Entladende Begegnungen

Wer mit dem umfangreichen Werk der mittlerweile 89-jährigen Kerstin Ekman vertraut ist, wird bei der Lektüre von Löpa varg (2021, Wolf Laufen) auf viel Bekanntes stoßen. In ihrem neusten Roman greift die schwedische Autorin nämlich auf Themen und Genremerkmale zurück, die zentral in ihrer Autorinnenschaft sind: Er weist insbesondere zum Ende hin Krimielemente auf, wirft mit seiner Darstellung eines in die Jahre gekommenen Jägers, der von seiner Frau umsorgt, in der männlich-jung dominierten Jagdgemeinschaft jedoch wenig Anerkennung findet, unweigerlich auch Generations- und Genderthemen auf, und befasst sich – und das ist wohl Ekmans Hauptanliegen – mit der bedrohten Artenvielfalt in Schwedens Wäldern sowie insbesondere dem Wolf. In den Kritiken wird der Roman deshalb als Klimaroman gelobt, der das konfliktreiche Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner (tierlichen) Umwelt behandelt, wie etwa Andrea Lundgren für Göteborgs-Posten ausführt. Die Rezensionen sind fast durchgängig positiv und Ekman erfreute sich nach der Veröffentlichung mehrerer Nominierungen für Literaturpreise, darunter für den Literaturpreis des Nordischen Rates. Letzteren erhielt Anfang November dann die Dänin Solvej Balle für ihr ebenfalls auf Neues Lesen Skandinavien rezensiertes Werk Om udregning af rumfang I, II og III (2020-21, Über die Berechnung von Volumen I, II und III) – eine sicher nicht allzu schwere Niederlage für Kerstin Ekman, der man die renommierte Auszeichnung bereits 1994 für Händelser vid vatten (1993, Geschehnisse am Wasser, 1995) verliehen hatte.

Vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte einer auch in Deutschland sehr bekannten Autorin, die bereits seit Ende der 1950er Jahre veröffentlicht, liegt jedoch die Frage nahe, worin die Neuheit eines Textes besteht, der sich, wie oben erläutert, durch Rückgriffe und Variationen eines etablierten Ekmanschen Repertoires auszeichnet. Diese Schwierigkeit bewältigt die Autorin meines Ermessens insbesondere dadurch, dass sie in Löpa varg epistemologische, sprachtheoretische Fragestellungen zur Kommunikationssituation zwischen Mensch und Tier literarisch bearbeitet – wenngleich Ekman daran scheitert, diese Überlegungen für eine innovative formale Gestaltung des Romans fruchtbar zu machen.

Spurenlese

Das Thema der mensch-tierlichen Kommunikation wird schon zu Beginn von Löpa varg mehrdeutig verhandelt: Ein pensionierter Jäger und Waldbesitzer trifft kurz vor seinem 70. Geburtstag auf einen Wolf. Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans verhält sich ruhig und unauffällig – eine Begegnung mit dem wilden Tier ist nur im Sinne einer einseitigen Beobachtung möglich, der Mensch erscheint als Voyeur, als Fährtenleser, der anhand tierlicher Spuren die Bewegungen des Wolfes zu rekonstruieren versucht. Gerade Letzteres impliziert jedoch ebenso eine Subjektposition des Tieres, da sich neben dem menschlichen Ich-Erzähler auch das Tier zeichenhaft mitteilt. Einen Eindruck hinterlässt der Wolf außerdem nicht nur auf dem Waldboden, sondern mehr noch bei seinem menschlichen Beobachter: Der Protagonist fängt infolge der Begegnung an, sein Lebenswerk zu hinterfragen – insbesondere das Jagen von Tieren sowie die Abholzung weiter Gebiete seines Waldes und dessen Wiederaufforstung zur Monokultur, die Spuren also, die er selbst im Wald hinterlassen hat. So drängen sich ihm auch immer wieder Erinnerungen an Fehlschüsse in seiner Jugend auf: Bei einem Jagderlebnis im Alter von 14 Jahren läuft ihm etwa ein Hase mit einem großen Einschussloch in der Nähe des Halses davon, und auch eine Elchkuh, deren von Aasfressern gemarterten Körper er erst einige Monate später gemeinsam mit seinem Vater findet, konnte der Protagonist nicht wie geplant erlegen. Die Auseinandersetzung mit den Fehlschüssen ist für ihn schmerzhaft und er betont, nie jemandem davon erzählt zu haben.

Sprechen (über) Tiere?

