Entladende Begegnungen

Wer mit dem umfangreichen Werk der mittlerweile 89-jährigen Kerstin Ekman vertraut ist, wird bei der Lektüre von Löpa varg (2021, Wolf Laufen) auf viel Bekanntes stoßen. In ihrem neusten Roman greift die schwedische Autorin nämlich auf Themen und Genremerkmale zurück, die zentral in ihrer Autorinnenschaft sind: Er weist insbesondere zum Ende hin Krimielemente auf, wirft mit seiner Darstellung eines in die Jahre gekommenen Jägers, der von seiner Frau umsorgt, in der männlich-jung dominierten Jagdgemeinschaft jedoch wenig Anerkennung findet, unweigerlich auch Generations- und Genderthemen auf, und befasst sich – und das ist wohl Ekmans Hauptanliegen – mit der bedrohten Artenvielfalt in Schwedens Wäldern sowie insbesondere dem Wolf. In den Kritiken wird der Roman deshalb als Klimaroman gelobt, der das konfliktreiche Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner (tierlichen) Umwelt behandelt, wie etwa Andrea Lundgren für Göteborgs-Posten ausführt. Die Rezensionen sind fast durchgängig positiv und Ekman erfreute sich nach der Veröffentlichung mehrerer Nominierungen für Literaturpreise, darunter für den Literaturpreis des Nordischen Rates. Letzteren erhielt Anfang November dann die Dänin Solvej Balle für ihr ebenfalls auf Neues Lesen Skandinavien rezensiertes Werk Om udregning af rumfang I, II og III (2020-21, Über die Berechnung von Volumen I, II und III) – eine sicher nicht allzu schwere Niederlage für Kerstin Ekman, der man die renommierte Auszeichnung bereits 1994 für Händelser vid vatten (1993, Geschehnisse am Wasser, 1995) verliehen hatte.

Vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte einer auch in Deutschland sehr bekannten Autorin, die bereits seit Ende der 1950er Jahre veröffentlicht, liegt jedoch die Frage nahe, worin die Neuheit eines Textes besteht, der sich, wie oben erläutert, durch Rückgriffe und Variationen eines etablierten Ekmanschen Repertoires auszeichnet. Diese Schwierigkeit bewältigt die Autorin meines Ermessens insbesondere dadurch, dass sie in Löpa varg epistemologische, sprachtheoretische Fragestellungen zur Kommunikationssituation zwischen Mensch und Tier literarisch bearbeitet – wenngleich Ekman daran scheitert, diese Überlegungen für eine innovative formale Gestaltung des Romans fruchtbar zu machen.

Spurenlese

Das Thema der mensch-tierlichen Kommunikation wird schon zu Beginn von Löpa varg mehrdeutig verhandelt: Ein pensionierter Jäger und Waldbesitzer trifft kurz vor seinem 70. Geburtstag auf einen Wolf. Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans verhält sich ruhig und unauffällig – eine Begegnung mit dem wilden Tier ist nur im Sinne einer einseitigen Beobachtung möglich, der Mensch erscheint als Voyeur, als Fährtenleser, der anhand tierlicher Spuren die Bewegungen des Wolfes zu rekonstruieren versucht. Gerade Letzteres impliziert jedoch ebenso eine Subjektposition des Tieres, da sich neben dem menschlichen Ich-Erzähler auch das Tier zeichenhaft mitteilt. Einen Eindruck hinterlässt der Wolf außerdem nicht nur auf dem Waldboden, sondern mehr noch bei seinem menschlichen Beobachter: Der Protagonist fängt infolge der Begegnung an, sein Lebenswerk zu hinterfragen – insbesondere das Jagen von Tieren sowie die Abholzung weiter Gebiete seines Waldes und dessen Wiederaufforstung zur Monokultur, die Spuren also, die er selbst im Wald hinterlassen hat. So drängen sich ihm auch immer wieder Erinnerungen an Fehlschüsse in seiner Jugend auf: Bei einem Jagderlebnis im Alter von 14 Jahren läuft ihm etwa ein Hase mit einem großen Einschussloch in der Nähe des Halses davon, und auch eine Elchkuh, deren von Aasfressern gemarterten Körper er erst einige Monate später gemeinsam mit seinem Vater findet, konnte der Protagonist nicht wie geplant erlegen. Die Auseinandersetzung mit den Fehlschüssen ist für ihn schmerzhaft und er betont, nie jemandem davon erzählt zu haben.

