Schauen Sie sich bitte dieses Foto genau an: Ida Bäckmann in Napoleon-Pose, mit einer hutähnlich modellierten Langhaarfrisur und einem intensiven Blick, dem Combüchen nachsagt, dass er die allgemeinen Vorfahrtsregeln nicht beachte. Das Foto (1908 während einer Ausstellung in der Kunstakademie aufgenommen) stiftet Verwirrung durch die unter den Träger des Kleides geschobene Hand, die zudem mit einer bildlich dargestellten Hand auf einem Wandbehang korrespondiert – doch dort hebt die Figur ihre Hand, um das Gesicht vor grellem Licht zu schützen; die Exponiertheit wird, anders als bei Bäckmanns Haltung, gestisch relativiert.
Combüchen, deren Ich-Erzählerin sich kaum Mühe macht, einen Abstand zur realen Autorin zu schaffen, widmet sich einer kontroversen Gestalt der schwedischen Literaturgeschichte, die als Stalkerin oder parasitäre Biographin galt, welche die Nähe Gustaf Frödings und Selma Lagerlöfs suchte, um dem eigenen Leben mehr Bedeutung zu verleihen. Einen chronologischen Überblick über Bäckmanns CV liefert das Buch erst am Schluss, mit der Anmerkung, dass viele weiße Flecke auf dieser biographischen Karte noch immer nicht erschlossen seien. Doch besteht Combüchens erkenntnisfördernde Neuerung darin, Bäckmann überhaupt zur Protagonistin werden zu lassen. Im resümierenden Lebenslauf wird bewusst auf den „kittenden Zement“ zwischen den „Mosaiksteinen“ verzichtet, der zuvor als Metapher für die spekulativen Ergänzungen und Deutungen in der biographischen Literaturgeschichts-schreibung eingeführt worden ist. Zement in die Lücken zu gießen, schließt nämlich aus, den Prozess der Bedeutungskonstituierung jemals wieder nachvollziehen zu können. Die kittende Masse versinnbildlicht Fixieren und Vergessen.
Das Gegenbild zum Zement ist der verknotete Zentralpunkt als haariges Knäuel, unübersichtlich und ausfasernd (vgl. S. 130f.), gerade eben nicht im Zustand eines planvoll erstellten Gewebes. Daher herrscht kein Zweifel daran, dass diese investigative und materialbewusste Biographie einer persona non grata metareflexive Züge anstrebt. Durch das Verfahren des Positionswechsels werden unterschiedliche Versionen der von Bäckmann erprobten Identitätsangebote auf spannungsreiche Weise ineinander verflochten und gegeneinander ausgespielt. Wie kam das Deutungsvorrecht bei der Beurteilung von Bäckmanns Leben als verfehlt oder misslungen genau zustande? Welche Interessen verfolgten die beteiligten Akteure in ihrem Spiel?
Die Antwort darauf ist erstaunlich kompliziert, wie die Auswertung unterschiedlicher Biographien und Briefsammlungen von u.a. Gustaf und Cecilia Fröding, Selma Lagerlöf sowie von historischen Zeugnissen der Forschung beweist. Aufeinanderprallende Widersprüche, irritierende Einwürfe, Widerruf und Revision im Nachhinein – die Deutungen weisen in viele Richtungen zugleich, was von Combüchen zu einem Stilprinzip erhoben wird.
Besonderes Gewicht erhalten die erstmals in der Zusammenschau erschlossenen literarischen Arbeiten Bäckmanns, ihre Korrespondenz und Reisereportagen. Mitten im Material findet sich ein begriffliches literarisch-biographisches Energiefeld, das Bäckmann selbst benennt: „romanupplevelselängtan“ (S. 247, „die Sehnsucht nach Romanerlebnissen“, 1908) stellt sich als ein Begehren dar, das jenseits der sog. Sinnerfüllung und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verorten ist. Während die Aufmerksamkeit von anderen bereitgestellt wird, kann man selbst Maßnahmen ergreifen, um die Romanhaftigkeit des eigenen Daseins zu steigern! Hiermit weist Bäckmann eigentlich auf das modernistische Modell der Lebensführung im Dienste der Kunst voraus, ist sie doch eine literarische Außenseiterin par excellence.