Generell sind die Reflexionen des Ich-Erzählers über Mensch-Tier-Interaktionen, insbesondere die mit dem von ihm gesichteten Wolf, immer wieder verbunden mit Überlegungen zum Sprechen über Tiere. Das geschieht etwa durch eine Rückbesinnung auf die verschiedenen Bezeichnungen, die der Wolf im Schwedischen erhält. So fallen dem Protagonisten, der im Übrigen passenderweise Ulf heißt, etwa die Begriffe „Gråben“ (S. 12, Graubein/-knochen), „Tasse“ (S. 13, Pfote) oder „Slunke“ (ebd.) ein, die alle Ersatzbezeichnungen für das seiner Meinung nach lange tabuisierte Wort ‚Wolf‘ darstellen. Hier deutet sich bereits eine dem Protagonisten sehr wohl bewusste Differenz an, die im Roman nicht überbrückt werden kann: Das Tier erscheint sprachlich oft nicht greifbar und entgleitet ihm deshalb immer wieder. Mediale Darstellungen wie etwa Brehms Tierleben, mit dem sich Ulf genauer beschäftigt, sind vielmehr nur ein ungenaues Abbild der menschlichen Angst vor dem Schreckbild Wolf – so liest er bei Brehm von Wölfen, die dem Militär nachlaufen, um die Leichen der gefallenen Soldaten zu fressen. Der Wolf sei aus diesem Grund feige und listig. Darüber hinaus verschlägt es Ulf immer wieder die Sprache, wenn es um Tiere geht – er vermag es nicht, seiner Frau von der Begegnung mit dem Wolf zu erzählen, und entdeckt beim erneuten Lesen seiner alten Jagdtagebücher, dass auch seine erste Begegnung mit einem Bären, die ihm eigentlich detailreich und lebendig in Erinnerung geblieben ist, im Tagebuch nur durch zwei kurze Sätze Erwähnung findet.

Das titelgebende Phänomen des ‚Wolf-Laufens‘ macht deutlich, wie im Roman tierliche Wahrnehmung entworfen wird: In einer recht kurzen Passage erfährt man, dass Ulf sich häufiger vorstellt, ein Wolf zu sein. Diese als „löpa varg“ (S. 139) bezeichnete Metamorphose will der Protagonist zwar ganz klar vom diffusen und unzusammenhängenden Träumen unterschieden wissen, doch ob das Sich-Hineinversetzen in einen Wolf auch sprachlich dargestellt werden kann, ist nicht klar. In wenigen Passagen befindet sich Ulf in einer Art Dämmerzustand kurz vor dem Schlaf und denkt intensiv über den Wolf nach. Diese Szenen bilden die Wolfsperspektive nur insofern ab, als sie menschliche Kulturphänomene durch den Filter tierlichen Wahrnehmens und Verstehens beschreiben – so wird das Dröhnen der Schneemobile etwa zu einem lauten Knurren. Erzählt wird hingegen aus der Perspektive eines implizit menschlichen Beobachters, der zwar intern fokalisiert die Sicht des Wolfes abbildet, sich selbst aber außerhalb des Geschehens zu befinden scheint. Diese heterodiegetischen und intern fokalisierten Schilderungen ahmen ein recht klassisch gewordenes Erzählen über Tiere nach, das man aus bekannten Romanen wie etwa White Fang (1906, Wolfsblut, 1912 und später) von Jack London und auch Hunden (1986, Hundeherz, 2009) von Kerstin Ekman selbst kennt. In gewisser Weise wird dadurch der fiktionale Charakter des Erzählens über Tiere deutlich; zugleich wird – dem Motiv der Mensch-Wolf-Metamorphose zum Trotz – eine Grenze zwischen Mensch und Tier markiert, denn schließlich sind Erzählinstanz und Wolf nicht identisch. Ob es sich bei diesem ästhetischen Verfahren seitens der Autorin um eine bewusste Problematisierung der epistemologischen Differenz zwischen Mensch und Tier handelt, kann natürlich nicht beantwortet werden. Klar ist, dass Ekman durch konventionelle Erzähltechniken eine Chance zur formal experimentelleren Bearbeitung des Mensch-Tier-Themas verpasst. Gewagter gehen hier andere Autor*innen der Gegenwartsliteratur vor, etwa Charlotte Inuk mit ihrem assoziativ und fast handlungslos erzählten Roman Store dyr (2008, Große Tiere), der wohl auch wegen seiner mangelnden Zugänglichkeit in den Kritiken jedoch nur marginal wahrgenommen wurde.

Mahnende Fauna

Bei der Darstellung von Tierperspektiven bleibt Ekman zwar Anthropozentrismen verhaftet, sie erzählt im Roman allerdings auch von Formen der non-verbalen Kommunikation zwischen Mensch und Tier, die mitunter mahnenden Charakter annehmen und so den menschlichen Egozentrismus an den Pranger stellen. In einer Schlüsselszene des Romans erinnert sich der Protagonist daran, wie er auf dem Dachboden seines Hauses Mäusefallen verteilt. Als ihm dort einige alte Jagdtrophäen auffallen, wird ihm plötzlich unwohl:

Det var en dödens skog och jag var i den. Det jag kände var inte rädsla. Det var nånting värre. Stora greniga älghorn och små vassa horn efter råbockar. De grep efter mig. Jag kunde inte komma ur de dödas skog. Hornen hotade mig. Vassa näbbar och klor ville riva mig. Allt det starka och vilda i dem borde vara dött. Men nu var det ett kväljande och skrämmande hot som jag inte kunde avvärja. Ord fick jag inte fram. Inget rop heller. Jag var fast. Hornen och näbbarna trängde mig och jag kände kallsvett innanför skjortan. Nu dör jag tänkte jag. Nej, inte tänkte. Jag kände det bara. De kommer åt mitt hjärta. Mitt liv. (S. 96)