Sprechen (über) Tiere?

Generell sind die Reflexionen des Ich-Erzählers über Mensch-Tier-Interaktionen, insbesondere die mit dem von ihm gesichteten Wolf, immer wieder verbunden mit Überlegungen zum Sprechen über Tiere. Das geschieht etwa durch eine Rückbesinnung auf die verschiedenen Bezeichnungen, die der Wolf im Schwedischen erhält. So fallen dem Protagonisten, der im Übrigen passenderweise Ulf heißt, etwa die Begriffe „Gråben“ (S. 12, Graubein/-knochen), „Tasse“ (S. 13, Pfote) oder „Slunke“ (ebd.) ein, die alle Ersatzbezeichnungen für das seiner Meinung nach lange tabuisierte Wort ‚Wolf‘ darstellen. Hier deutet sich bereits eine dem Protagonisten sehr wohl bewusste Differenz an, die im Roman nicht überbrückt werden kann: Das Tier erscheint sprachlich oft nicht greifbar und entgleitet ihm deshalb immer wieder. Mediale Darstellungen wie etwa Brehms Tierleben, mit dem sich Ulf genauer beschäftigt, sind vielmehr nur ein ungenaues Abbild der menschlichen Angst vor dem Schreckbild Wolf – so liest er bei Brehm von Wölfen, die dem Militär nachlaufen, um die Leichen der gefallenen Soldaten zu fressen. Der Wolf sei aus diesem Grund feige und listig. Darüber hinaus verschlägt es Ulf immer wieder die Sprache, wenn es um Tiere geht – er vermag es nicht, seiner Frau von der Begegnung mit dem Wolf zu erzählen, und entdeckt beim erneuten Lesen seiner alten Jagdtagebücher, dass auch seine erste Begegnung mit einem Bären, die ihm eigentlich detailreich und lebendig in Erinnerung geblieben ist, im Tagebuch nur durch zwei kurze Sätze Erwähnung findet.

Das titelgebende Phänomen des ‚Wolf-Laufens‘ macht deutlich, wie im Roman tierliche Wahrnehmung entworfen wird: In einer recht kurzen Passage erfährt man, dass Ulf sich häufiger vorstellt, ein Wolf zu sein. Diese als „löpa varg“ (S. 139) bezeichnete Metamorphose will der Protagonist zwar ganz klar vom diffusen und unzusammenhängenden Träumen unterschieden wissen, doch ob das Sich-Hineinversetzen in einen Wolf auch sprachlich dargestellt werden kann, ist nicht klar. In wenigen Passagen befindet sich Ulf in einer Art Dämmerzustand kurz vor dem Schlaf und denkt intensiv über den Wolf nach. Diese Szenen bilden die Wolfsperspektive nur insofern ab, als sie menschliche Kulturphänomene durch den Filter tierlichen Wahrnehmens und Verstehens beschreiben – so wird das Dröhnen der Schneemobile etwa zu einem lauten Knurren. Erzählt wird hingegen aus der Perspektive eines implizit menschlichen Beobachters, der zwar intern fokalisiert die Sicht des Wolfes abbildet, sich selbst aber außerhalb des Geschehens zu befinden scheint. Diese heterodiegetischen und intern fokalisierten Schilderungen ahmen ein recht klassisch gewordenes Erzählen über Tiere nach, das man aus bekannten Romanen wie etwa White Fang (1906, Wolfsblut, 1912 und später) von Jack London und auch Hunden (1986, Hundeherz, 2009) von Kerstin Ekman selbst kennt. In gewisser Weise wird dadurch der fiktionale Charakter des Erzählens über Tiere deutlich; zugleich wird – dem Motiv der Mensch-Wolf-Metamorphose zum Trotz – eine Grenze zwischen Mensch und Tier markiert, denn schließlich sind Erzählinstanz und Wolf nicht identisch. Ob es sich bei diesem ästhetischen Verfahren seitens der Autorin um eine bewusste Problematisierung der epistemologischen Differenz zwischen Mensch und Tier handelt, kann natürlich nicht beantwortet werden. Klar ist, dass Ekman durch konventionelle Erzähltechniken eine Chance zur formal experimentelleren Bearbeitung des Mensch-Tier-Themas verpasst. Gewagter gehen hier andere Autor*innen der Gegenwartsliteratur vor, etwa Charlotte Inuk mit ihrem assoziativ und fast handlungslos erzählten Roman Store dyr (2008, Große Tiere), der wohl auch wegen seiner mangelnden Zugänglichkeit in den Kritiken jedoch nur marginal wahrgenommen wurde.