Bäckmann war in eine wechselvolle Dreiecksbeziehung mit Gustaf Fröding und dessen Schwester Cecilia eingebunden; den psychisch kranken Dichter hatte sie 1896 besucht und ihm Schutz, Geleit und Verlobung angeboten. Alternierend befasste sich die unerschrockene Autorin leidenschaftslos mit Schulunterricht und immer wieder mit Auslandsreisen (nach Südafrika, Holland, Russland, Südamerika). Ihre Reisereportagen wurden 1906-10 veröffentlicht, im Jahre 2013 von Per Erik Tell neu gewürdigt. Als Beispiele für ihre prägnanten literarischen Arbeiten ist der melodramatische Roman Tantali kval (Tantalusqualen 1898) zu nennen, der G. Frödings tragisches Dichterschicksal antizipiert und damit bereits einige Probehandlungen durchspielt.
Der epochentypische Hysterieverdacht lässt sich durch die unterschiedlichen Schilderungen der Betreuung nicht bestätigen, die Bäckmann G. Fröding bei ihren beharrlichen Krankenbesuchen 1903-06 angedeihen ließ. (Der Patient schien über den regelmäßigen Besuch eher erfreut als verstimmt zu sein.) Eine der Versionen, dass Bäckmann die erotischen Obsessionen Frödings verstärkte, stammte von Cecilia Fröding, die doch selbst lange Zeit mit Bäckmann befreundet gewesen war. Das von C. Fröding veranlasste Besuchsverbot, das eine wichtige Lebensepisode Bäckmanns abrupt enden ließ, wurde von dem Arzt befürwortet, der den vorher zuständigen Herman Lundborg abgelöst hatte. Lundborg, zu dieser Zeit wohlgemerkt noch nicht als Rassenbiologe tätig, hatte eine Verbesserung von Frödings Zustand festgestellt. Auch unterstützte er Bäckmann, als sie öffentlich angeprangert wurde. Ist Lundborg ein unzuverlässiger Bürge für ihre Einsätze, weil er später dem rassenbiologischen Zentrum vorstand? Zu der heterogenen Gruppe, die Bäckmann die Treue hielten, gehörten die provokative Kritikerin Klara Johanson, der Maler Carl Larsson, mit dem sie mitunter Pathos und Lautstärke zu teilen scheint, aber eben auch Selma Lagerlöf, die sich überaus ambivalent verhielt und zwischen Loyalität und herber Verachtung schwankte.
Lagerlöf gab Bäckmann den Rat, die Erlebnisse mit Fröding zu einem Buch zu verarbeiten, ein Ratschlag, den die Nobelpreisträgerin nach dem vehementen Misserfolg von Gustaf Fröding skildrad af Ida Bäckmann (Gustaf Fröding, geschildert von Ida Bäckmann 1913) bitter bereute. Schon im Vorfeld distanzierte sich Lagerlöf von diesem Vorhaben. Das von ihr zugesagte Vorwort wurde nicht verfasst, auch ein von Bäckmann gefordertes kompensierendes Werk Lagerlöfs nahm 1930 nur Artikelformat an. Nichtsdestotrotz kürt sich Bäckmann erneut zu einer wichtigen Nebenfigur, nunmehr im Leben Lagerlöfs: Mitt liv med Selma Lagerlöf (Mein Leben mit Selma Lagerlöf, 2 Bde. 1944). Bemerkenswert scheint, dass Lagerlöf trotz der Schwankungen die Freundschaft auch weiter pflegte, sogar als sich die Möglichkeit einer recht schmerzlosen ‚Trennung‘ ergab. Bäckmanns Frödingbuch wurde 1940 mit dem tönenden Titel Gralsökaren (Der Gralssucher) neu aufgelegt. Bäckmann hatte sich mit einer Freundin nach Himmer (bei Örebro, Närke) zurückgezogen und schrieb u.a. die von Klara Johanson gelobte Landlebenschilderung På och i vägen med Fordhoppa (1925, übersetzt in etwa: Unterwegs mit dem Ford-Gaul). Von ihren großen Projekten der Koproduktion scheint sie sich vor allem als Jugendbuchschriftstellerin (die Trilogie Röpecka/Rotschopf wird 1937 fertiggestellt), Reisereporterin und Hühnerfarmerin ansatzweise lösen zu können, wenn es schließlich sogar heißt: „Selma var umbärlig.