Es war ein Wald des Todes und ich befand mich darin. Was ich empfand war nicht Angst. Es war etwas Schlimmeres. Große, verzweigte Elchgeweihe und kleine, spitze Geweihe von Rehböcken. Sie griffen nach mir. Ich konnte mich dem Wald der Toten nicht entziehen. Die Geweihe bedrohten mich. Spitze Schnäbel und Klauen wollten mich reißen. All die Stärke und Wildheit in ihnen hätte tot sein sollen. Doch nun ging von ihnen eine beklemmende und furchteinflößende Bedrohung aus, die ich nicht abwehren konnte. Worte brachte ich nicht heraus. Auch keinen Schrei. Ich steckte fest. Die Geweihe und Schnäbel bedrängten mich und ich spürte den kalten Schweiß unter dem Hemd. Jetzt sterbe ich, dachte ich. Nein, ich dachte nicht. Ich spürte es nur. Sie haben es auf mein Herz abgesehen. Auf mein Leben.

Das Erzählen über tote Tiere ist im Roman mehrmals unmittelbar mit dem Herzleiden des Protagonisten verwoben. In einer anderen Passage befindet sich Ulf gerade mit einigen anderen Jägern auf der Jagd. Von einem Jägersitz aus will er einen Elch schießen, als er plötzlich einen stechenden Schmerz in der Herzgegend spürt:

En oxe med ganska skapligt horn. Studsarn var laddad och jag osäkrade. Men ännu var han för långt borta. Stod i skogskanten och nappade löv. Skymdes lite av snåret. Björk eller kanske al. Men en stor del av honom syntes i kikarsiktet. Då började han gå utefter skogskanten. Jag trodde han skulle gå in där bland granarna. Men det gjorde han inte. Han ginade lite i den sanka marken och kom närmare tornet. Nu hade jag honom. Då kom smärtan. Den var skarp och grenade sig från armen ut i bröstet. Sprängde. (S. 84) .

Ein Bulle mit recht passablem Geweih. Der Stutzen war geladen und ich entsicherte ihn. Noch war er aber zu weit weg. Stand am Waldrand und kaute Blätter. Etwas versteckt hinter dem Gestrüpp. Birke oder vielleicht Erle. Aber ein Großteil von ihm war im Zielfernrohr zu erkennen. Dann lief er am Waldrand entlang. Ich glaubte, er würde zwischen die Fichten laufen. Doch das tat er nicht. Er kürzte ein bisschen auf dem sumpfigen Boden ab und kam näher zum Jägersitz. Jetzt hatte ich ihn. Da kam der Schmerz. Er war stark und verzweigte sich vom Arm über in die Brust. Explodierte.

Ulf spritzt sich Nitroglycerin, wird von dem Medikament aber so müde, dass er an Ort und Stelle einschläft. Hierfür schämt er sich, als ihn die anderen Jäger finden. Die Umkehrung des Machverhältnisses zwischen Mensch und Tier wird in dieser Passage nur allzu deutlich. Das Schicksalhafte der Krankheit und des Sterbens und die Scham, die er als älterer Mann vor seinen munteren Jagdkollegen empfindet, kontrastieren eine ebenfalls angedeutete Form von tierlicher Handlungsmacht, wenn es wirkt, als würde der Elch den Jäger schießen und nicht andersherum.

Die Szene bei der Jagd und die auf dem Dachboden lösen bei Ulf eine Reflexion über die Abholzung der Wälder, wie sie bereits vom Urgroßvater des Protagonisten äußerst gewinnbringend betrieben wurde, und über die damit einhergehende Bedrohung der Artenvielfalt aus. Der Urgroßvater holzte teils sogar Staatswälder ab und konnte sich nur durch Bestechung einer Strafe entziehen. Um den guten Ruf der Familie zu wahren, verbrennt Ulf – zu dem Zeitpunkt noch im Glauben, damit richtig zu handeln – sämtliche Beweise.

Als wiederkehrendes Motiv durchzieht Sprachlosigkeit den Roman. Zum einen werden Tiere tendenziell außerhalb der Sphäre des Sprachlichen verortet und zum anderen verschweigt Ulf ethische und ökologische Vergehen, die entweder ihm oder seiner Familie zuzuschreiben sind, etwa die zuvor erwähnten Fehlschüsse bei der Jagd oder die Forstwirtschaft des Urgroßvaters. Gebrochen wird dieses Schweigen dadurch, dass der Ich-Erzähler seine Reflexionen und Erlebnisse verschriftlicht und damit auch einer impliziten Leser*innenschaft mitteilt. Umso überraschender erscheint deshalb das Ende des Romans, in dem sich das bereits kritisch hinterfragte und vermeintlich abgelegte Verhalten in ähnlicher Weise wiederholt: Als Ulf erfährt, dass der Wolf, den er zu Beginn des Romans beobachtet hatte, ohne offizielle Erlaubnis erlegt worden ist, entscheidet er sich gegen eine Anzeige bei der Polizei und versucht stattdessen, den noch jugendlichen Täter in einem persönlichen Gespräch zur kritischen Selbstreflexion zu bewegen. In gewisser Weise wird die Vormachtstellung des Menschen, die durch die Erlebnisse und Gedanken des Protagonisten im Laufe des Romans durchaus ins Wanken gerät, zum Ende von Löpa varg also wiederhergestellt.

