrungswelten, um seinen realen und idealen Zielen näherzukommen. So beschert beispielsweise eine (illegal durchgeführte) Nasen-OP dem zuvor ständig nach Luft Ringenden eine bislang unbekannte Form der synästhetischen Wahrnehmung, aber auch traurige Einsichten:

„Sträva, isiga, sjöblöta, illgröna, måsskitsvita kröp de [= lukterna] in under draperiet och uppför sängbenen. Man kunde inte värja sig. Jag tänkte att jag skulle behöva många nya ord. Jag tänkte att jag skulle återvända till platserna jag besökt för att uppleva dem på nytt. Eller hade jag ens varit någonstans? Addis, Khumis och Rom hade aldrig inträffat, inte som de egentligen var. En upptäcktsresande som aldrig steg ombord, skeppet gav sig av utan honom. Jag tänkte att jag inte skulle stå ut en sekund till. Jag hoppades att det var en tripp och att den snart var över.“ (129)

(Rauh, eisig, meeresfeucht, knallgrün, mövenscheißeweiß krochen sie [= die Gerüche] unter dem Vorhang hinein und die Bettfüße hinauf. Man konnte sich nicht wehren. Ich dachte, dass ich viele neue Worte brauchen würde. Ich dachte, dass ich zu den Orten zurückkehren sollte, die ich besucht hatte, um sie aufs Neue zu erleben. Oder war ich jemals irgendwo gewesen? Addis, Khumis und Rom waren niemals geschehen, nicht [so,] wie sie eigentlich waren. Ein Erlebnisreisender, der niemals an Bord ging, das Schiff legte ohne ihn ab. Ich dachte, dass ich [das] keine Sekunde länger aushalten würde. Ich hoffte, dass dies ein Trip war und dass er bald vorüber war.)

Die bildliche Sprache und die latente Rhythmisierung (dreimal „jag tänkte att jag skulle“) sind ebenso typisch wie die Satzstruktur, die einmal mehr verunklart, was eigentlich gemeint ist: Lässt sich der aktuelle Rausch nicht ertragen oder das Wissen um die unvollständige Erfahrung der bereits besuchten Städte? In jedem Fall deutet dieses Beispiel aber an, dass der Erzählstil des Romans mit dem Label „impressionistisch“, wie es Jenny Högström im Aftonbladet getan hat („Allt ljus på de osynliga“/Alles Licht auf die Unsichtbaren, 03.10.2018), streng genommen unzureichend beschrieben ist. Denn die Erzählung vollzieht sich nicht nur auf rein sensorischer Ebene, sondern fokussiert auch auf die komplexen Gedankenspiele ‚hinter‘ diesen Wahrnehmungen.

In Überforderung oder Resignation zu verharren, kann sich San Francisco aber nicht leisten. Sein Selbstbild als „Entdeckungsreisender“ ist bei allem Humor natürlich auch ein Euphemismus und Überlebens-Mantra im Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, was ihn stets von den anderen Flüchtlingen unterscheidet:

„Alltid ska de invända att det inte går, att man måste förhålla sig realistiskt till möjligheterna. Men hoppet då? Man måste väl få ha sina visioner. Jag kunde inte med dem länge till. Deras negativitet vägrade låta sig bevekas. Det gällde att sticka omeldelbart, innan de förändrade en.“ (91)

(Immer werden sie einwenden, dass es nicht geht, dass man sich gegenüber den Möglichkeiten realistisch verhalten muss. Aber was ist mit der Hoffnung? Man muss doch seine Visionen haben dürfen. Ich konnte nicht lange bei ihnen sein. Ihre Negativität weigerte sich, erweicht zu werden. Es galt, unmittelbar abzuhauen, ehe sie einen veränderten.)

Die aus realen wie imaginären Quellen gespeiste Entdeckungsreise San Franciscos bildet nämlich eine Art experimentellen geistigen Schutzraum, in dem Faktizität und Realismus um des Überlebens willen tatsächlich weniger Relevanz besitzen müssen als Fiktionalität und Idealismus – und dieser kreative Raum ist die Literatur, die wir hier lesen! Der teilweise verwirrende, quasi-autistische Erzählstil im Roman lässt sich somit nicht nur als Spiegelbild der erzwungenen Isolation illegaler Flüchtlinge (s.o.) verstehen, sondern gründet in allererster Linie auf der individuellen Lösung der Hauptfigur aus seiner Not. San Franciscos Talent zum ‚Groß-Denken‘ und ‚Quer-Denken‘ über alle Grenzen hinweg bildet die Grundvoraussetzung für die Stimmigkeit der gesamten Erzählung, inklusive der humanistischen Vision in der letzten Romanszene:

„Det kom inte plötsligt, det var inte ett av mina berömda infall. Det var en klarhet som hade växt fram ur allt jag sett och varit med om. […]

Jag sa, jag ska bygga en park precis här. Inte för att det är något särskilt med platsen. Eller just därför.

