Mit Milch im Ohr: Literatur als Podcast

Die Art, wie Literatur rezipiert wird, verändert sich. War bis vor einigen Jahren die Rezeption literarischer Texte noch eng mit dem gedruckten Buch verknüpft, erleben andere Formate aktuell einen markanten Aufschwung. Diesem wird nicht selten mit kulturpessimistischen Reaktionen begegnet. Waren es zunächst die E-Books, die das Diktum vom ‚Ende der Literatur‘ auf den Plan riefen, so ist es heute das seit Jahrzehnten etablierte Format Hörbuch, das aufgrund seiner neuen digitalen Verfügbarkeit in den letzten Jahren einen immer größeren Popularitätszuwachs verzeichnen konnte und gleichzeitig besorgte Kritiker*innen dazu veranlasste, den Niedergang der allgemeinen Lesekompetenz und den endgültigen Verlust jeglicher literarischer Qualität zu prophezeien. Fakt ist jedoch, dass der Trend zum Hören von Literatur in Audiobook-Form ungebrochen ist, auch in Skandinavien. Dort sind es vor allem die beliebten Streamingdienste im Abomodell, die den Vormarsch der akustisch vermittelten Texte vorantreiben. 

Auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie das Hörbuch kann das Format Podcast zurückblicken. Auch wenn bereits in den 2000er Jahren eine erste Erfolgswelle der per RSS-Feed zu abonnierenden Sendungen über das Internet schwappte, wuchs deren Popularität im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts noch einmal kräftig an. Nahezu jedes vorstellbare Thema scheint mittlerweile von einem Podcast oder wenigstens von einzelnen Folgen der Internet-Sendereihen abgedeckt zu werden, und auch literarische Texte lassen sich in diesem Medium finden. 

Nicht zu übersehen ist, dass das Sprechen über Literatur eine weitaus stärkere Stellung auf dem Podcast-Markt einnimmt als literarische Texte selbst. Ob von den etablierten Medienhäusern produziert oder von literaturinteressierten Laien, ob tiefgründige Analysen oder das Teilen persönlicher Leseerfahrungen: Im Netz finden sich vielfältige Schattierungen des Konzepts Literaturpodcast. Das Hauptaugenmerk liegt dabei augenscheinlich auf dem Präsentieren und Diskutieren verschiedenster Texte, seien es Neuerscheinungen oder Klassiker, und dem Informieren über oder Sprechen mit Schriftsteller*innen unterschiedlichster Etabliertheitsgrade. Derartige Formate entsprechen den gängigsten und beliebtesten Spielarten des Podcast-Mediums. 

Im Gegensatz dazu scheint das Präsentieren literarischer Texte auf dem direkten Wege ein weitaus marginaleres Phänomen in der Welt der Podcasts zu sein. Die Ausnahmen verdienen allerdings eine nähere Betrachtung, weil sie nicht nur Rückschlüsse auf Literaturvermittlungsstrategien, sondern auch auf die medialen Spielregeln von Podcasts erlauben. Der norwegische Kolon forlag podcast for ny litteratur (Verlag Kolon – Podcast für neue Literatur) stellt eine solche Ausnahme dar. Diese Sendereihe, die über alle herkömmlichen Plattformen zu beziehen ist, vermittelt Literaturinteressierten seit Ende 2019 in teils unregelmäßigen Abständen Textauszüge, die von den Autor*innen selbst gelesen werden, oder bietet Kostproben aus den Hörbuch-Versionen der Verlagstitel. An dieser Zusammensetzung lassen sich bereits unterschiedliche Zielsetzungen ablesen, die mit einem solchen Format vonseiten des Verlags verfolgt werden. Zum einen werden Informationen über Neuerscheinungen aus dem Verlagsprogramm automatisch an die Abonnierenden gesendet, und die bewusst ausgewählten Textausschnitte erfüllen eine ähnliche Funktion wie die klassische Leseprobe. Neben dem Bewerben der analogen oder digitalen Buchform wird zum anderen, im Falle der Hörbuch-Auszüge, für das akustisch vermittelte Format geworben. In jenen Fällen, in denen die Autor*innen selbst lesen, wird zusätzlich die vermeintliche (Ver-)Bindung des Publikums zu diesen gestärkt und im Sinne der Literaturvermittlung geschickt genutzt. Als eine Übergangsform zwischen autor*innenferner Literaturrezeption und dem multimodalen Erlebnis einer Autor*innenlesung wird das Interesse der Zuhörenden durch den Eindruck, die Schriftsteller*innen persönlich zu erleben, geweckt. Die Tatsache, dass die Darbietungsleistungen der Autor*innen manchmal hinter denen ausgebildeter Sprecher*innen zurückbleiben, wird durch die Nähe vermittelnde Ansprache der Zuhörer*innen ausgeglichen. Gleichzeitig verleiht das Trendmedium Podcast dem Verlag eine schicke, aber dennoch seriöse Aura.