Kerstin Ekman: Löpa varg, Stockholm: Bonnier, 2021.

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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Die Komplexe der Mediengesellschaft

Handelt es sich um einen selbstreflexiven Gestus, gar ein Bekenntnis, oder um einen typischen Hammann-Witz, wenn die seit dreißig Jahren erfolgreiche und mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin im Alter von 55 Jahren einen Roman über einen 55-jährigen Schriftsteller veröffentlicht, der nach dreißig Jahren an der Spitze »færdig« (6; fertig) und nicht mehr gefragt ist und in einer tiefen Schreib- und Existenzkrise steckt? Ihre Hauptperson Georg war ein Stern auf dem literarischen Parnass, seine Bücher wurden in hohen Auflagen gedruckt und in viele Sprachen übersetzt, doch jetzt sind andere Autor:innen, andere Themen und andere Bücher aktuell. Er ist ausgeschrieben, überholt und wird nicht mehr beachtet. Die selbstreflexive Darstellung einer problematischen (männlichen) Künstler- und Autoridentität, einer Schreibkrise und vor allem der Marktabhängigkeit der Literatur ist ein bekanntes und etabliertes Thema der Literatur, am prominentesten durch Knut Hamsuns »Sult«, Hjalmar Söderbergs »Den allvarsamma leken« oder Herman Bangs »Stuk« vertreten. Besonders um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden Kunst und Literatur oft in ihren medialen Bedingungen und in ihrer Marktabhängigkeit reflektiert. Wenn Hammann im 21. Jahrhundert einen locker geschriebenen und lustigen Roman hinzufügt, der sich leicht liest und durchgehend ironisch und witzig ist, kann man wohl davon ausgehen, dass auch die Selbstreferenz nicht ganz ernst gemeint ist. Aber bedeutet das, dass das ganze Projekt lediglich als Witz intendiert ist? Ist es nur unterhaltsam, oder richtet sich der Stachel der Ironie gegen ernstzunehmende Gegner?

Wir kennen Kirsten Hammann seit ihrem frühen Roman »Vera Winkelvir« (1993) als ironische Sprachkünstlerin, die Klischees benutzt, um sie auszustellen, um die Artifizialität der postmodernen Existenz auszudrücken. Zunächst ging es in ihren Texten um die grotesken Zwänge, die die Weiblichkeit, den Körper und die Sprache selbst determinieren. In jüngeren Romanen wie »En dråbe i havet« (2008) oder »Alene hjemme« (2015) nimmt sie mit ihrer ironisch-distanzierten Schreibweise nicht nur ihre selbstzentrierten (meist weiblichen) Hauptpersonen in ihrem Streben nach Aufmerksamkeit und Perfektion aufs Korn, sondern auch deren Projekte: Glücksstreben, Tourismus oder Hilfsprojekte für die sog. Dritte Welt. Dabei ist sie immer sprachgewandt, witzig und durch ihre distanzierte Erzählhaltung erbarmungslos und entlarvend. Ihr ironischer oder auch satirischer Gestus kommt einer indirekten Mitteilung gleich, mit der das überzogen Dargestellte an den Pranger gestellt wird.

Für ihr Werk wurde Hammann mehrfach ausgezeichnet, 1994 erhielt sie den Klaus Rifbjerg-Preis für Lyrikdebütant:innen, 1998 und 2005 wurde sie für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert. Ihr erster Roman »Vera Winkelvir« wurde in Deutschland in der Übersetzung von Peter Urban-Halle 1996 beim Verlag Achilla-Presse publiziert. Der etwas schwächere Roman »Se på mig« (2011) erschien unter dem reißerischen Titel »Paarungsbereit« 2014 in einer Übersetzung von Flora Fink beim Münchner btb-Verlag.  Während sie in Dänemark mit Christina Hesselholdt, Helle Helle, Solvej Balle und Naja Marie Aidt zu einer starken Generation von experimentellen und viel gelesenen Autorinnen gehört, kann sie für den deutschen Literaturmarkt noch entdeckt werden.