“ (S. 264, Selma war entbehrlich.) Obwohl sie anstrebte, wichtige Nebenfigur im Leben anderer zu sein, versuchte sie dennoch, auf deren Wirken Einfluss zu nehmen (vgl. S. 114). Nach ihren Reisen habe Bäckmann laut Combüchen stets daran weitergearbeitet, „att sömna och reparera på den allt knöligare, kompakta och håriga berättelsen om L och F.“(S. 130, die Erzählung über L und F weiter zu vernähen und zu reparieren, die immer verknoteter, dichter und haariger geworden war). Auf die Metapher des Nervenknotens (S. 171, „nervknuten“) kommt die Ich-Erzählerin zurück in der Beschreibung des abschließenden Konflikts auf der psychiatrischen Station, der zu Bäckmanns Bruch mit den Geschwistern Fröding führt. Für den in Erwägung gezogenen Roman über Bäckmann – mit just dieser als Protagonistin – ist dieses Ereignis der wichtigste Ausstrahlungspunkt.
Combüchen gelingt es auf faszinierende Weise, Gegenstimmen zu den Diffamierungen in ihren Quellen zu finden, die sowohl mit Selbstzeugnissen als auch mit literarischen Arbeiten Bäckmanns untermauert werden. Die Korrespondenzen mit Fröding und dessen Schwester sind bereits zu Lebzeiten von Bäckmann ausgewählt, arrangiert, gestutzt worden; die löcherigen Papierbögen sind ein groteskes Monument der fortlaufenden Arbeit am Selbst. Die materiellen Leerstellen lassen zum einen Vermutungen zu, was verschwinden sollte, um den Argumenten der Gegner zuvorzukommen oder um die Widersprüche zu – kleidsameren – Versionen zu beseitigen, die Bäckmann oder andere bereits in Umlauf gebracht hatten.
Bereits in Spill. En damroman (2010; Was übrig bleibt. Ein Damenroman, übs. von Paul Berf, 2012) wurde das Thema der Biographien derjenigen behandelt, die vergessen sind, weil sie die Erwartungen anderer nicht erfüllten, als gescheitert oder als Möchtegern-Gestalten marginalisiert blieben. Combüchens Vergleich eines Bäckmann-Textes mit einem „Marlittroman“ (S. 157) zeigt an, dass die Risiken einer gender-blinden Literaturgeschichtsschreibung mit Den umbärliga herausgestellt werden sollen (siehe etwa die Forschungen von Pil Dahlerup 1982 oder David Gedin 2004). Zugleich geht die Vorliebe für ‚Marlitt-Genres‘, also Damenromane, auf eine Unterstellung der verstimmten Cecilia Fröding zurück, Bäckmann hätte eine besondere Affinität zur sensationsheischenden Trivialliteratur. Hieraus geht hervor, dass den interagierenden Texten Akteursstatus zukommt, denn die Gattungen und Textsorten charakterisieren sich wechselseitig so wie die Figuren.
Der Topos von dem ersehnten Einfluss des Individuums auf die Nachwelt, eingefangen in dem Ausdruck, ‚etwas Bleibendes hinterlassen zu wollen‘, wird bis heute selten hinterfragt. Mitunter reicht schon eine Phase der Berühmtheit aus, in den sozialen Medien bekanntlich eine kürzere Zeitspanne, um zu einer öffentlichen Person zu avancieren, wobei einst und jetzt der Skandal die grundlegende Initialzündung liefert.