Auffällig und gleichzeitig wenig überraschend ist, dass viele dieser literarischen Podcast-Formate Kinder der Covid-Pandemie zu sein scheinen. Während die Online-Sendungen im Allgemeinen in der Zeit sozialer Isolation nochmals massiv an Popularität gewannen, mussten viele Institutionen Wege finden, wie sie ihr Publikum durch Formen des asynchron-asyntopen Erlebens erreichen konnten. Wenige dieser Projekte hielten sich jedoch über die pandemische Hochphase hinaus; das Erscheinen neuer Folgen versiegte in vielen Fällen im Laufe der Jahre 2020 oder 2021. Litt. etwa, ein Podcast des norwegischen Verlags Oktober, operierte mit einem ähnlichen Konzept wie Kolon. »Her får du litt fra våre bøker rett på øret, lest av forfatterne selv« (Hier bekommst du ein bisschen was von unseren Büchern direkt ins Ohr, gelesen von den Autor*innen selbst) heißt es in der Beschreibung, die damit auf die doppelte Bedeutung von litt als Kurzform für ‚litteratur‘ oder im Sinne von ‚ein bisschen‘ hindeutet. Zwischen November 2020 und Juli 2021 wurden insgesamt 13 Folgen publiziert, die die Zehn-Minuten-Marke nicht überschreiten und jeweils kurze Textausschnitte aus den Neuerscheinungen des Verlags darbieten. Manche werden mit einer knappen inhaltlich-thematischen Zusammenfassung des Texts eingeleitet, andere stehen für sich. Doch die letzten Folgen deuten bereits auf ein abnehmendes Interesse vonseiten der Produzent*innen hin: Zwei der vier Episoden aus dem Juli 2021 sind fehlerhaft und nur wenige Sekunden lang, die anderen beiden weisen nur noch eine Länge von ein bis zwei Minuten auf und wurden ohne Intro produziert. Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Format – literarische Texte, in Auszügen eingelesen – nicht die gewünschten Effekte als Marketinginstrument mit sich brachte. Gestärkt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass derselbe Verlag im Mai 2021 mit einer neuen Podcast-Serie antrat: Akkurat dette, akkurat nå setzt wiederum auf das beliebte dialogische Sprechen über Literatur, das der prominente Chefredakteur des Verlags, Geir Gulliksen, gleich selbst in die Hand nimmt. 

Haben literarische Texte also keine Chance im Medium Podcast? Mag sein, dass das Hörbuch-Streaming die Domäne der Texte bleibt, während Hintergründe, Interpretationsansätze und literarische Debatten von den leicht zugänglichen Sendereihen abgedeckt werden. Die Antwort darauf wird immer auch von den Hörgewohnheiten des Publikums abhängen, gleichzeitig tut die technische Seite des Podcast-Streamings ihr Übriges: Dadurch, dass die einzelnen Folgen automatisch nacheinander abgespielt werden und Podcasts häufig neben dem Ausführen anderer Tätigkeiten rezipiert werden, führt das rasche Aufeinanderfolgen von nicht kontextualisierten Texthäppchen mitunter zu verwirrenden, gar unangenehmen Hörerlebnissen.

Abbildung 1 Cover-Bild einer Folge von Lyden av MELK

Womöglich verläuft die Trennlinie aber nicht zwischen den verschiedenen Medienformaten, sondern zwischen den
unterschiedlichen Zielsetzungen und daraus resultierenden Herangehensweisen: Marketing auf der einen Seite und Textzentriertheit samt Hörer*innen-Orientierung auf der anderen. Die Sendung Lyden av MELK (Der Klang von MELK), die zwischen März 2020 und Dezember 2021 vom norwegischen Mikroverlag littMELK bespielt wurde, sendete in zwei ihrer drei Staffeln Texte, die entweder für die queere Kulturzeitschrift MELK oder für den Podcast verfasst worden waren und jeweils von den Autor*innen selbst eingelesen wurden. Die somit nicht primär auf den Verkauf von (Hör-)Büchern ausgelegten Episoden sind überdies qualitätsvoll produziert und mitunter aufwändig gestaltet, wie im Falle eines vertonten Gedichts und eines Kurzhörspiels. Im Sendungs-Teaser deutet die MELK-Mitgründerin Martine Næss Johansen diese hörer*innenorientierte Ausrichtung bereits an: »Hei! Så fint at du vil ha MELK i øret. […] Grunnen til at vi legger ut disse lydopptakene nå er at vi vil gjøre dem mer tilgjengelig for deg som lytter. Du fortjener å høre godt skrevne skeive narrativ. Du fortjener å høre dine egne historier […].« (Hallo! Schön, dass du MELK [dt. ‚Milch‘] im Ohr haben möchtest. […] Der Grund, warum wir diese Aufnahmen jetzt veröffentlichen, ist, dass wir sie für dich als Hörer*in zugänglicher machen wollen. Du verdienst es, gut geschriebene queere Narrative zu hören. Du verdienst es, deine eigenen Geschichten zu hören […]). Auch wenn die gut gemachten Folgen von Lyden av MELK, die vollständige Texte vermitteln und stimmige Musikelemente enthalten, genussvolles Literaturhören ermöglichen: Selbst dieses Format fand nach 16 Folgen sein Ende.