Mahnende Fauna

Bei der Darstellung von Tierperspektiven bleibt Ekman zwar Anthropozentrismen verhaftet, sie erzählt im Roman allerdings auch von Formen der non-verbalen Kommunikation zwischen Mensch und Tier, die mitunter mahnenden Charakter annehmen und so den menschlichen Egozentrismus an den Pranger stellen. In einer Schlüsselszene des Romans erinnert sich der Protagonist daran, wie er auf dem Dachboden seines Hauses Mäusefallen verteilt. Als ihm dort einige alte Jagdtrophäen auffallen, wird ihm plötzlich unwohl:

Det var en dödens skog och jag var i den. Det jag kände var inte rädsla. Det var nånting värre. Stora greniga älghorn och små vassa horn efter råbockar. De grep efter mig. Jag kunde inte komma ur de dödas skog. Hornen hotade mig. Vassa näbbar och klor ville riva mig. Allt det starka och vilda i dem borde vara dött. Men nu var det ett kväljande och skrämmande hot som jag inte kunde avvärja. Ord fick jag inte fram. Inget rop heller. Jag var fast. Hornen och näbbarna trängde mig och jag kände kallsvett innanför skjortan. Nu dör jag tänkte jag. Nej, inte tänkte. Jag kände det bara. De kommer åt mitt hjärta. Mitt liv. (S. 96)

Es war ein Wald des Todes und ich befand mich darin. Was ich empfand war nicht Angst. Es war etwas Schlimmeres. Große, verzweigte Elchgeweihe und kleine, spitze Geweihe von Rehböcken. Sie griffen nach mir. Ich konnte mich dem Wald der Toten nicht entziehen. Die Geweihe bedrohten mich. Spitze Schnäbel und Klauen wollten mich reißen. All die Stärke und Wildheit in ihnen hätte tot sein sollen. Doch nun ging von ihnen eine beklemmende und furchteinflößende Bedrohung aus, die ich nicht abwehren konnte. Worte brachte ich nicht heraus. Auch keinen Schrei. Ich steckte fest. Die Geweihe und Schnäbel bedrängten mich und ich spürte den kalten Schweiß unter dem Hemd. Jetzt sterbe ich, dachte ich. Nein, ich dachte nicht. Ich spürte es nur. Sie haben es auf mein Herz abgesehen. Auf mein Leben.

Das Erzählen über tote Tiere ist im Roman mehrmals unmittelbar mit dem Herzleiden des Protagonisten verwoben. In einer anderen Passage befindet sich Ulf gerade mit einigen anderen Jägern auf der Jagd. Von einem Jägersitz aus will er einen Elch schießen, als er plötzlich einen stechenden Schmerz in der Herzgegend spürt:

En oxe med ganska skapligt horn. Studsarn var laddad och jag osäkrade. Men ännu var han för långt borta. Stod i skogskanten och nappade löv. Skymdes lite av snåret. Björk eller kanske al. Men en stor del av honom syntes i kikarsiktet. Då började han gå utefter skogskanten. Jag trodde han skulle gå in där bland granarna. Men det gjorde han inte. Han ginade lite i den sanka marken och kom närmare tornet. Nu hade jag honom. Då kom smärtan. Den var skarp och grenade sig från armen ut i bröstet. Sprängde. (S. 84) .