Jag sa, det ska bli den vackraste parken i världen. De ska komma från andra kontinenter för att besöka den. […]

Jag reste mig upp och knöt fast slöjan i en gren, som en flagga.

Ja sa, det är inte blommorna, det är inte buskarna. Det är inte skyskraporna eller folkvimlet heller. Det är du, jag och de vi känner. Människan är den vackraste staden.

Yeis blick.

Jag glömde vad jag skulle säga.

Syrsorna.“ (366/367)

(Das kam nicht plötzlich, das war keiner von meinen berühmten Einfällen. Es gab eine Klarheit, die aus allem erwuchs, was ich gesehen und erlebt hatte. […] Ich sagte, ich werde genau hier einen Park bauen. Nicht weil mit dem Ort irgendetwas Besonderes ist. Oder gerade deshalb. Ich sagte, dies wird der schönste Park auf der Welt. Sie werden von anderen Kontinenten kommen, um ihn zu besuchen. […] Ich stand auf und knotete den Schleier an einem Zweig fest, wie eine Flagge. Ich sagte, es sind nicht die Blumen, es sind nicht die Sträucher. Es sind auch nicht die Wolkenkratzer oder das Volksgewimmel. Du bist es, ich und diejenigen, die wir kennen. Der Mensch ist die schönste Stadt. Yeis Blick. Ich vergaß, was ich sagen wollte. Grillen.)

Die innertextuelle Komik zwischen der oben erwähnten Flaggenaktion durch Rechtsradikale und der hier nachgeahmten Geste mit einem muslimischen Schleier, durch die Polemik wie auch Pathos unterlaufen werden, ist ein weiteres Beispiel für Saids feinsinnige Textgestaltung. Abgesehen davon mutet die hier vorgestellte Park-Idee surreal an, wenn man bedenkt, dass die zwei Freunde gerade auf einem trockenen Feld unter einem Baum irgendwo in Afrika stehen, denn dorthin sind sie zurückgekehrt („tillbaka är det nya framåt“/zurück ist das neue Vorwärts – 356). Bemerkenswert erscheint neben der geplanten (und hier nicht zitierten) bescheidenen Umsetzung der symbolische Gehalt der Vision. Sie basiert auf San Franciscos Reiseerfahrungen („allem […], was ich gesehen hatte und wo ich dabei war“, s.o.), darunter besonders auf seinem Aufenthalt in einem halb zerfallenen Park im dritten Romanteil. In jenem ehemaligen „paradiesträdgård“ (Paradiesgarten – 287) hätte sich San Francisco nämlich unter der Ägide einer älteren verwitweten „Madam“, die den heimatlosen jungen Mann bei sich aufgenommen hatte, für immer einrichten können, dieses jedoch nur zum Preis der Selbstaufgabe. Nach der Entscheidung, sein Schicksal lieber in die eigene Hand zu nehmen, steht San Francisco erstmals zu seinem Geburtsnamen Ahad, einem der 99 Namen des Schöpfergottes Allah. Obgleich der Begriff Paradies nicht explizit fällt, lassen der zeitnahe Namenswechsel, der Neuentwurf des Parks in der oben zitierten Passage sowie ihr litaneiartiger Sprachduktus (viele Absätze werden mit „jag“/ich eingeleitet: ich sagte, ich dachte …) eine Art Paradieserzählung nach Vorlage des Korans oder auch der christlichen Bibel vermuten. Denn San Francisco/Ahad legte sich nie auf eine Religion fest. Betrachtet man die Szene jedoch im Licht der Fluchtgeschichte sowie der schon erwähnten Überschrift zum dritten Romanteil „Vi vill ha frukten, inte trädet“ (Wir wollen die Frucht haben, nicht den Baum), so ergibt sich ein differenzierteres Bild, wie ich abschließend mit einigen exemplarischen Überlegungen und Kurzverweisen auf das Alte Testament aufzeigen möchte:

Der Satz „Vi vill ha frukten, inte trädet“ stammt laut Sami Saids Quellenangabe aus einem ironischen Tweet des Hiphop-Sängers K’naan und kritisiert, allgemein gesprochen, das gedankenlose Sich-Bedienen am Ertrag von fremder Leute Arbeit. Auch San Francisco ließ sich lange von einem ,gemachten Nest‘ ins andere treiben. Insofern deutet der Satz als Überschrift des Romanteils 3 (analog zu den weiter oben genannten Teilrubriken 1 und 2) einerseits eine weitere Sackgasse auf seiner Reise an, zu der die Episode im Park der Madam auch beinahe geriet. Andererseits ist im Zuge weltweiter politischer und sozialer Veränderungen und Krisen nicht nur der lockende Griff nach fremden„Früchten“ problematisch (wenngleich aus der Sicht eines Flüchtlings oft schiere Not dahintersteht), sondern auch das passive Ausharren in festgefahrenen Situationen und Strukturen; bewusst aus solchen auszubrechen, indem man vielfältige Erkenntnisse aus ihnen zieht – dieses Talent zeichnete den ‚Entdeckungsreisenden‘ San Francisco stets auf besondere Weise aus, wie bereits oben beschrieben. Und so erscheint es plausibel, die Überschrift nicht allein als ironische Warnung vor einem Irrweg, sondern im Gegenteil als durchaus ernst gemeinte Forderung und Ausweg zu interpretieren: nämlich im Sinne einer gegen den Strich der alttestamentarischen Moral gelesenen Missachtung des göttlichen Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,16-17), um auf diese Weise aktiv aus der erzwungenen Unmündigkeit und Perspektivlosigkeit in einem fremdbestimmten ,Paradies‘ auszubrechen. Diese Lesart wird speziell durch die Schilderungen des alten Parks, aber auch von der Reise als Ganzes gestützt. Zu San Franciscos wesentlichsten Erträgen aus dem symbolischen Biss in oftmals saure ,Äpfel‘ gehören seine Erfahrungen mit kategorialen Zuschreibungen (Gut/Böse, Richtig/Falsch … inklusive ihrer Relativität je nach Kontext) sowie das Erkennen und Akzeptieren eigener und fremder „Nacktheit“ (vgl. Gen 3,7) im weitesten Sinne menschlicher Fehlbarkeit, Sehnsucht und Bedürftigkeit.

Drastische Konsequenzen im Sinne einer schweren ,Schuld‘ nach biblischem Vorbild (vgl. Gen 3, ab Vers 14) bringt der Wille zum Erkenntnisgewinn jedoch nicht mit sich; das wäre angesichts der komplexen Überlebensanforderungen an einen Menschen ohne gültige Papiere auch nicht sinnvoll. Vielmehr erweisen sich die genannten Einsichten als existenziell notwendig auf der Suche nach „ett värdigt liv“ (einem würdigen Leben, 235) und schwingen folglich zwischen den Zeilen des Resümees in der letzten Romanszene mit, in der San Francisco/Ahad anhand seiner persönlichen kleinen ,Paradieserzählung‘ ein modernes Lebensideal entwirft, das ohne geografische oder kulturelle Verortung („Nicht weil mit dem Ort irgendetwas Besonderes ist. Oder gerade deshalb.“, s.o.) und auch jenseits aller ideologischer und hierarchischer Festschreibung funktioniert. Stattdessen rückt er mit der metaphorischen Quintessenz „Människan är den vackraste staden“ – der Übertragung der „schönsten Stadt“ (angelehnt an frühere Reiseideen) auf das neue Lebensziel Mensch – elegant und beinahe beiläufig die menschliche Kernbeziehung ins Zentrum, deren einfacher Anspruch in der globalen Realität eigentlich selbstverständlich und doch oft utopisch erscheint: sich vorbehaltlos zu öffnen und einzulassen auf das konkrete Gegenüber in seiner ganzen Schönheit, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Und das gilt vor allem, wenn es sich um einen geliebten Menschen handelt. Denn obgleich es, wie im ganzen Roman, so auch in dieser Park-Idee um die Offenheit gegenüber allen Menschen geht (s.o.), deutet sich im Verhalten der zwei jungen Männer in den letzten Sätzen des Buches nun doch zum ersten Mal ihre Liebe zueinander an. Das Erkennen von Sexualität und Begehren kann aber in San Franciscos/Ahads humanistischem Denken gerade nicht zu sündhafter Scham und Vertreibung nach biblischem Vorbild führen. Vielmehr bildet die Lebensgemeinschaft der beiden das Fundament der Paradiesvision, in der sich die kosmopolitische, von kultureller und sexueller Freiheit getragene Idee eines perfekten Lebensortes konkretisiert, die der Spitzname San Francisco in Anlehnung an die kalifornische Weltstadt immer schon latent anklingen ließ.

Sami Said: Människan är den vackraste staden. Natur & Kultur: Stockholm, 2018.