In ihrem jüngsten Roman geht es also um Georg, der mit seinen 55 Jahren nicht mehr gefragt ist, sich ausgegrenzt und wertlos fühlt und sich in einer umfassenden Existenzkrise befindet. Noch schlimmer als seine Produktivitätskrise ist die Tatsache, dass nun seine Frau begonnen hat, einen Roman zu schreiben, der sie offensichtlich nicht nur in Euphorie versetzt, sondern zu allem Überfluss verspricht, ein Riesenerfolg zu werden. Der Verlag hat sich bereits die Rechte gesichert, indem er einen großen Vorschuss bezahlt hat. Die männliche Midlife-Crisis wird also gesteigert durch ein Ehe- und Eifersuchtsdrama, denn Georg kann die muntere Schreiberei seiner Ehefrau nicht ertragen. Ihr fröhliches Lachen, das unermüdliche Klappern der Tastatur und die gelben post-it Zettel füllen das ganze Haus, aus dem Georg sich verdrängt fühlt. Die aufmunternden Besuche des Verlagslektors geben ihm den Rest. Er versucht, ihr Projekt zu boykottieren, indem er ihr Ratschläge gibt, die sie bewusst in die Irre führen, regt sinnlose Forschungsaufgaben an, die sie verwirren, und versucht schließlich sogar, mit einer Art Voodoo-Buch den Fortschritt ihres Buches und ihren Erfolg zu verhindern. Ob und inwiefern das gelingt, soll nicht verraten werden. Auf jeden Fall ist der Handlungsverlauf von Übertreibungen geprägt und der Protagonist ist kein interessanter Charakter, sondern erfüllt das Klischee eitler und egozentrischer Männlichkeit. Doch die Satire strahlt in alle Richtungen aus: Sie betrifft nicht nur die selbstbezogene Männlichkeit und den geradezu Strindberg´schen Geschlechterkampf der Eheleute, sondern auch die therapeutischen Ratschläge, die Georg einholt, und die Apps, die er sich anschafft, um aus seinem seelischen Tief herauszukommen und wieder gute Laune zu haben. Sie zielt aber auch auf den Buchmarkt und seine gnadenlose Bestseller-Orientierung. Nur was Erfolg und Gewinn verspricht, hat auf dem Markt eine Chance und wird gefördert und beachtet. In diesem Zusammenhang bekommt auch die aktuelle Autofiktionswelle, die den Buchmarkt zurzeit beherrscht, ihr Fett weg, genauso wie das brutale Thrillergenre, an dem Georg sich jetzt versucht, um wieder Erfolg zu haben und an die Spitze zurückzukehren. Entweder muss man über perverse Serienmörder schreiben, die reihenweise Morde verüben, um Sex mit toten Frauenkörpern zu haben, oder man muss einen geisteskranken Vater haben oder Muslim und schwul sein (vgl. 14-15), um das Verlangen des Publikums nach wahren und möglichst problemerfüllten Lebensgeschichten zu befriedigen.

Der Literaturmarkt fordert unaufhörliche Innovation und funktioniert durch stetige Aufmerksamkeitserregung, die durch die Selbstinszenierung der Autor:innen in den sozialen Medien unterstützt wird. Bücher sollen verkauft und in Rezensionen angepriesen werden, was in der dänischen Tagespresse durch ein Sternesystem veranschaulicht wird, nach dem Vorbild von Reiseportalen oder online-shopping. Ein Buch wird ein Erfolg, wenn es sechs Sterne erhält, in mindestens fünf Auflagen erscheint und übersetzt wird, am liebsten »til serbisk og italiensk, på én og samme dag« (59; ins Serbische und Italienische am selben Tag). All das muss natürlich in täglichen Facebook-Posts der Autor:innen erwähnt und bekräftigt werden. Was gilt, sind nur die großen Literaturfestivals, die Fernsehinterviews, die Selfies auf Instagram, der Auslandsverkauf, die Filmrechte.

Georgs (psychischer) Komplex ist dadurch begründet, dass er ›fertig‹ ist, ausgeschrieben und außen vor, während der Problemkomplex des Textes darin liegt, dass er – auf unprätentiöse, lustige Weise – die Zusammenhänge zwischen der männlichen Krise und den Herausforderungen der alles beherrschenden Medienwelt zeigt, für die es kein Außerhalb gibt. Nichts gilt, was jenseits von Facebook und Instagram, vom Internet, seinen Apps und Bewertungen liegt, sie durchdringen alles, ihre Stimmen dringen in Georgs Bewusstsein und in seinen Alltag ein, so dass sich nicht mehr unterscheiden lässt zwischen der Realität, den Gewaltfantasien des Krimis, der Ratgeberstimme aus der Gute-Laune-App und den Instagram-Posts seiner Kollegen.