Literatur in Podcastform bleibt insgesamt ein Randphänomen, auch experimentelle Formen wie Podcast-Romane scheinen in Skandinavien noch keine Ableger gefunden zu haben. Die kurze Laufzeit der Versuche vonseiten größerer und kleinerer Verlage, die Online-Sendungen als Plattform für literarische Texte zu nutzen, zeigen: Die Bedürfnisse von Podcast-Hörer*innen sind allem Anschein nach anders gelagert. Gleichzeitig handelt es sich um ein simpel zu bespielendes Medium, das – ganz ähnlich wie Books-on-Demand-Konzepte – allen für die Veröffentlichung eigener Texte offensteht und grundsätzlich unterschiedliche Formexperimente ermöglicht. Womöglich lassen sich in Zukunft neben Instagram-Romanen auch literarische Experimente auf Podcast-Basis beobachten.

(Jay Geier)

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Entladende Begegnungen

Wer mit dem umfangreichen Werk der mittlerweile 89-jährigen Kerstin Ekman vertraut ist, wird bei der Lektüre von Löpa varg (2021, Wolf Laufen) auf viel Bekanntes stoßen. In ihrem neusten Roman greift die schwedische Autorin nämlich auf Themen und Genremerkmale zurück, die zentral in ihrer Autorinnenschaft sind: Er weist insbesondere zum Ende hin Krimielemente auf, wirft mit seiner Darstellung eines in die Jahre gekommenen Jägers, der von seiner Frau umsorgt, in der männlich-jung dominierten Jagdgemeinschaft jedoch wenig Anerkennung findet, unweigerlich auch Generations- und Genderthemen auf, und befasst sich – und das ist wohl Ekmans Hauptanliegen – mit der bedrohten Artenvielfalt in Schwedens Wäldern sowie insbesondere dem Wolf. In den Kritiken wird der Roman deshalb als Klimaroman gelobt, der das konfliktreiche Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner (tierlichen) Umwelt behandelt, wie etwa Andrea Lundgren für Göteborgs-Posten ausführt. Die Rezensionen sind fast durchgängig positiv und Ekman erfreute sich nach der Veröffentlichung mehrerer Nominierungen für Literaturpreise, darunter für den Literaturpreis des Nordischen Rates. Letzteren erhielt Anfang November dann die Dänin Solvej Balle für ihr ebenfalls auf Neues Lesen Skandinavien rezensiertes Werk Om udregning af rumfang I, II og III (2020-21, Über die Berechnung von Volumen I, II und III) – eine sicher nicht allzu schwere Niederlage für Kerstin Ekman, der man die renommierte Auszeichnung bereits 1994 für Händelser vid vatten (1993, Geschehnisse am Wasser, 1995) verliehen hatte.

Vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte einer auch in Deutschland sehr bekannten Autorin, die bereits seit Ende der 1950er Jahre veröffentlicht, liegt jedoch die Frage nahe, worin die Neuheit eines Textes besteht, der sich, wie oben erläutert, durch Rückgriffe und Variationen eines etablierten Ekmanschen Repertoires auszeichnet. Diese Schwierigkeit bewältigt die Autorin meines Ermessens insbesondere dadurch, dass sie in Löpa varg epistemologische, sprachtheoretische Fragestellungen zur Kommunikationssituation zwischen Mensch und Tier literarisch bearbeitet – wenngleich Ekman daran scheitert, diese Überlegungen für eine innovative formale Gestaltung des Romans fruchtbar zu machen.

Spurenlese

Das Thema der mensch-tierlichen Kommunikation wird schon zu Beginn von Löpa varg mehrdeutig verhandelt: Ein pensionierter Jäger und Waldbesitzer trifft kurz vor seinem 70. Geburtstag auf einen Wolf. Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans verhält sich ruhig und unauffällig – eine Begegnung mit dem wilden Tier ist nur im Sinne einer einseitigen Beobachtung möglich, der Mensch erscheint als Voyeur, als Fährtenleser, der anhand tierlicher Spuren die Bewegungen des Wolfes zu rekonstruieren versucht. Gerade Letzteres impliziert jedoch ebenso eine Subjektposition des Tieres, da sich neben dem menschlichen Ich-Erzähler auch das Tier zeichenhaft mitteilt. Einen Eindruck hinterlässt der Wolf außerdem nicht nur auf dem Waldboden, sondern mehr noch bei seinem menschlichen Beobachter: Der Protagonist fängt infolge der Begegnung an, sein Lebenswerk zu hinterfragen – insbesondere das Jagen von Tieren sowie die Abholzung weiter Gebiete seines Waldes und dessen Wiederaufforstung zur Monokultur, die Spuren also, die er selbst im Wald hinterlassen hat. So drängen sich ihm auch immer wieder Erinnerungen an Fehlschüsse in seiner Jugend auf: Bei einem Jagderlebnis im Alter von 14 Jahren läuft ihm etwa ein Hase mit einem großen Einschussloch in der Nähe des Halses davon, und auch eine Elchkuh, deren von Aasfressern gemarterten Körper er erst einige Monate später gemeinsam mit seinem Vater findet, konnte der Protagonist nicht wie geplant erlegen. Die Auseinandersetzung mit den Fehlschüssen ist für ihn schmerzhaft und er betont, nie jemandem davon erzählt zu haben.