(Angelika Gröger, Greifswald)

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Doppelbödige Melancholie: Per Petterson: Menn i min situasjon (2018) („Männer in meiner Situation“)

Per Petterson Cover

Per Petterson, dessen 2012 erschienener Roman „Jeg nekter“ („Nicht mit mir“) schon auf „Neues Lesen“ vorgestellt wurde, ist einer der bekanntesten norwegischen Autoren. Er hat in Deutschland zwar nicht die Popularität wie der viel gespielte Theaterautor Jon Fosse und nicht den Star-Appeal des kometenhaft aufgestiegenen Karl Ove Knausgaard. Doch Petterson hat ein großes Lesepublikum, er wurde immerhin in über 50 Sprachen übersetzt und hat bedeutende literarische Preise erhalten. Seinen internationalen Durchbruch erlangte er mit „Ut og stjæle hester“ („Pferde stehlen“), für „Jeg forbanner tidens elv“ („Ich verfluche den Fluss der Zeit“) bekam er 2009 den angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats. Sein neuestes Buch „Menn i min situasjon“ („Männer in meiner Situation“), das im vergangenen Herbst sechs Jahre nach seinem letzten Roman publiziert wurde, wird im August 2019 in Deutschland erscheinen. In Norwegen wurde er von der Kritik begeistert aufgenommen.

Der Ich-Erzähler ist wiederum die schon aus vielen anderen Texten bekannte Alter-Ego Figur des Autors, Arvid Jansen. Die autobiographischen Anspielungen ergeben ein von Roman zu Roman dichter werdendes Netz, sowohl auf die Lebenssituation Pettersons als auch auf vorherige Werke verweisend. Das betrifft einerseits die Herkunft aus dem Arbeiterviertel Veitved, die einschneidenden Ereignisse des schon in „I kjølvannet” („Im Kielwasser“) thematisierten Schiffsbrandes, bei dem Petterson seine Eltern und einen Bruder verlor, und die Lebenssituation als Schriftsteller; andererseits Bezüge auf den zur erzählten Zeit im Entstehen begriffenen Roman („Det er grejt for mig“/„Ist schon in Ordnung“) oder aus anderen Texten bekannte Figuren, wie den Jugendfreund Audun. Ein humorvolles Detail stellt in diesem sonst so traurigen Roman das Wiedersehen mit der Hauptfigur aus „Pferde stehlen“ dar. In diesem Roman hat Trond Sander einen Kurzauftritt als Ersthelfer nach einem Autounfall.

Trotz dieser autobiographischen Fundierung widersetzt sich der Roman dem gegenwärtigen Trend zur Autofiktion, zum einen weil vieles im Dunkeln bleibt oder dem Leben des realen Autors nicht entspricht, zum anderen weil es nicht darum geht, das eigene Leben im Detail nachzuzeichnen, sondern ein Lebensgefühl und ein Zeitbild zu evozieren, das Allgemeingültigkeit beansprucht.

Die Handlung setzt im Herbst 1991 ein und erstreckt sich bis zum Frühjahr des nächsten Jahres. Ein prologartiges Kapitel gibt einen Vorausblick in den Herbst 1992, und eine Episode, die vier Jahre später stattfindet, schließt den Roman ab. Die Chronologie wird allerdings immer wieder aufgebrochen durch eine Vielzahl von Rückblicken, aber auch Gedanken, Träumen und undatierbaren Ereignissen, so dass der Eindruck von einer gleitenden bzw. entgleitenden Zeit entsteht, die der Thematik des Verlassenwerdens entspricht. Die Hauptfigur hat ein Jahr zuvor bei einem Schiffsunglück seine Eltern und zwei Brüder verloren, nun verlässt ihn seine Frau. Zunächst verbringt er noch jedes zweite Wochenende mit seinen drei Töchtern, doch nach einem selbstverschuldeten Autounfall endet auch der recht enge Kontakt zu den Kindern. Arvid verbringt nun seine schlaflosen Nächte mit Autofahrten, Kneipen- und Barbesuchen in Oslo und kurzfristigen Frauenbekanntschaften. Nichts davon kann seine Einsamkeits- und Entfremdungsgefühle unterbrechen, der Schmerz über das Verlassensein wiegt schwerer als Hilfsangebote, die er durchaus erfährt – von Frauen, die er trifft, von einem Jugendfreund und von einer Nachbarin. Gesteigert wird die Entfremdung durch die Entfernung von seinem Herkunftsmilieu; aufgewachsen in einer Arbeitergegend, fühlt er sich fremd in seinem gegenwärtigen Dasein als Schriftsteller und Intellektueller. In seinem eigenen Unglück gefangen und unfähig zur Kommunikation, erkennt er nicht die Hilferufe seiner ältesten Tochter und seiner Ex-Frau, die an ihn gerichtet werden. Sie stehen am Anfang und Ende des Romans, erfahren aber weder eine Begründung noch eine mögliche Lösung, da die Perspektive auf die Sicht Arvids begrenzt ist. Sein Empfinden von Einsamkeit und Fremdheit führt zu einer Art Egozentrik und Unfähigkeit, sich anderen Menschen zu nähern und mit ihnen zu kommunizieren. Da er über seinen Trübsinn nicht sprechen kann, wird er unfähig zur Kommunikation über die Sorgen anderer, wie vor allem seiner Tochter: „og hele tida hadde jeg følelsen av at det var noe hun ville ha sagt meg, men så sa hun ingenting. Kanskje var det vanskelig å komme i gang, kanskje ble hun sjenert, men det var ikke noe jeg kunne gjøre for å hjelpe henne. Jeg kunne ikke spørre og grave.” (”und die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie mir etwas sagen wollte, aber sie sagte nichts. Vielleicht war es schwierig anzufangen, vielleicht war es ihr peinlich, aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich könnte nicht fragen und graben.”)