In Spill geht es um eine Lebensgeschichte, die viel verspricht, in der Rückschau aber wenig von den Versprechen eingelöst zu haben scheint. Die Titelmetapher lässt den Begriff der Vergeudung geradezu schillern – wer sagt einem Menschen nach, sein Leben nicht ausgeschöpft zu haben oder gar Zeit verschwendet zu haben? In welchem Verhältnis stehen Selbstzuschreibung und Projektionen von außen zueinander, auch wenn letztere den autobiographischen Textentwurf längst invadiert haben? Und vor welchem Hintergrund werden solche Urteile gefällt? Diese existentielle Frage wird also in beiden Romanen gestellt.
Combüchen hat eine komplexe Textkomposition geschaffen, die mit ungewöhnlichen Metaphern arbeitet (siehe die Titelformulierung der Rezension), die sowohl auf verschiedenen historischen Zeitstufen als auch zeitlichen Erzählebenen entfaltet werden. So wird etwa die I-Phone-App als mediale Metapher ausgetestet. Könnte man weiblichen Altruismus als Vorform einer App betrachten, „ett programtillägg för att frigöra, svalka, förnya mannen“, S. 48; ein Zusatzprogramm, mit dem der Mann [gemeint ist der exemplarische Fröding, AW], freigestellt, beruhigt und erquickt werden kann? Hebt dieser Metapherngebrauch nicht treffend eine automatisierte genderspezifische Erwartungshaltung und eine gedankenlose Unterstellung von Kompetenzbereichen der Geschlechter hervor? Frödings, trotz seiner Krankheit, niemals in Frage gestellte Position als schöpferischer Künstler und Bäckmanns vermeintlich selbstverständliche Stellung als ‚Dichter-Applikation‘ sind durch diesen Metapherntransfer ebenfalls erfasst.
Für die Entwirrungsarbeit der losen Fadenenden wird der Vergleich mit der Nanotechnik bemüht (vgl. S. 65), auch dieser wird nicht im Tonfall der Technikskepsis eingeführt, sondern mit einer Begrüßung der neu entstandenen metaphorischen Optionen. Niemals entsteht in Den umbärliga ein tragfähiges Gewebe, stattdessen findet ein – genüsslich prozessuales – ‚Tauziehen mit dünnem Faden‘ statt (vgl. S. 160), und die weißen Flecken verändern fortlaufend ihre Konturen. Die mitunter eingestreuten englischen Wendungen („believed“, „skalde-shrink“, „kiss & tell“) setzen ein sinnbildhaftes code-switching um, das mit dem Figuren- und Textsorten-spezifischen Registerwechsel korrespondiert. Dies sind sprachliche Spielarten des Positionswechsels, der schließlich auf das Zusammenspiel der Gattungen sowie das Wechselverhältnis von dargestellter/außertextlicher Welt bezogen wird. Nicht nur der vorherige Damenroman, sondern auch Combüchens Byron-Monographie (1988) kommt in unterschiedlichen Intensitätsgraden ins Spiel, nicht zuletzt weil Lagerlöf eine Ähnlichkeit zwischen Byron und Fröding festzustellen meint (vgl. S. 100).
Den umbärliga setzt eine ästhetisch nachvollziehende Literaturgeschichts-schreibung frei und problematisiert sowohl plausible als auch bizarre Versuche, Kontinuität in geschichtlichen Verläufen zu suggerieren. Die Anwendung ahistorischer, kollidierender Metaphern demonstriert, dass Vorstellungen von einer Horizontverschmelzung fragwürdig sind. Aus diesen Zweifeln ergibt sich in der Konsequenz, dass auch die Konzepte von einem sinnerfüllten Leben und von den Nachwirkungen eines Menschen ganz sicher keine anthropologischen Konstanten sind. Den umbärliga hat einen weiteren Appell, nämlich das vermeintlich Verschwendete nachdenklich und mit großer Milde zu betrachten.
Sigrid Combüchen: Den Umbärliga, Stockholm: Norstedts, 2014.
(Antje Wischmann, Wien, März 2015)