Sprechen (über) Tiere?

Generell sind die Reflexionen des Ich-Erzählers über Mensch-Tier-Interaktionen, insbesondere die mit dem von ihm gesichteten Wolf, immer wieder verbunden mit Überlegungen zum Sprechen über Tiere. Das geschieht etwa durch eine Rückbesinnung auf die verschiedenen Bezeichnungen, die der Wolf im Schwedischen erhält. So fallen dem Protagonisten, der im Übrigen passenderweise Ulf heißt, etwa die Begriffe „Gråben“ (S. 12, Graubein/-knochen), „Tasse“ (S. 13, Pfote) oder „Slunke“ (ebd.) ein, die alle Ersatzbezeichnungen für das seiner Meinung nach lange tabuisierte Wort ‚Wolf‘ darstellen. Hier deutet sich bereits eine dem Protagonisten sehr wohl bewusste Differenz an, die im Roman nicht überbrückt werden kann: Das Tier erscheint sprachlich oft nicht greifbar und entgleitet ihm deshalb immer wieder. Mediale Darstellungen wie etwa Brehms Tierleben, mit dem sich Ulf genauer beschäftigt, sind vielmehr nur ein ungenaues Abbild der menschlichen Angst vor dem Schreckbild Wolf – so liest er bei Brehm von Wölfen, die dem Militär nachlaufen, um die Leichen der gefallenen Soldaten zu fressen. Der Wolf sei aus diesem Grund feige und listig. Darüber hinaus verschlägt es Ulf immer wieder die Sprache, wenn es um Tiere geht – er vermag es nicht, seiner Frau von der Begegnung mit dem Wolf zu erzählen, und entdeckt beim erneuten Lesen seiner alten Jagdtagebücher, dass auch seine erste Begegnung mit einem Bären, die ihm eigentlich detailreich und lebendig in Erinnerung geblieben ist, im Tagebuch nur durch zwei kurze Sätze Erwähnung findet.

Das titelgebende Phänomen des ‚Wolf-Laufens‘ macht deutlich, wie im Roman tierliche Wahrnehmung entworfen wird: In einer recht kurzen Passage erfährt man, dass Ulf sich häufiger vorstellt, ein Wolf zu sein. Diese als „löpa varg“ (S. 139) bezeichnete Metamorphose will der Protagonist zwar ganz klar vom diffusen und unzusammenhängenden Träumen unterschieden wissen, doch ob das Sich-Hineinversetzen in einen Wolf auch sprachlich dargestellt werden kann, ist nicht klar. In wenigen Passagen befindet sich Ulf in einer Art Dämmerzustand kurz vor dem Schlaf und denkt intensiv über den Wolf nach. Diese Szenen bilden die Wolfsperspektive nur insofern ab, als sie menschliche Kulturphänomene durch den Filter tierlichen Wahrnehmens und Verstehens beschreiben – so wird das Dröhnen der Schneemobile etwa zu einem lauten Knurren. Erzählt wird hingegen aus der Perspektive eines implizit menschlichen Beobachters, der zwar intern fokalisiert die Sicht des Wolfes abbildet, sich selbst aber außerhalb des Geschehens zu befinden scheint. Diese heterodiegetischen und intern fokalisierten Schilderungen ahmen ein recht klassisch gewordenes Erzählen über Tiere nach, das man aus bekannten Romanen wie etwa White Fang (1906, Wolfsblut, 1912 und später) von Jack London und auch Hunden (1986, Hundeherz, 2009) von Kerstin Ekman selbst kennt. In gewisser Weise wird dadurch der fiktionale Charakter des Erzählens über Tiere deutlich; zugleich wird – dem Motiv der Mensch-Wolf-Metamorphose zum Trotz – eine Grenze zwischen Mensch und Tier markiert, denn schließlich sind Erzählinstanz und Wolf nicht identisch. Ob es sich bei diesem ästhetischen Verfahren seitens der Autorin um eine bewusste Problematisierung der epistemologischen Differenz zwischen Mensch und Tier handelt, kann natürlich nicht beantwortet werden. Klar ist, dass Ekman durch konventionelle Erzähltechniken eine Chance zur formal experimentelleren Bearbeitung des Mensch-Tier-Themas verpasst. Gewagter gehen hier andere Autor*innen der Gegenwartsliteratur vor, etwa Charlotte Inuk mit ihrem assoziativ und fast handlungslos erzählten Roman Store dyr (2008, Große Tiere), der wohl auch wegen seiner mangelnden Zugänglichkeit in den Kritiken jedoch nur marginal wahrgenommen wurde.