Durch den im Romantext mehrfach wiederholten Titel „Männer in meiner Situation“ soll diese Kommunikationsproblematik möglicherweise geschlechtstypisch gedeutet werden, ebenso wie der Versuch, existentielle Einsamkeit durch Autofahrten, Alkohol und one-night-stands zu übertünchen. Aus diesen Schilderungen der nächtlichen Streifzüge entsteht nicht zuletzt ein Bild der Großstadt Oslo in den frühen 90er Jahren. Die vielen detaillierten Nennungen von Straßen, Plätzen und Bars bringen allerdings nur für die ortskundigen Leser und Leserinnen die intendierte Konkretheit hervor. Anschaulicher werden die auch in diesen Oslo-Roman eingestreuten Naturszenen, die – wie auch in anderen Petterson-Romanen – eine sinnliche Wahrnehmung und Nähe evozieren, die allerdings jeweils nur von kurzer Dauer ist und somit die Melancholie und Einsamkeit unterstreicht. 

Schwermut und Trübsinn charakterisieren die Gefühlswelt des Ich-Erzählers und damit den Roman als Ganzen. Die Melancholie des Textes wird nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch hervorgebracht. Petterson erreicht das durch die für seinen Stil typischen syntaktischen Retardierungen, seine langen, mäandernden Sätze, deren unzählige Einschübe langsames Lesen einfordern und daher Statik und fehlende Teleologie performativ hervorbringen. Damit entsprechen sie dem Zeitgefühl, das der Roman transportiert. Die Kapitel folgen zwar einer Chronologie, aber durch viele Rückblicke und zum Teil unklare zeitliche Situierung wird der Eindruck von Stagnation hervorgerufen. Insofern spiegelt die Zeitstruktur des Romans die depressive Gestimmtheit des Erzählers, denn Depression zeichnet sich nicht zuletzt durch das Erleben von Stillstand und Zukunftslosigkeit aus. Auch die fehlende Plotorientierung entspricht dem Empfinden von Stagnation und Hoffnungslosigkeit.

Die möglichen Ansätze zur Narration, die in der Hinwendung zur Geschichte der Ehefrau liegen könnten, die am Romananfang angedeutet wird, oder der der Tochter, die das Romanende bestimmt, werden vom auf sich selbst bezogenen Ich-Erzähler nicht weiterverfolgt und bleiben daher auch den Lesenden verborgen. Insofern bleibt auch das Ende des Romans offen, sowohl was die Zukunft der Tochter Vigdis als auch die des Erzählers betrifft. Indem aber diese möglichen anderen Geschichten als Rahmung des Romans hinzugefügt werden, relativiert sich das Leid des Erzählers und deutet auf andere Perspektiven, auf das Leiden der anderen, das er nicht erkennt und als Erzähler nicht weiter verfolgt. Die Lage des Erzählers und von „Männern in seiner Situation“ ist durchaus von Traurigkeit, aber auch von Selbstmitleid bestimmt. Insofern ist Pettersons Melancholie doppelbödig.

Diese Doppelbödigkeit erklärt auch die leise Ironie, die manche Passagen des Buches prägt. Da die Erzählperspektive auf den Protagonisten beschränkt und die Thematik traurig ist, kann sie nie dominant oder deutlich werden. Doch die durchgehende Selbstbeobachtung des Erzählers, der sich im Café wie Hemingway fühlt („litt romantisk, klassisk forfatteraktig“ (95); „ein bisschen romantisch, wie ein klassischer Schriftsteller“) oder als Atheist in der Kirche nicht singen will, unterminiert seinen Trübsinn: „Men jeg kunne ikke synge. Jeg var ikke fri. Jeg følte meg observert, ikke av de andre i kirka […], men av Gud, som kunne se hvor falsk jeg var, hvor hyklerisk, når jeg sang salmene under byrden av tvil og samtidig påsto min hedninghet, og Gud lo da han så meg sitte der fortvila i benkeradene, og den ironiske latteren hans svei i hjertet, og jeg ble stum. Jeg kunne ikke synge.” (94-95) (”Aber ich konnte nicht singen. Ich war nicht frei. Ich fühlte mich beobachtet, nicht von den anderen in der Kirche […], sondern von Gott, der sehen konnte, wie falsch ich war, wie heuchlerisch, wenn ich Kirchenlieder sang unter einer Last von Zweifeln und gleichzeitig mein Heidentum behauptete, und Gott lachte als er mich verzweifelt dort in der Bankreihe sitzen sah, und sein ironisches Lachen brannte in meinem Herzen, und ich bleib stumm. Ich konnte nicht singen.“)