Diesen Effekt erreicht die Autorin durch ihre charakteristische Erzählweise, die wir aus anderen Texten Hammanns kennen. Wie gewohnt erzählt Hammann auch dieses Mal in der dritten Person (»Georg er færdig«, 6; Georg ist fertig) und in einer Art von erlebter Rede (aber im Präsens), so dass eine Balance von Nähe und Abstand entsteht:  »Arh, skulle Georg ikke slappe lidt af, han er så dramatisk. Nej, det skal Georg ikke. Der er jo ikke nogen, der er død. Jo, der er. Georg er blevet stukket ned bagfra« (29; Ach, sollte Georg sich nicht ein bisschen entspannen, er ist so dramatisch. Nein, das soll Georg nicht. Es ist ja niemand gestorben. Doch, ist es. Georg ist von hinten niedergestochen worden). Die Ausdrucksweise gibt die Innenperspektive des Protagonisten wieder, die dritte Person und die Übertreibungen seiner Egozentrik schaffen aber einen ironischen Abstand. Die Ambivalenz wird erhöht durch ständige Wechsel zwischen dieser Innensicht und anderen Stimmen. Da ist zum einen eine auktoriale Perspektive: »Hvor er det synd for Georg, at han altid overdriver sine problemer« (99; Georg ist zu bedauern, dass er seine Probleme immer übertreibt), da sind zum anderen kleine Dialogpassagen, die die überwiegend monologische Darstellungsweise unterbrechen. An wiederum anderen Stellen geht die Narration über in die Wiedergabe von Georgs Innenwelt, in seine Imaginationen und Wahnvorstellungen (»Åh, gud nej, Georg har smadret indgangspartiet på Statens Museum for Kunst« (13; Ach Gott, nein, Georg har den Eingangsbereich des Nationalmuseums zerstört). Auch Zitate aus der Gute-Laune-App und aus den sozialen Medien interpunktieren den Text, ohne dass all diese Stimmen jedoch durch Anführungszeichen oder Stilwechsel markiert würden, so dass ein ständiges Gleiten zwischen verschiedenen Perspektiven die Narration charakterisiert. Darüber hinaus schaffen die kurzen Erzähleinheiten, in die der Roman gegliedert ist, einerseits eine gewisse Leichtigkeit und ein hohes Tempo, sie spiegeln aber andererseits die Rastlosigkeit und die vielfältigen Herausforderungen, denen Georg sich ausgesetzt sieht. Die ständigen Wechsel sind Zeichen einer fragmentierten Welt, ähnlich dem bunten Puzzlespiel, das Georg auf seinem Mobiltelefon spielt in einem hoffnungslosen Versuch, eine Ordnung zu etablieren und Kontrolle zu gewinnen.

Auf diese Weise entsteht ein Kaleidoskop, ein fließender Übergang zwischen verschiedenen Erzählniveaus, so dass nicht immer klar ist, wer spricht. Unvermittelte, direkte, originale Gedanken oder Sätze scheint es nicht zu geben, alles scheint zitiert und vermittelt zu sein. Wir haben es also nicht nur mit einem witzigen Roman über einen egozentrischen, monomanischen und lächerlichen Mann zu tun, die ironische Darstellungsform ist auch auf die Verlagsbranche, den Literaturmarkt und vor allem die mediale Durchdringung der gegenwärtigen Gesellschaft gerichtet. Daher ist es ein weiteres selbstreflexives Zeichen, wenn Hammann, die bislang sehr zurückhaltend auf Instagram agiert hat, dort in einem kurzen Video mit »Georg-komplekset« in der Hand und folgenden Worten auftritt: »Georg skal på Instagram. Det kommer man ikke udenom nu om dage. Hvis han vil gøre sig nogensomhelst forhåbning om at få sin bestseller ud i verden, skal han være på Instagram. Køb den! Læs den! Elsk mig!« (210; Georg muss auf Instagram. Darum kommt man heutzutage nicht herum. Wenn er sich irgendeine Hoffnung machen will, seinen Bestseller in die Welt zu bringen, muss er auf Instagram sein. Kauf ihn! Lies ihn! Liebe mich!). Ist das ein Zitat aus dem Roman oder eine Reklame für das Buch? Oder Ausdruck für die ›Komplexe‹ (= Verknüpfung von verschiedenen Teilen zu einem geschlossenen Ganzen) der Mediengesellschaft?

Kirsten Hammann: Georg-komplekset, Gyldendal, 2022.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Formen des (Ver)Schweigens

Ann-Helén Laestadius ist bisher vor allem als Journalistin und Kinder- und Jugendbuchautorin von u.a. SMS från Soppero (2007) und Tio över ett (2016) bekannt. Mit Stöld (2021, dt. Das Leuchten der Rentiere, übersetzt von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt) hat sie nun ihren ersten Roman für ein erwachsenes Publikum vorgelegt.

Der Roman verhandelt die Situation der Sámi in Schweden und greift dabei eine ganze Bandbreite von Themen auf, mit denen die indigene Bevölkerung im Norden zu kämpfen hat: von der existentiellen Bedrohung durch den Klimawandel bis zu den Folgen der Zwangsumsiedlungen der Sámi. Es ist ein Buch über Identität, über Trauma, Depression, Suizid, Trauer, Einsamkeit und Alkoholismus; zugleich entwickelt es sich nebenbei auch zu einer Kriminalgeschichte.