Mahnende Fauna

Bei der Darstellung von Tierperspektiven bleibt Ekman zwar Anthropozentrismen verhaftet, sie erzählt im Roman allerdings auch von Formen der non-verbalen Kommunikation zwischen Mensch und Tier, die mitunter mahnenden Charakter annehmen und so den menschlichen Egozentrismus an den Pranger stellen. In einer Schlüsselszene des Romans erinnert sich der Protagonist daran, wie er auf dem Dachboden seines Hauses Mäusefallen verteilt. Als ihm dort einige alte Jagdtrophäen auffallen, wird ihm plötzlich unwohl:

Det var en dödens skog och jag var i den. Det jag kände var inte rädsla. Det var nånting värre. Stora greniga älghorn och små vassa horn efter råbockar. De grep efter mig. Jag kunde inte komma ur de dödas skog. Hornen hotade mig. Vassa näbbar och klor ville riva mig. Allt det starka och vilda i dem borde vara dött. Men nu var det ett kväljande och skrämmande hot som jag inte kunde avvärja. Ord fick jag inte fram. Inget rop heller. Jag var fast. Hornen och näbbarna trängde mig och jag kände kallsvett innanför skjortan. Nu dör jag tänkte jag. Nej, inte tänkte. Jag kände det bara. De kommer åt mitt hjärta. Mitt liv. (S. 96)

Es war ein Wald des Todes und ich befand mich darin. Was ich empfand war nicht Angst. Es war etwas Schlimmeres. Große, verzweigte Elchgeweihe und kleine, spitze Geweihe von Rehböcken. Sie griffen nach mir. Ich konnte mich dem Wald der Toten nicht entziehen. Die Geweihe bedrohten mich. Spitze Schnäbel und Klauen wollten mich reißen. All die Stärke und Wildheit in ihnen hätte tot sein sollen. Doch nun ging von ihnen eine beklemmende und furchteinflößende Bedrohung aus, die ich nicht abwehren konnte. Worte brachte ich nicht heraus. Auch keinen Schrei. Ich steckte fest. Die Geweihe und Schnäbel bedrängten mich und ich spürte den kalten Schweiß unter dem Hemd. Jetzt sterbe ich, dachte ich. Nein, ich dachte nicht. Ich spürte es nur. Sie haben es auf mein Herz abgesehen. Auf mein Leben.

Das Erzählen über tote Tiere ist im Roman mehrmals unmittelbar mit dem Herzleiden des Protagonisten verwoben. In einer anderen Passage befindet sich Ulf gerade mit einigen anderen Jägern auf der Jagd. Von einem Jägersitz aus will er einen Elch schießen, als er plötzlich einen stechenden Schmerz in der Herzgegend spürt:

En oxe med ganska skapligt horn. Studsarn var laddad och jag osäkrade. Men ännu var han för långt borta. Stod i skogskanten och nappade löv. Skymdes lite av snåret. Björk eller kanske al. Men en stor del av honom syntes i kikarsiktet. Då började han gå utefter skogskanten. Jag trodde han skulle gå in där bland granarna. Men det gjorde han inte. Han ginade lite i den sanka marken och kom närmare tornet. Nu hade jag honom. Då kom smärtan. Den var skarp och grenade sig från armen ut i bröstet. Sprängde. (S. 84) .

Ein Bulle mit recht passablem Geweih. Der Stutzen war geladen und ich entsicherte ihn. Noch war er aber zu weit weg. Stand am Waldrand und kaute Blätter. Etwas versteckt hinter dem Gestrüpp. Birke oder vielleicht Erle. Aber ein Großteil von ihm war im Zielfernrohr zu erkennen. Dann lief er am Waldrand entlang. Ich glaubte, er würde zwischen die Fichten laufen. Doch das tat er nicht. Er kürzte ein bisschen auf dem sumpfigen Boden ab und kam näher zum Jägersitz. Jetzt hatte ich ihn. Da kam der Schmerz. Er war stark und verzweigte sich vom Arm über in die Brust. Explodierte.

Ulf spritzt sich Nitroglycerin, wird von dem Medikament aber so müde, dass er an Ort und Stelle einschläft. Hierfür schämt er sich, als ihn die anderen Jäger finden. Die Umkehrung des Machverhältnisses zwischen Mensch und Tier wird in dieser Passage nur allzu deutlich. Das Schicksalhafte der Krankheit und des Sterbens und die Scham, die er als älterer Mann vor seinen munteren Jagdkollegen empfindet, kontrastieren eine ebenfalls angedeutete Form von tierlicher Handlungsmacht, wenn es wirkt, als würde der Elch den Jäger schießen und nicht andersherum.