Die durchgehende Empathie, die der Roman kreiert, bekommt in solchen Passagen leichte Risse, eine Beobachtung zweiter Ordnung entsteht. Die gelegentlich aufblitzende Ironie lässt ein ausschließlich identifikatorisches Lesen nicht zu; als LeserIn wird man angeregt, den Kehrseiten der Melancholie nachzuspüren. Aus diesem Grund – und wegen seiner stilsicheren Prosa – vermag auch dieser Roman von Petterson, auch wenn es nicht sein bester ist, trotz eines fehlenden Plots zu fesseln.

Per Petterson: Menn i min situasjon. Oktober: Oslo, 2018.
(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

In Norwegen veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

„Stories to go – oder: Von Texten und Nachbarn“

Wie viel Literatur lässt sich in einem handlichem DIN-A5-Schuber unterbringen? Die Themenbox Grannar (Nachbarn) des Novellix-Verlages, der mit dem Slogan „Stories to go“ wirbt, bietet Erstaunliches (siehe https://novellix.se/produkt/grannar/).

Zunächst einmal sind neun sehr unterschiedliche Erzählungen versammelt, wobei der internationale Anspruch, der im gleichlautenden Nachwort jedes Heftes formuliert wird, vor allem durch jeweils einen dänischen, norwegischen, amerikanischen und einen kanadischen Text eingelöst werden soll, was einen eher traditionellen Zuschnitt verrät. World Literature wird hier zwar nur zögerlich in den Blick genommen, aber ein wichtiger Grundstein für ein Literaturen übergreifendes und wohl auch transkulturell tragfähiges Projekt könnte gelegt sein. Die Initiatorin und Herausgeberin der Box, die emeritierte Professorin Margareta Petersson, hat nämlich bereits zu postkolonialen Fragestellungen und zum Feld ‚Literatur und Globalisierung‘ geforscht. Sie zeichnet nicht nur für die Auswahl und das Arrangement der Kurzprosa verantwortlich, sondern geht mit der höchst geschätzten Künstlerin Karin Mamma Andersson, die das Coverdesign übernommen hat, dem Verfasser des Vorworts (Jan Gradwall, Journalist und Experte für Populärkultur), den jeweiligen Übersetzenden, nicht zuletzt den involvierten Agenten oder LektorInnen und den skandinavisch- wie englischsprachigen AutorInnen eine Produktionsgemeinschaft ein, auch wenn nicht alle diese Mitakteure namentlich genannt sind. Petterssons Nachwort, ebenso wie Gradwalls Vorwort sind in jedem der neun Hefte abgedruckt und heben zum einen die politische Botschaft hervor, die ethische Verpflichtung zur Fürsorge und zur Solidarität gegenüber Geflüchteten oder MigrantInnen wahrzunehmen. Petersson pointiert, dass soziale und räumliche Nähe bzw. Distanz nicht getrennt voneinander zu denken sind: „Alla är vi grannar med varandras liv.“ (Wir befinden uns ein Leben lang in der Nachbarschaft anderer Leben.) Gradwall betont zum anderen die Schicksalshaftigkeit solcher ‚Nachbar-Lebens-Beziehungen‘: Obwohl sich auf allen lebensweltlichen Gebieten eine Vielzahl an Wahlmöglichkeiten biete, sei eine Auseinandersetzung mit Nachbarn eine klare Notwendigkeit – und das Gelingen oder Scheitern nachbarschaftlicher Beziehungen sowohl gestaltbar als auch kontingent.

Doch warum hat das Team um Petersson nicht einfach eine Anthologie herausgegeben? Warum soll das Ensemble dekorativer Buchobjekte beweglich gehalten werden? Hierauf gibt es eine ambitionierte und zwei schlichtere Antworten.

Das Umschlagdesign mit den farbigen Holzschnitten entfaltet ein reiches Eigenleben, wie ich in meiner ersten Antwort veranschaulichen möchte. Die Titelbilder fordern dazu auf, die Texte in Relation zueinander zu setzen und verschiedene Varianten der Anordnung durchzuspielen, beispielsweise visuell oder inhaltlich, auf die AutorInnen, Nationalliteraturen oder die jeweils problematisierte Facette von Nachbarschaft bezogen. Jede mögliche Reihenfolge kann dabei suggestive Kraft entwickeln.