Im Mittelpunkt steht der Hass, mit dem die Sámi alltäglich konfrontiert werden und der sich im Roman unter anderem in der gezielten Quälerei und Tötung ihrer Rentiere ausdrückt, sich aber längst nicht darauf beschränkt. Sowohl online als auch offline sind sie Hasskommentaren und Beleidigungen ausgesetzt, die teilweise auch in gewalttätige Übergriffe übergehen.

Ska man ha sådana rättigheter ska man fan leva på skogen och renarna där och inte vara på LKAB [Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag] och håna hela samhället med alla bidrag en jävla människa kan få. Lösningen blir att skjuta det man ser, inga renar=inga rättigheter. (S. 322)

Wenn man dieses Recht für sich beansprucht, sollte man auch vom Wald und den Rentieren leben und nicht bei LKAB [Abkürzung für das schwedische Bergbauunternehmen Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag] arbeiten und die Gesellschaft verarschen, indem man sämtliche Sozialleistungen abgreift, die es gibt. Die Lösung lautet alles abzuschießen, was einem vor die Flinte kommt. Keine Rentiere = keine Sonderrechte. (S. 326)

Vor dem Hintergrund dieser Aggressionen wird die Geschichte von Elsa und ihrer Familie erzählt, die von der Rentierzucht lebt: Als neunjähriges Mädchen wird Elsa Augenzeugin, wie ein Mann aus der Nachbarschaft ihr Rentierkalb Nastegallu tötet. Der Täter schüchtert sie so ein, dass sie sich nicht traut, jemandem von ihrer Beobachtung zu erzählen. Stattdessen behauptet sie, nichts gesehen zu haben. Hin- und hergerissen zwischen Gewissensbissen – man soll nicht lügen, hat die Oma ihr eingeschärft – und der Angst vor dem Täter sucht sie nach Orientierung, die sie aber weder bei ihrer einzigen Freundin Anna-Stina noch bei den Erwachsenen in ihrer Familie findet.

Unterdessen tötet der Täter, der längst nicht mehr allein handelt, weitere Rentiere der Sámi-Familien der Gegend, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Denn da das Töten von Rentieren strafrechtlich nur als Diebstahl verfolgt wird, wird den Fällen nur eine niedrige Priorität eingeräumt, und sämtliche Ermittlungen werden nach kurzer Zeit eingestellt. Obwohl alle wissen, wer für die Übergriffe verantwortlich ist, geschieht nichts. Die Polizei, so scheint es, hat kein Interesse an einer Aufklärung, sodass sich immer wieder der Verdacht aufdrängt, sie würde mit den Tätern sympathisieren.

Tradition, Tabu und Trauma

Der Roman ist in drei Teilen angelegt. Im ersten wird zunächst vermittelt, wie die kindliche Protagonistin mit dem Hass gegen die Sámi konfrontiert wird, bevor sie dann im zweiten und dritten Teil als junge Frau versucht, diesen Anfeindungen etwas entgegenzusetzen, indem sie die Öffentlichkeit sucht und Druck auf die Polizei ausübt.

Bei diesem Versuch werden zugleich aber auch die Probleme innerhalb der samischen Gemeinschaft aufgedeckt: Während die starren patriarchalen Strukturen der Sámi fordern, dass jeweils der älteste Sohn die Rentierherde übernimmt, steht den Frauen innerhalb der Gemeinschaft nur die Rolle als Hausfrau und Mutter zu. Obwohl nur eine Minderheit der jüngeren Sámi mit ihrer jeweils zugeschriebenen Rolle zufrieden ist, begehrt einzig Elsa dagegen auf, übernimmt zentrale Aufgaben der Männer bei der Rentierhaltung und stellt die traditionelle Rollenverteilung immer wieder in Frage.

Det var inte det att hon som tjej inte fick vara med alls, alla i familjen behövdes till skiljningar, kalvmärkningar och slakt, men de hade förstås sina tydligt uppdelade roller, om gubbarna fick bestämma. Och det var den föreskrivit manliga rollen Elsa vill ha. Helt på egen hand. (S. 205)

Es war nicht so, dass sie als Mädchen überhaupt nicht mitmachen durfte, alle in der Familie wurden bei den Scheidungen, Markierungen der Kälber und beim Schlachten gebraucht, aber natürlich besaßen sie ihre klar verteilten Rollen, solange die Kerle das Sagen hatten. Und die vorgeschriebene Männerrolle war es, die Elsa haben wollte. Ganz auf eigene Rechnung leben und arbeiten. (S. 204)

Elsas besondere Rolle in der Gemeinschaft wird zusätzlich durch zwei weitere Zuschreibungen markiert. Da die Familie mütterlicherseits keine Rentierzüchter waren und sich aus der samischen Gemeinschaft zurückgezogen haben, wird auch die Zugehörigkeit Elsas immer wieder in Frage gestellt. Vor allem in der Schule wird sie von den anderen Kindern deswegen ausgegrenzt. Gleichzeitig werden ihr aber heilende Kräfte nachgesagt, die ihr Großvater (väterlicherseits) angeblich auf sie übertragen habe. Darüber darf aber nicht geredet werden und auch der Text hüllt sich – abgesehen von der Erwähnung dieser Zuschreibung durch die anderen Dorfbewohner:innen – in Schweigen über diese Kräfte.