Die Szene bei der Jagd und die auf dem Dachboden lösen bei Ulf eine Reflexion über die Abholzung der Wälder, wie sie bereits vom Urgroßvater des Protagonisten äußerst gewinnbringend betrieben wurde, und über die damit einhergehende Bedrohung der Artenvielfalt aus. Der Urgroßvater holzte teils sogar Staatswälder ab und konnte sich nur durch Bestechung einer Strafe entziehen. Um den guten Ruf der Familie zu wahren, verbrennt Ulf – zu dem Zeitpunkt noch im Glauben, damit richtig zu handeln – sämtliche Beweise.

Als wiederkehrendes Motiv durchzieht Sprachlosigkeit den Roman. Zum einen werden Tiere tendenziell außerhalb der Sphäre des Sprachlichen verortet und zum anderen verschweigt Ulf ethische und ökologische Vergehen, die entweder ihm oder seiner Familie zuzuschreiben sind, etwa die zuvor erwähnten Fehlschüsse bei der Jagd oder die Forstwirtschaft des Urgroßvaters. Gebrochen wird dieses Schweigen dadurch, dass der Ich-Erzähler seine Reflexionen und Erlebnisse verschriftlicht und damit auch einer impliziten Leser*innenschaft mitteilt. Umso überraschender erscheint deshalb das Ende des Romans, in dem sich das bereits kritisch hinterfragte und vermeintlich abgelegte Verhalten in ähnlicher Weise wiederholt: Als Ulf erfährt, dass der Wolf, den er zu Beginn des Romans beobachtet hatte, ohne offizielle Erlaubnis erlegt worden ist, entscheidet er sich gegen eine Anzeige bei der Polizei und versucht stattdessen, den noch jugendlichen Täter in einem persönlichen Gespräch zur kritischen Selbstreflexion zu bewegen. In gewisser Weise wird die Vormachtstellung des Menschen, die durch die Erlebnisse und Gedanken des Protagonisten im Laufe des Romans durchaus ins Wanken gerät, zum Ende von Löpa varg also wiederhergestellt.

Kerstin Ekman: Löpa varg, Stockholm: Bonnier, 2021.

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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Die Komplexe der Mediengesellschaft

Handelt es sich um einen selbstreflexiven Gestus, gar ein Bekenntnis, oder um einen typischen Hammann-Witz, wenn die seit dreißig Jahren erfolgreiche und mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin im Alter von 55 Jahren einen Roman über einen 55-jährigen Schriftsteller veröffentlicht, der nach dreißig Jahren an der Spitze »færdig« (6; fertig) und nicht mehr gefragt ist und in einer tiefen Schreib- und Existenzkrise steckt? Ihre Hauptperson Georg war ein Stern auf dem literarischen Parnass, seine Bücher wurden in hohen Auflagen gedruckt und in viele Sprachen übersetzt, doch jetzt sind andere Autor:innen, andere Themen und andere Bücher aktuell. Er ist ausgeschrieben, überholt und wird nicht mehr beachtet. Die selbstreflexive Darstellung einer problematischen (männlichen) Künstler- und Autoridentität, einer Schreibkrise und vor allem der Marktabhängigkeit der Literatur ist ein bekanntes und etabliertes Thema der Literatur, am prominentesten durch Knut Hamsuns »Sult«, Hjalmar Söderbergs »Den allvarsamma leken« oder Herman Bangs »Stuk« vertreten. Besonders um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden Kunst und Literatur oft in ihren medialen Bedingungen und in ihrer Marktabhängigkeit reflektiert. Wenn Hammann im 21. Jahrhundert einen locker geschriebenen und lustigen Roman hinzufügt, der sich leicht liest und durchgehend ironisch und witzig ist, kann man wohl davon ausgehen, dass auch die Selbstreferenz nicht ganz ernst gemeint ist. Aber bedeutet das, dass das ganze Projekt lediglich als Witz intendiert ist? Ist es nur unterhaltsam, oder richtet sich der Stachel der Ironie gegen ernstzunehmende Gegner?

Wir kennen Kirsten Hammann seit ihrem frühen Roman »Vera Winkelvir« (1993) als ironische Sprachkünstlerin, die Klischees benutzt, um sie auszustellen, um die Artifizialität der postmodernen Existenz auszudrücken. Zunächst ging es in ihren Texten um die grotesken Zwänge, die die Weiblichkeit, den Körper und die Sprache selbst determinieren. In jüngeren Romanen wie »En dråbe i havet« (2008) oder »Alene hjemme« (2015) nimmt sie mit ihrer ironisch-distanzierten Schreibweise nicht nur ihre selbstzentrierten (meist weiblichen) Hauptpersonen in ihrem Streben nach Aufmerksamkeit und Perfektion aufs Korn, sondern auch deren Projekte: Glücksstreben, Tourismus oder Hilfsprojekte für die sog. Dritte Welt. Dabei ist sie immer sprachgewandt, witzig und durch ihre distanzierte Erzählhaltung erbarmungslos und entlarvend. Ihr ironischer oder auch satirischer Gestus kommt einer indirekten Mitteilung gleich, mit der das überzogen Dargestellte an den Pranger gestellt wird.

Für ihr Werk wurde Hammann mehrfach ausgezeichnet, 1994 erhielt sie den Klaus Rifbjerg-Preis für Lyrikdebütant:innen, 1998 und 2005 wurde sie für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert. Ihr erster Roman »Vera Winkelvir« wurde in Deutschland in der Übersetzung von Peter Urban-Halle 1996 beim Verlag Achilla-Presse publiziert. Der etwas schwächere Roman »Se på mig« (2011) erschien unter dem reißerischen Titel »Paarungsbereit« 2014 in einer Übersetzung von Flora Fink beim Münchner btb-Verlag.  Während sie in Dänemark mit Christina Hesselholdt, Helle Helle, Solvej Balle und Naja Marie Aidt zu einer starken Generation von experimentellen und viel gelesenen Autorinnen gehört, kann sie für den deutschen Literaturmarkt noch entdeckt werden.

In ihrem jüngsten Roman geht es also um Georg, der mit seinen 55 Jahren nicht mehr gefragt ist, sich ausgegrenzt und wertlos fühlt und sich in einer umfassenden Existenzkrise befindet. Noch schlimmer als seine Produktivitätskrise ist die Tatsache, dass nun seine Frau begonnen hat, einen Roman zu schreiben, der sie offensichtlich nicht nur in Euphorie versetzt, sondern zu allem Überfluss verspricht, ein Riesenerfolg zu werden. Der Verlag hat sich bereits die Rechte gesichert, indem er einen großen Vorschuss bezahlt hat. Die männliche Midlife-Crisis wird also gesteigert durch ein Ehe- und Eifersuchtsdrama, denn Georg kann die muntere Schreiberei seiner Ehefrau nicht ertragen. Ihr fröhliches Lachen, das unermüdliche Klappern der Tastatur und die gelben post-it Zettel füllen das ganze Haus, aus dem Georg sich verdrängt fühlt. Die aufmunternden Besuche des Verlagslektors geben ihm den Rest. Er versucht, ihr Projekt zu boykottieren, indem er ihr Ratschläge gibt, die sie bewusst in die Irre führen, regt sinnlose Forschungsaufgaben an, die sie verwirren, und versucht schließlich sogar, mit einer Art Voodoo-Buch den Fortschritt ihres Buches und ihren Erfolg zu verhindern. Ob und inwiefern das gelingt, soll nicht verraten werden. Auf jeden Fall ist der Handlungsverlauf von Übertreibungen geprägt und der Protagonist ist kein interessanter Charakter, sondern erfüllt das Klischee eitler und egozentrischer Männlichkeit. Doch die Satire strahlt in alle Richtungen aus: Sie betrifft nicht nur die selbstbezogene Männlichkeit und den geradezu Strindberg´schen Geschlechterkampf der Eheleute, sondern auch die therapeutischen Ratschläge, die Georg einholt, und die Apps, die er sich anschafft, um aus seinem seelischen Tief herauszukommen und wieder gute Laune zu haben. Sie zielt aber auch auf den Buchmarkt und seine gnadenlose Bestseller-Orientierung. Nur was Erfolg und Gewinn verspricht, hat auf dem Markt eine Chance und wird gefördert und beachtet. In diesem Zusammenhang bekommt auch die aktuelle Autofiktionswelle, die den Buchmarkt zurzeit beherrscht, ihr Fett weg, genauso wie das brutale Thrillergenre, an dem Georg sich jetzt versucht, um wieder Erfolg zu haben und an die Spitze zurückzukehren. Entweder muss man über perverse Serienmörder schreiben, die reihenweise Morde verüben, um Sex mit toten Frauenkörpern zu haben, oder man muss einen geisteskranken Vater haben oder Muslim und schwul sein (vgl. 14-15), um das Verlangen des Publikums nach wahren und möglichst problemerfüllten Lebensgeschichten zu befriedigen.

Der Literaturmarkt fordert unaufhörliche Innovation und funktioniert durch stetige Aufmerksamkeitserregung, die durch die Selbstinszenierung der Autor:innen in den sozialen Medien unterstützt wird. Bücher sollen verkauft und in Rezensionen angepriesen werden, was in der dänischen Tagespresse durch ein Sternesystem veranschaulicht wird, nach dem Vorbild von Reiseportalen oder online-shopping. Ein Buch wird ein Erfolg, wenn es sechs Sterne erhält, in mindestens fünf Auflagen erscheint und übersetzt wird, am liebsten »til serbisk og italiensk, på én og samme dag« (59; ins Serbische und Italienische am selben Tag). All das muss natürlich in täglichen Facebook-Posts der Autor:innen erwähnt und bekräftigt werden. Was gilt, sind nur die großen Literaturfestivals, die Fernsehinterviews, die Selfies auf Instagram, der Auslandsverkauf, die Filmrechte.

Georgs (psychischer) Komplex ist dadurch begründet, dass er ›fertig‹ ist, ausgeschrieben und außen vor, während der Problemkomplex des Textes darin liegt, dass er – auf unprätentiöse, lustige Weise – die Zusammenhänge zwischen der männlichen Krise und den Herausforderungen der alles beherrschenden Medienwelt zeigt, für die es kein Außerhalb gibt. Nichts gilt, was jenseits von Facebook und Instagram, vom Internet, seinen Apps und Bewertungen liegt, sie durchdringen alles, ihre Stimmen dringen in Georgs Bewusstsein und in seinen Alltag ein, so dass sich nicht mehr unterscheiden lässt zwischen der Realität, den Gewaltfantasien des Krimis, der Ratgeberstimme aus der Gute-Laune-App und den Instagram-Posts seiner Kollegen.

Diesen Effekt erreicht die Autorin durch ihre charakteristische Erzählweise, die wir aus anderen Texten Hammanns kennen. Wie gewohnt erzählt Hammann auch dieses Mal in der dritten Person (»Georg er færdig«, 6; Georg ist fertig) und in einer Art von erlebter Rede (aber im Präsens), so dass eine Balance von Nähe und Abstand entsteht:  »Arh, skulle Georg ikke slappe lidt af, han er så dramatisk. Nej, det skal Georg ikke. Der er jo ikke nogen, der er død. Jo, der er. Georg er blevet stukket ned bagfra« (29; Ach, sollte Georg sich nicht ein bisschen entspannen, er ist so dramatisch. Nein, das soll Georg nicht. Es ist ja niemand gestorben. Doch, ist es. Georg ist von hinten niedergestochen worden). Die Ausdrucksweise gibt die Innenperspektive des Protagonisten wieder, die dritte Person und die Übertreibungen seiner Egozentrik schaffen aber einen ironischen Abstand. Die Ambivalenz wird erhöht durch ständige Wechsel zwischen dieser Innensicht und anderen Stimmen. Da ist zum einen eine auktoriale Perspektive: »Hvor er det synd for Georg, at han altid overdriver sine problemer« (99; Georg ist zu bedauern, dass er seine Probleme immer übertreibt), da sind zum anderen kleine Dialogpassagen, die die überwiegend monologische Darstellungsweise unterbrechen. An wiederum anderen Stellen geht die Narration über in die Wiedergabe von Georgs Innenwelt, in seine Imaginationen und Wahnvorstellungen (»Åh, gud nej, Georg har smadret indgangspartiet på Statens Museum for Kunst« (13; Ach Gott, nein, Georg har den Eingangsbereich des Nationalmuseums zerstört). Auch Zitate aus der Gute-Laune-App und aus den sozialen Medien interpunktieren den Text, ohne dass all diese Stimmen jedoch durch Anführungszeichen oder Stilwechsel markiert würden, so dass ein ständiges Gleiten zwischen verschiedenen Perspektiven die Narration charakterisiert. Darüber hinaus schaffen die kurzen Erzähleinheiten, in die der Roman gegliedert ist, einerseits eine gewisse Leichtigkeit und ein hohes Tempo, sie spiegeln aber andererseits die Rastlosigkeit und die vielfältigen Herausforderungen, denen Georg sich ausgesetzt sieht. Die ständigen Wechsel sind Zeichen einer fragmentierten Welt, ähnlich dem bunten Puzzlespiel, das Georg auf seinem Mobiltelefon spielt in einem hoffnungslosen Versuch, eine Ordnung zu etablieren und Kontrolle zu gewinnen.

Auf diese Weise entsteht ein Kaleidoskop, ein fließender Übergang zwischen verschiedenen Erzählniveaus, so dass nicht immer klar ist, wer spricht. Unvermittelte, direkte, originale Gedanken oder Sätze scheint es nicht zu geben, alles scheint zitiert und vermittelt zu sein. Wir haben es also nicht nur mit einem witzigen Roman über einen egozentrischen, monomanischen und lächerlichen Mann zu tun, die ironische Darstellungsform ist auch auf die Verlagsbranche, den Literaturmarkt und vor allem die mediale Durchdringung der gegenwärtigen Gesellschaft gerichtet. Daher ist es ein weiteres selbstreflexives Zeichen, wenn Hammann, die bislang sehr zurückhaltend auf Instagram agiert hat, dort in einem kurzen Video mit »Georg-komplekset« in der Hand und folgenden Worten auftritt: »Georg skal på Instagram. Det kommer man ikke udenom nu om dage. Hvis han vil gøre sig nogensomhelst forhåbning om at få sin bestseller ud i verden, skal han være på Instagram. Køb den! Læs den! Elsk mig!« (210; Georg muss auf Instagram. Darum kommt man heutzutage nicht herum. Wenn er sich irgendeine Hoffnung machen will, seinen Bestseller in die Welt zu bringen, muss er auf Instagram sein. Kauf ihn! Lies ihn! Liebe mich!). Ist das ein Zitat aus dem Roman oder eine Reklame für das Buch? Oder Ausdruck für die ›Komplexe‹ (= Verknüpfung von verschiedenen Teilen zu einem geschlossenen Ganzen) der Mediengesellschaft?

Kirsten Hammann: Georg-komplekset, Gyldendal, 2022.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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