Auf der Vorderseite der Box sind die Beitragenden in alphabetischer Reihenfolge der Vornamen (!) genannt, von Aris Fioretos bis Merethe Lindström. Auf der Rückseite finden sich in zwei Reihen übereinander alle Titelbilder en miniature, so dass – in Leserichtung – mit der alltagsfantastischen Geschichte über eine Drachenhöhle (sprich: eine Stockholmer Baustelle mit Untiefen) von Augustin Erba (2017) begonnen werden sollte, und die Versöhnung eines intergenerationalen Mieterstreits bei Kjell Westö (2012) das Happy End bildet.

Für meine Rezension wurde versuchsweise eine Farbskala durchgespielt (siehe oben), was bekanntlich als Anordnungsprinzip für Bücher meist mit verächtlichem Spott bedacht wird. Ordnet man jedoch die Cover von den Pastelltönen bis zu den erdigen, rotbraunen und sattschwarzen Farben an, treten unmittelbar eigensinnige Bezüge hervor: von den Baumstämmen in den schwefelgelben jütischen Sumpfgebieten bei Josefine Klougart (2017) zu den Extremitäten des Pudels, der in Lydia Davis Erzählung „Our strangers“ (1983) einen Kontakt zwischen isolierten Nachbarn herstellt. Die Hand des geheimnisvollen Mitschülers J., die sich über dessen unlesbare Palimpsest-Schrift legt (Fioretos‘ Text), verweist auf die Klaue des Leguan-Drachens. Die laut abgespielten LPs auf dem Westö-Cover sind zwar Anlass eines Konflikts, für den jungen einsamen Mann in Helsinki stellt die Musik aber ein ähnlich lebensintensivierendes Element im Weltverhältnis dar, wie der hohle, angeblich singende Stein für die Protagonistin in Elsie Johanssons Erzählung (2017). Der Kimono, Requisit aus Kim Thuys Kurztext (2017), spiegelt sich in einer Szene in einer Fensterscheibe, während die Trägerin dieses Kleidungsstücks sehnsuchtsvoll in die erleuchteten gegenüberliegenden Fenster blickt und glaubt, mit ihrem imaginären Geliebten in Kontakt zu treten. Die gesamte Serie führt – entlang meiner Farbskala – von der Kindheit (Klougart) bis zum Tod (Lars Norén): Das Maskengesicht auf dem Titelbild von Noréns Erzählung „De sista rummen“ (Die letzten Räume) verallgemeinert die Demenz der Figuren A, B und C, die auf einer Pflegestation ihre mühsame Konversation pflegen, wodurch überindividuelle, möglicherweise gar anthropologische Konstanten in den Blick geraten. Menschen bleiben, wie die Herausgeberin betont, auf ihre Nachbarn angewiesen, wodurch jegliche Autonomiekonzepte effektvoll in Frage gestellt werden. Gerade solche Aspekte sind für eine Nationalliteraturen übergreifende Diskussionsanregung voraussichtlich besonders wertvoll, auch wenn transnationale literarische Bezüge in Peterssons Projekt nur eine unausgesprochene Zielsetzung sind.

Hat man den Fokus auf Requisiten, Motive und Figuren ausprobiert, fällt die besondere Stellung der beiden Landschaftsdarstellungen auf den Covern von Klougarts und Lindströms Kurztexten ins Auge: Das dänische Beispiel („Regn“/‚Regen‘, übersetzt von Johanne Lykke Holm ins Schwedische übersetzt) und das norwegische („Ødelagte byer“/‚Zerstörte Städte‘, übersetzt von Urban Andersson) nutzen die Szenographie für eine atmosphärische Verdichtung, die insbesondere Klougarts Erzählung markant aus der Textsammlung heraushebt. Während sich Lindströms Lob der zufälligen Begegnung, deren Folgen unabsehbar sein können, in der Art der klassischen Short Story gestaltet, nämlich anhand der Figur eines ungarischen Trampers, der unverhofft zum Retter wird, öffnet Klougarts Text Perspektiven auf bohrende, existenzielle Fragen. Klougarts fragmentarische Familiengeschichte in Regn entfaltet (ähnlich sprunghaft und leerstellenreich dargeboten wie Thuys minimalistischer urbaner Schnappschuss in Hitomi) einen Sog des Niedergangs. Der Tod zieht sowohl in das aufgeweichte Terrain als auch in die unwirtlich gewordenen Stallungen und Häuser ein, er wurde durch die Verzweiflung eines Mädchens angekündigt, das die Bewohner des Nachbarhofes vergeblich um Hilfe gebeten hatte – und nicht zuletzt durch ein Gesicht aus Asche, das an diesem Tag auf dem Rahmen der Tür zu sehen war, dessen Schwelle das Mädchen trotz seiner Not noch nicht einmal übertreten durfte. Vielleicht begegnet den Lesenden dieses Aschegesicht in der antiken Totenmaske auf dem Norén-Cover wieder? Ein ganzes Spektrum zwischen Kontingenz und Willkür einerseits und Veränderlichkeit und Gestaltbarkeit des nachbarlichen Zusammenlebens scheint hier auf.