Ein Bulle mit recht passablem Geweih. Der Stutzen war geladen und ich entsicherte ihn. Noch war er aber zu weit weg. Stand am Waldrand und kaute Blätter. Etwas versteckt hinter dem Gestrüpp. Birke oder vielleicht Erle. Aber ein Großteil von ihm war im Zielfernrohr zu erkennen. Dann lief er am Waldrand entlang. Ich glaubte, er würde zwischen die Fichten laufen. Doch das tat er nicht. Er kürzte ein bisschen auf dem sumpfigen Boden ab und kam näher zum Jägersitz. Jetzt hatte ich ihn. Da kam der Schmerz. Er war stark und verzweigte sich vom Arm über in die Brust. Explodierte.

Ulf spritzt sich Nitroglycerin, wird von dem Medikament aber so müde, dass er an Ort und Stelle einschläft. Hierfür schämt er sich, als ihn die anderen Jäger finden. Die Umkehrung des Machverhältnisses zwischen Mensch und Tier wird in dieser Passage nur allzu deutlich. Das Schicksalhafte der Krankheit und des Sterbens und die Scham, die er als älterer Mann vor seinen munteren Jagdkollegen empfindet, kontrastieren eine ebenfalls angedeutete Form von tierlicher Handlungsmacht, wenn es wirkt, als würde der Elch den Jäger schießen und nicht andersherum.

Die Szene bei der Jagd und die auf dem Dachboden lösen bei Ulf eine Reflexion über die Abholzung der Wälder, wie sie bereits vom Urgroßvater des Protagonisten äußerst gewinnbringend betrieben wurde, und über die damit einhergehende Bedrohung der Artenvielfalt aus. Der Urgroßvater holzte teils sogar Staatswälder ab und konnte sich nur durch Bestechung einer Strafe entziehen. Um den guten Ruf der Familie zu wahren, verbrennt Ulf – zu dem Zeitpunkt noch im Glauben, damit richtig zu handeln – sämtliche Beweise.

Als wiederkehrendes Motiv durchzieht Sprachlosigkeit den Roman. Zum einen werden Tiere tendenziell außerhalb der Sphäre des Sprachlichen verortet und zum anderen verschweigt Ulf ethische und ökologische Vergehen, die entweder ihm oder seiner Familie zuzuschreiben sind, etwa die zuvor erwähnten Fehlschüsse bei der Jagd oder die Forstwirtschaft des Urgroßvaters. Gebrochen wird dieses Schweigen dadurch, dass der Ich-Erzähler seine Reflexionen und Erlebnisse verschriftlicht und damit auch einer impliziten Leser*innenschaft mitteilt. Umso überraschender erscheint deshalb das Ende des Romans, in dem sich das bereits kritisch hinterfragte und vermeintlich abgelegte Verhalten in ähnlicher Weise wiederholt: Als Ulf erfährt, dass der Wolf, den er zu Beginn des Romans beobachtet hatte, ohne offizielle Erlaubnis erlegt worden ist, entscheidet er sich gegen eine Anzeige bei der Polizei und versucht stattdessen, den noch jugendlichen Täter in einem persönlichen Gespräch zur kritischen Selbstreflexion zu bewegen. In gewisser Weise wird die Vormachtstellung des Menschen, die durch die Erlebnisse und Gedanken des Protagonisten im Laufe des Romans durchaus ins Wanken gerät, zum Ende von Löpa varg also wiederhergestellt.

Kerstin Ekman: Löpa varg, Stockholm: Bonnier, 2021.

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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