Aus ganz anderen Gründen, aber dennoch genauso vehement, werden anfänglich die traumatischen Kindheitserfahrungen der Großmutter verschwiegen. Erst als die Großmutter im Alter an Demenz erkrankt und sich immer häufiger geistig in ihrer Kindheit befindet, wird das Trauma aufgedeckt, das die Gewalterfahrungen und das Verbot der samischen Sprache in der Schule bei ihr hinterlassen haben. ‚Jag kan inte prata svenska, jag kan inte‘, gnydde áhkku och gungade fram och tillbaka.” (S. 238) / „‚Ich kann kein Schwedisch sprechen, ich kann nicht‘, wimmerte Áhkku und schaukelte vor und zurück.“ (S. 241)

„Och då slår hon mig. Hårt. Här.” Áhkku la en hand på sitt bakhuvud. „Men kanske hon också river av mitt hår. Det får hon inte. Det är redan så tunt.” Hennes ögon tårades och hon klappade hårt på väskan igen. (S. 237)

„Und dann schlägt sie mich. Fest. Hier.“ Áhkku fasste sich mit der Hand an den Hinterkopf. „Aber vielleicht reißt sie mir auch die Haare aus. Das darf sie nicht. Die sind doch schon so dünn.“ Tränen traten in ihre Augen, und sie klopfte wieder fest auf ihre Tasche. (S. 240)

Psychische Gesundheit

Aus verschiedenen Perspektiven behandelt der Text die psychischen Probleme und Suchterkrankungen, von denen alle Figuren auf die ein oder andere Weise betroffen sind – sei es als Erkrankte oder als Angehörige oder Befreundete einer erkrankten Person. Anders als man zunächst vielleicht erwarten würde, beschränkt sich der Text hier nicht nur auf die Sámi, sondern geht auch auf die Suchtprobleme des Täters Robert Isaksson ein, der die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht anerkennt und sich im Alkoholrausch in Gewaltphantasien hineinsteigert.

Obwohl die Figuren über ihre Schwierigkeiten nicht reden (wollen), werden diese Probleme im Text wiederholt im Detail thematisiert und ihr Einfluss auf die Beziehungen der Figuren untereinander – auch im Hinblick auf den Generationenkonflikt – untersucht. Im Fokus stehen dabei unter anderem problematische Mutter-Tochter-Beziehungen wie die von Anna-Stina und ihrer Mutter Hanna. In einer medizinischen Notsituation fordert Anna-Stina Hanna auf, endlich ihre Mutterrolle einzunehmen, und bringt damit deren jahrelange geistige Abwesenheit endlich zur Sprache:

Men egentligen ville hon [Hanna] slita sig loss, öppna dörren, springa och aldrig se sig om igen. Det här klarade hon inte. Anna-Stina nöp hårdare tag om hennes händer och stirrade henne i ögonen. „Du måste vara min mamma nu! Du måste!” (S. 378)

Aber eigentlich wollte sie [Hanna] sich losreißen, die Tür öffnen, losrennen und nicht mehr zurückschauen. Dieser Situation war sie nicht gewachsen. Anna-Stina umklammerte ihre Hände noch fester und starrte ihr in die Augen. „Du musst jetzt meine Mutter sein! Du musst!” (S. 383)

Immer wieder verweisen die betroffenen Figuren darauf, dass es sich nicht lohne, Hilfe zu suchen – sie sei ohnehin nicht vorhanden. Doch auch wenn professionelle Hilfe nicht vor Ort, sondern weit weg in Norwegen zu finden ist, so kann sie am Ende – nachdem endlich offen über die Probleme gesprochen wurde – organisiert werden. Zumindest für einige Figuren besteht so am Ende Hoffnung auf Veränderung.

Die Situation der indigenen Gemeinschaft Schwedens hat in der schwedischen Literatur lange Zeit wenig Beachtung gefunden. In den letzten Jahren haben aber gleich zwei der Werke, die sich dieser Thematik widmen, sogar den renommierten Augustpris erhalten: Elin Anna Labbas Herrarna satte oss hit, 2020 (Rezension von Hannah Nüchtern am 3. Februar 2021 auf Neues Lesen) und Linnea Axelssons Aednan, 2018. Laestadius’ Beitrag kommt im Vergleich mitunter leider recht plakativ daher. Lesenswert ist der Roman aber dennoch, weil er nachvollziehbar macht, wie die Folgen der Zwangsumsiedlungen der Sámi, psychische Probleme, Fremdenfeindlichkeit und die Herausforderungen durch den Klimawandel ineinander spielen – und eben nicht zuletzt, weil ihr mit Stöld eine spannende Kriminalgeschichte gelungen ist.

Ann-Helén Laestadius: Stöld. Stockholm: Romanus & Selling, 2021.

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2022.

(Karolin Pohle, Universität zu Köln)

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