Impulse der Materialität

Nun zu den beiden offensichtlicheren Antworten, die Materialität und die Distributionsform betreffend. Die Titelangaben der Texte sind nicht auf den Coverseiten, sondern auf den Rückseiten zu finden, jeweils über den Kürzest-Leseproben (mit 200 bis 320 Zeichen). Den Front-Illustrationen wird also, in Verbindung mit der Nennung der AutorInnen, besonders nachdrücklich ein großer ‚Handlungsspielraum‘ zuerkannt.

Statt eine stabil verleimte Anthologie zu lesen, können die Rezipierenden von Grannar mit konkreten Prosabausteinen hantieren, die Texte aufeinander zu wachsen lassen, intertextuell verknüpfen oder sie wieder entzerren und ausbreiten, um möglicherweise auch weitere Texte, Filme oder Songlyrics über Nachbarn oder neighbourhood ergänzend in das Mosaik einzufügen. Die Herausgeber von Anthologien sehen dagegen eine sinnstiftende Lesereihenfolge vor, wobei sich die gewählte Reihenfolge aus interpretatorischen Vorentscheidungen und der antizipierten Rezeption ableitet.

Regn kann auch auf dem Smartphone gelesen werden und ist beispielsweise in der E-Book-Version 20 Kronen billiger (siehe https://novellix.se/produkt/regn-e-bok/). Mit Novellix‘ Leitspruch „Novellix – Litteratur i fickformat“ (Literatur im Taschenformat) ist die digitale Nutzung allerdings nicht unbedingt mitgemeint, auch wenn jedes Heft eine passgerechte Leseportion im Pendleralltag bietet, in der Warteschlange, an der Bushaltestelle oder beim Multitasking. Auch wenn eine doppelte Verwertbarkeit sowohl in den Digital- als auch den Printmedien gegeben ist, signalisieren das aufwändige Buchdesign und die hochwertige Verarbeitung (wichtig für die haptische Wahrnehmung), dass die konkreten Hefte ein Deutungsvorrecht beanspruchen. Die Lesezeit von maximal 20 Minuten ist kürzer als bei einem Reclam-Heft: Das Layout der ca. 30 Seiten pro Ausgabe ist nämlich wesentlich spatiöser, der Seitenrand der Novellix-Bände etwas breiter, weshalb die zweistündige ‚Ganzschriftlektüre‘ eines Reclam-Klassikers von über 100 Seiten nur mehr als medienhistorische Rarität erscheint.

Die Materialität beider Darbietungsformen unterscheidet sich demnach gravierend. Natürlich bietet auch das ‚digitale Buchregal‘ die Option, die Einzeltitel von Grannar selbst zu arrangieren oder ein Mosaik der Titelbilder zusammenzufügen, aber nur, wenn man die einzelnen Hefte in der digitalen Version separat kauft. Außerdem gibt die digitale Bibliotheksfunktion der Leseprogramme (z.B. Adobe Bookshelf) bzw. die Smartphone-App in der Regel Ordnungsprinzipien vor, die von den Lesenden zunächst überprüft werden müssen. Welche Gestaltungsmöglichkeiten gestattet ihnen das mediale Dispositiv hier zu? Ein spielerischer Zugang scheint (noch) erschwert.

Darüber hinaus offenbart sich der Zusammenhang der digitalen Einzelhefte den Käufern erst, wenn sie von der Existenz der Box und damit auch dem Projekt-Zusammenhang ‚Nachbarschaft‘ wissen. Also ist das physische Handeln mit den Heften sowieso erst dann wahrscheinlich, wenn man die komplette Box erworben hat.

Zweifellos sollen mit der Novellix-Serie mittels just dieser Materialität Sammlerinstinkte angesprochen werden. In der Buchhandlung und zu Hause lassen die unterschiedlich umfangreichen Boxen (Dreier-, Vierer- oder Fünfer-Schuber) oder die Einzelhefte dekorativ platzieren. Zierliche Bücherregale oder Buchaufsteller, die ermöglichen, die Cover frontal zu präsentieren, ermöglichen eine mobile Bibliophilie jenseits des Digitalen. Auch eine kleine Holzstaffelei oder ein Fotoständer bieten sich an, um die persönlichen Lesefrüchte als Kunstobjekte darzubieten. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob dieses Möblement des compact reading eines Tages die ‚Kultur der Bücherregale‘ wiederbeleben kann.  

(Antje Wischmann, Wien)

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen