Kirsten Hammann: Se på mig

Seit Kirsten Hammann 1993 mit dem experimentellen Roman Vera Winkelvir um ersten Mal eine literarische Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machte, hat sie sich als eine der wichtigsten dänischen Gegenwartsautorinnen etabliert. Während ihr letzter Roman (En dråbe i havet, 2008) ein origineller Beitrag zu dem politisch aktuellen Thema Globalisierung & Literatur war, scheint der im August 2011 publizierte Roman Se på mig auf den ersten Blick ein eher traditionelles, psychologisch ausgerichtetes Doppelporträt der beiden Protagonisten Julie und Sune auszumachen. Es geht um die zufällige Bekanntschaft der beiden – sie sucht kurzfristig einen Untermieter und er ein Zimmer -, um ihre graduelle Annäherung und Liebesbeziehung – die zu heftigen und ausführlich beschriebenen Sex-Szenen führt – und vor allem um den Selbstbetrug und die Lebenslügen der beiden – sie orientiert sich an Schönheitstipps in Frauenzeitschriften und sucht bürgerliches Ehe- und Kinderglück, ihm genügen one night stands auf seinem Weg zum großen schriftstellerischen Erfolg.

Handlung und Problemstellung sind also eher konventionell, auf 460 Seiten wird eine recht alltägliche Geschichte sprachlich elegant, inhaltlich nachvollziehbar, doch mit durchaus komischen und zur Distanz einladenden Zügen beschrieben; die Kritik sprach von einer »kærlighedskomedie«. Schnell durchschaut man die Illusionen der beiden durchaus nicht unsympathischen und wieder erkennbaren Figuren, es braucht aber nicht viel literarischer Erfahrung um zu erkennen, dass Julis Verlobter, der sich nach Indien abgesetzt hat, nicht zu ihr zurückkommen wird, und dass Sune auch der perfekt aufgeräumte Schreibtisch auf dem Weg zum Erfolg nichts nützen wird. Ein anspruchsvoller Unterhaltungsroman also, der sich literarisch durch zwei Verfahren auszeichnet, die ihn dann doch vom mainstream unterscheiden.

Der erste Erzähltrick ist der ständige Wechsel der Perspektive zwischen den beiden Protagonisten. Da sie jeweils die Fokalisierungsinstanz in den auf sie bezogenen Abschnitten darstellen, kann der Leser/die Leserin sowohl ihre Sicht auf die Dinge nachvollziehen als auch – sehr bald – ihren Selbstbetrug entlarven sowie auch die Bewegung der beiden aufeinander zu schon viel eher erkennen als die in ihrem Wahrnehmungsnetz gefangenen Personen. Diese Bewegung der Annäherung führt zu gemeinsamen Mahlzeiten, zunehmender Sympathie, Fürsorge, erotischer Anziehung und schließlich zu sehr viel Sex. Die detailliert geschilderten Liebesszenen erhalten ihre Pointe durch die völlig unterschiedliche Bedeutung, die dieselben und sogar zur selben Zeit miteinander ausgeführten Handlungen für die beiden Personen haben. Selbst das intimste Miteinander lässt sie also in ihren Wahrnehmungszirkeln verharren. Erst die Erzählperspektive bringt also die psychologisch eindringliche Schilderung zweier moderner Tagträumer hervor.

Hinzu kommt die Tatsache, dass es sich bei Sunes Traum um ein zunächst illusionär erscheinendes schriftstellerisches Projekt handelt. Insofern handelt dieser Roman nicht zuletzt auch vom Romaneschreiben bzw. von Schreibblockaden und vor allem vom Stoffmangel. Während Sune verzweifelt nach einem Stoff sucht, Ratgeberbücher für Krimiautoren zu Rate zieht und sogar Spionagewerkzeug für Detektive kauft, um seine Vermieterin zu beobachten und möglicherweise eine spannungsvolle Handlung zu entdecken, ergibt sich unter der Hand und ganz von selbst ein Stoff, den sein eigenes und das Leben Julis ihm ganz ohne (im Teddy versteckte) Beobachtungskamera darbietet. Nachdem die Entdeckung der Kamera zum Bruch der Beziehung geführt hat, offenbart eine Schlusspassage, dass Sune zwei Jahre später wirklich einen Roman veröffentlicht, mit dem sich sein Traum vom Erfolg erfüllt hat. Für die Lesenden wirft das die Frage auf, ob es eben dieser Roman ist, den sie vor sich haben, ob es gerade der im vorliegenden Text dargestellte Alltag war, der dem nach Spannung suchenden Autor seinen Stoff geliefert hat. Dahinter steht die grundsätzlichere Frage, was denn überhaupt Stoff für einen (großen/erfolgreichen) Roman sein kann, womit sich dieser Roman selbst implizit und selbstironisch in Frage stellt.

Und noch etwas: Da Sune sich durch die Installation einer versteckten Kamera Zugang zu spannenden Details aus Julis Leben verschaffen wollte (was letztlich nicht gelingt, aber schon deswegen ironisch ist, weil Juli stets alles daran setzt, gesehen zu werden), nimmt er auch seinen eigenen Voyeurismus aufs Korn, denn nichts anderes als das neugierige und möglicherweise genießerische Eindringen in die Intimsphäre anderer stellt schließlich die detailliert ausgemalte Beschreibung sexueller Begegnungen dar. Indem das Thema Voyeurismus aufgerufen und als vergeblich und absurd abgestempelt wird, entfaltet Hammanns Roman eine weitere selbstreflexive Ebene, die auch den Leser in den ironisierenden Gestus einbezieht. Also doch wenn auch kein großer, ein selbstironisch- raffinierter und vergnüglicher Roman!

Kirsten Hammann: Se på mig. Gyldendal, 2011.
(Annegret Heitmann, z.Zt Umeå,  Oktober 2011)

In Dänemark veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Nina Lykke: Orgien, og andre fortellinger

„And welcome to the land of the bleeding obvious“. Nina Lykkes Kurzprosaband Orgien, og andre fortellinger (2010)

Die Textsammlung von Nina Lykke ist ein Debutwerk, das von drei norwegischen Tageszeitungen mit der Auszeichnung „Årets beste bøker 2010“ versehen worden ist. Dagbladet verwendet das schillernde Adjektiv „knalltøff“ (krass), Klassekampen rühmt den schrägen Humor, während Bergens Tidende einfach das ‚gelungene’ Debut würdigt.

In Lykkes Geschichten sind die Figuren tragisatirisch – zahlreiche von ihnen sind im Alltag verschollen, einige plötzlich zu drastischen Veränderungen bereit. Alle scheinen miteinander vereint durch die hintergründige Annahme einer norwegischen Normalbiographie, der sie vergeblich entgegenstreben oder von der sie sich bewusst oder unwillentlich absetzen wollen. Dabei werden generationsspezifische Lebensphasen herausmodelliert, deren jeweilige Stimmungskurve eher absinkt. Krisen rund um die sogenannte Lebensmitte, die bekanntlich – und erfreulicherweise – inzwischen selbst schon mehrere Jahrzehnte umfasst, bringen es an den Tag: Der Zugewinn an Reife während des Alterns wird durch den Verlust an Macht, sogar an Respekt und Würde, leider mehr als aufgewogen – und hiervon sind sowohl die weiblichen als auch die männlichen Charaktere in Orgien betroffen. Einige Figuren haben indessen noch weitere Gemeinsamkeiten, denn es treten drei soziokulturelle Praktiken gehäuft auf: das Weinen, der Verzehr von Tiefkühlkost und das exaltierte Reden. Diese Tätigkeiten konstituieren eine temporäre Ich-Identität und geben Aufschluss über die Machtverteilung in den Figurenkonstellationen.

Die Erzählungen selbst ordnen sich infolge der ausgetragenen Konflikte zu Textpaaren an. So stehen beispielsweise „Arne“ und „Langtidssykemelding“ in einem Dialog, und die beiden Protagonisten Arne und Turid einander gegenüber: hat Arne – um die 50 – den Neuanfang mit einer jugendlichen Geliebten gewagt, sieht sich aber zu misslichen Zugeständnissen gezwungen, da sein Alter ihn in eine unterlegene Position bringt:

Hver morgen drikker de kaffe på sengen mens de snakker om drømmene til Maria. Arne er unenig. Arne mener at drømmer er åndelig avfall, en slags sjelens avføring det ikke er bryet verdt å befatte seg med. Men dette sier han ikke til Maria. Når Maria forteller at hun drømte at hun satt naken på trikken og et det kom tre ekorn inn i vognen og begynte å skyte på henne med bittesmå maskingevær, legger Arne ansiktet i ettertenksomme folder. Heldigvis trenger han ikke å si så mye, han kan bare komme med småord, som: Hm …. Jeg vet ikke, men kanskje … for så avbryter Maria ham straks og fortsetter sin egen tankerekke, og Arne kan slappe av igjen. (S. 7f.)

Jeden Morgen trinken sie Kaffee im Bett, während sie über Marias Träume sprechen. Arne ist nicht ihrer Auffassung. Arne findet, dass Träume geistiger Abfall sind, eine Art Exkrement der Seele, nicht der Mühe wert, sich damit zu befassen. Aber das sagt er Maria nicht. Als Maria erzählt, sie habe geträumt, sie säße nackt in der Straßenbahn, und drei Eichhörnchen wären eingestiegen und hätten mit winzigen Maschinengewehren auf sie geschossen, legt Arne sein Gesicht in nachdenkliche Falten. Zum Glück braucht er nicht viel zu sagen, kurze Bemerkungen reichen aus wie ‚Hm…’, ‚Ich weiß nicht, aber vielleicht….’, weil Maria ihn dann sofort unterbricht und ihren eigenen Gedankengang fortsetzt, so dass Arne sich wieder entspannen kann.

Polemisiert wird hier nicht nur gegen den Jugendwahn, sondern auch gegen die pseudoprofessionelle Psychologisierung des Alltagslebens, doch Lykkes leichtgängige satirische Form steht in einem elementaren Unterschied zur bitteren Ironie, wie man sie in Trude Marsteins oder Hanne Ørstaviks Texten antreffen kann. Hiermit sind allerdings Risiken verbunden: Zum einen tritt die Typenhaftigkeit vieler Figuren im Prozess humoristischer Selbstentlarvung hervor. Zum anderen kommt es zu einer tendenziellen Selbstsabotage des Genres, indem signalisiert wird, dass auch die sozialrealistische Kritik mit einer gewissen humoristischen Distanz zu betrachten sei (siehe auch das Zitat in meinem Titel, das von der Figur Arne stammt). Sowohl die Zusammensetzung der Sozialgalerie als auch die alltagsnah inszenierte Schreibweise mit ihren Zuspitzungen und Übertreibungen verleihen den Erzählungen nämlich einen Retro-Charme der 1970er Jahre.

Arnes Pendant Turid hingegen sammelt in der Erzählung „Langtidssykemelding“ ihre letzten Reserven für den Ausstieg. Indem sie sich mittels Krankschreibung neue Wege eröffnet, gelingt es der erschöpften Lehrerin und alleinerziehenden Mutter von drei verwöhnten Söhnen aus dem eingefahrenen System altruistischer Selbstausbeutung und auf eine spanische Ferieninsel zu fliehen. In Turids Alltagsdämmerung wird das mögliche Glück infolge einer befreienden De-Familialisierung durch die leeren Pathosformeln in einer Reality-TV-Sendung kontrafaktisch hervorgehoben:

Turid sitter i sofaen og spiser pølser og ser på et program om en syk og fattig familie som har fått renovert huset på tv-selskapets regning. Den skallede datteren med blodkreft smiler mens tårene triller og den lamme bestemoren sitter i rullestolen og gjemmer ansiktet i rynkete hender. Til og med de minste barna åpner munnene i store O’er og legger håndflatene langs kinnene, sperrer opp øynene. (S. 140f.)

Turid sitzt auf dem Sofa und isst Würstchen und schaut sich ein Programm mit einer kranken und armen Familie an, deren Haus auf Kosten des Fernsehsenders renoviert worden ist. Das glatzköpfige Mädchen mit Leukämie lächelt, während die Tränen fließen und die gelähmte Oma im Rollstuhl ihr Gesicht hinter den runzligen Händen verbirgt. Sogar die kleinsten Kinder öffnen ihre Münder zu großen O’s und haben die Handflächen an die Wangen gelegt, sperren die Augen auf.

Um die mühsame Wiedererlangung von Autonomie geht es auch in den Texten über Freundinnen-Paare und eine Beziehung unter Schwestern, die in asymmetrischen Machtverhältnissen festgefahren sind („Hytteturen“, „Skål for kokken“, „Oppe i isødet“). In „Hytteturen“ richtet sich das Begehren der untergeordneten Ich-Erzählerin auf die exzentrische und raumgreifende Schauspielerin Hege („en sjiraff“, S 76; eine Giraffe), um deren ungeteilte Aufmerksamkeit sie sich während eines Wochenendausflugs verzweifelt bemüht. Doch stets erhalten Heges Sohn oder Heges persönliche Interessen Vorrang vor dem immer wieder aufgeschobenen vertraulichen Gespräch mit der Freundin. Obwohl die Bewunderung für Hege allmählich schwindet, nimmt die Selbstverachtung der Erzählerin dennoch zu.

Mit der eindringlichen Tiefkühlkost-Metapher werden der Aufschub des ‚eigentlichen Lebens’, die Vorläufigkeit des Lebensplans oder die vorschnell ausgeführte Handlung ausgedrückt, deren Sinn bereits im Keim erstickt erscheint: „[H]un tygger på noe frossent. Hun setter tennene i det som er frossent“ (S. 51; sie kaut auf etwas gefrorenem. Sie beißt in das Gefrorene hinein).

Die letzte Geschichte des Bandes, „Fra hytte til hytte“, bildet mit dem erwähnten ersten Text „Arne“ eine Art humoristische Rahmung. Es geht um die traditionellen sommerlichen Besuche bei den Eltern. Bei der ersten Station leiden die Ich-Erzählerin und ihre Kinder unter dem Aufsehen, das die grotesk anmutende Großmutter durch Langstreckenschwimmen und Bierkonsum an einem Badestrand weckt. Der zweite Reiseabschnitt führt sie zum Großvater, der inzwischen eine neue Partnerin hat und seiner Tochter und den Enkeln nur noch mit notdürftiger Höflichkeit begegnet. Wer in diesen Relationen gegenwärtig und zukünftig füreinander Verantwortung übernehmen soll, ist noch nicht ausgehandelt. In dieser letzten Erzählung treffen wir auf ein böse verfremdetes ‚Puppenhaus’-Motiv, denn die umständliche Reise mit viel Gepäck wird durch die Mitnahme eines improvisierten Meerschweinchenkäfigs samt Bewohner gekrönt. Die Kinder haben einen Schuhkarton rosa angemalt und mit Streu gefüllt, deren penetranter Geruch zu einem weiteren unliebsamen Merkmal der Familie wird. Die Ich-Erzählerin rechnet aus, dass die Kinder aufgrund ihrer Scheidung eines Tages sechs verschiedene Orte werden ansteuern müssen, um ihre sommerlichen Familienbesuche zu absolvieren. Doch was hält die generationsübergreifenden Kleingruppenverbände nun eigentlich zusammen? Der Flug einer Möwe gibt die Antwort:

Måken letter, liksom trett, som om den egentlig ikke gidder. Som om den ikke setter pris på det fantastiske å kunne fly. For den virker det vel som om vi er limt fast til bakken. Den flyr lavt over parkeringsplassen, men finner ingenting av interesse. (S. 174)

Die Möwe hebt ab, als ob sie müde wäre und eigentlich wenig Lust hat. Als ob sie keinen Wert auf die fantastische Möglichkeit legte, fliegen zu können. Aus ihrer Sicht muss es so aussehen, als ob wir auf dem Hügel festgeklebt wären. In niedriger Höhe überfliegt sie den Parkplatz, kann aber nichts Interessantes entdecken.

Ein dauerhafter Aufenthalt jenseits des Areals vertrauter Geborgenheit scheint trotz der offenkundigen Abnutzungserscheinungen nicht verheißungsvoll. Auch in dieser Hinsicht entfaltet sich eine nostalgische Perspektive auf das sozialrealistische Genre, indem Lykkes Sammlung markante Parallelen etwa zu Vita Andersens Hold kæft og vær smuk (DK, 1978) oder anderen skandinavischen Erzählbänden aus den 1970ern aufweist. Schon damals wurden Alltagsszenen stellvertretend abgehandelt, wenn es um ethische und privat-politische Lebensfragen ging, und schon damals hatte man sich auf die Suche nach dem glücklichen Dasein im konkurrenzbetonten Wohlfahrtsstaat begeben. Der Wunsch, als ein ausgeglichener Mensch zu leben, „som gikk rundt og var i pakt med seg selv og slapp alle disse klovneriene.“ (S. 38; der umherging und mit sich selbst im Einklang war und dieses alberne Spiel nicht mehr nötig hatte), hat offenbar nichts an Aktualität eingebüßt, auch wenn die Übereinstimmung mit sich selbst heute unzweifelhaft ein anachronistisch anmutendes Identitätskonzept darstellt.

Nina Lykke: Orgien, og andre fortellinger. Oktober, 2010.
(Berlin, Oktober 2011, Antje Wischmann)

In Norwegen veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Lars Jakobson: Effekter

Konspiratives Monument der eigenen Autorschaft? Lars Jakobsons Essayband Effekter (2011)

Das Maß an Ironie, mit dem Lars Jakobson seine eigenen Werke präsentiert, lässt sich schwer abschätzen. Passend zu einem seiner Schlüsselthemen – der eigenwilligen Verschmelzung von science fiction und Dokumentarismus – wird der Band Effekter sowohl als Klassiker der Zukunft als auch im minimalistischen Retro-Look der 1960er Jahre dargeboten. Nicht wenig prätentiös sind auf den beiden Umschlagklappen „böcker av bestående värde från alla tider“ (Bücher von bleibendem Wert aus allen Epochen) aufgelistet; zwischen Den amerikanska storstadens liv och förfall (Jane Jacobs 1961) und Pappan och havet (Tove Jansson 1965) reihen sich Jakobsons Romane Kanalbyggarnas barn, Vid den stora floden (1997 und 2006) ein.

Von Seiten der schwedischen Literaturkritik gilt der Roman I den röda damens slott (2000) als Durchbruchserfolg, nicht zuletzt weil in dieser ‚marsianischen Biographie’ das intrikate und suggestive Programm eines kontrafaktischen Schreibens überzeugend demonstriert wurde. Jakobsons jüngster Roman Vännerna (2010) bezieht darüber hinaus das essayistische Prinzip stärker ein: assoziative und sprunghafte Übergänge; Fragmente, die sich in einem allmählich wachsenden Netz der Kommentierungen wechselseitig beleuchten. In diesem umfangreichen Textpool tritt diejenige Instanz, die lange Zeit ‚impliziter Autor’ genannt wurde, als ein unzuverlässiger Arrangeur auf, der sich aus unterschiedlichen subjektiven und anerkannten Textarchiven zugleich bedient. Dieses weder chronologische noch selbsterklärende Prinzip kommt in Effekter ebenfalls sinnreich zur Anwendung.

„Effektförvaring“ heißt Gepäckaufbewahrung, und die Sammlung ist in der Tat ein Archiv für die 25 Texte, die unterwegs waren und weiterhin in der Zirkulation bleiben; sie sind nur vorläufig im Rahmen einer Herausgeberfiktion fixiert. Das Vorwort ist nämlich von der fiktiven Figur Joan Bravais verfasst, die betont, dass die versammelten Essays auch als Selbstkommentare des Autors dienen: „Effekterna på och effekterna av hans tro på fiktionen“ (S. 6; Die Konsequenzen für Jakobsons Glauben an die Fiktion und die Folgen dieses Glaubens).

Die Überschrift des Vorworts lautet „Lars Jakobson (1959-2010)“ und verkündet einmal mehr den Tod dieses und jenes Autors, zugleich aber auch dessen Wiederauferstehung als Essayist, so dass der Roman Vännerna von 2010 demnach in die neue Ära fällt. Die Autorschaft durchläuft damit eine selbstgewählte Transformation, die durch das mittlerweile trendy gewordenen Sterbenlassen einer Autorfigur oder eines anderen Stellvertreters proklamiert wird (wie etwa auch bei Claus Beck-Nielsen oder Vibeke Tandberg).

Wie kann sich nun das einzelne Essay in diesem diffizilen Dickicht behaupten? Nach der Lektüre von Effekter scheint mir das Umkreisen und Umschreiben als ein zentrales Verfahren: Dem Essayisten ist gestattet, sein Ziel auf planvolle Weise zu verfehlen und den Weg selbst so ertragreich wie möglich zu gestalten. Mit entsprechendem Verarbeitungsabstand mögen aus Jakobsons Perspektive die eigenen Texte vielleicht sogar von Gepäck- zu Fundstücken zu werden, deren Beschaffenheit man sich neu in Erinnerung rufen muss und die sich dann womöglich – in den inzwischen verwandelten Kontexten – auf nicht vorhersehbare Weise entfalten. Erst im Nachhinein kann so rekonstruiert werden, wie Gedankenlinien vorbereitet worden sind.

Das Thema artificial intelligence hat Jakobson beispielsweise schon ein Jahrzehnt lang beschäftigt (siehe das Essay „AI“, 2001). Es erstaunt ihn, dass keine kontroverse Debatte über lernfähige, genetisch programmierte Roboter wie etwa Elvis und Priscilla geführt wird. Diese beiden figurativen AI-Computer wurden an Chalmers tekniska högskola in Göteborg entwickelt und sollen in der Industrieproduktion und in Fürsorgeeinrichtungen eingesetzt werden. Laut Jakobson hat die Literatur geradezu den Auftrag, die Potentiale und Gefahren von Mensch-Maschine-Gebilden genau auszuleuchten. Dieser Beitrag ist zunächst wie eine Wissenschaftsreportage mit Interview-Anteilen gehalten, bevor er in ein Resümee von science-fictions übergeht. Die sich abzeichnende Unmöglichkeit, die kognitive, und die emotionale Kompetenz von Menschen und AI-Computern voneinander unterscheiden zu können, wird in knapper Form erörtert.1 Sind ein realisierbarer freier Wille und eine willentlich gesteuerte Veränderlichkeit des Selbst die letzten Merkmale des Menschlichen? Wird man in die Lage kommen, den AI-Computern bestimmte Rechte zuzusprechen, weil sie sogar das Lernen erlernen können? Eine Andeutung von maschineller Selbstreflexion ist unbestreitbar, wenn beschrieben wird, wie Elvis, lediglich von einer Zielvorgabe ausgehend, den Bewegungsprozess des Gehens selbstständig erlernt, nachdem er ein wenig ratlos mit den Hüften gewackelt hat. Auch auf den ambivalenten menschlichen Bedarf der Anthropomorphisierung von AI-Robotern wird eingegangen. Der besondere Reiz des Beitrags besteht darin, dass ihm ein (später verfasster) literarischer Text vorangestellt wird: „Matrioska“ (2009) behandelt die sich steigernde Bewegungseinschränkung eines Menschen. Eine Frau ist auf einer Wanderung mit ihrem Partner an ihrem ‚weltergreifenden und lebenshungrigen’ Gehen zunehmend gehindert, weil sie – angeblich zu ihrem eigenen Schutz – sukzessive mit einer metallischen Hülle versehen wird. Nachdem Matrioskas Partner sogar ihr Visier luftdicht verschlossen hat, ist sie äußerlich von einem Roboter nicht mehr zu unterscheiden. Der Schöpfungsmythos, das Pygmalionthema oder auch das Diktum „killing women into art“ treten hier in sehr überraschenden Varianten auf. Im P.S. dieses Beitrags kommt die Erstleserin („min fru“) in genüsslich-sarkastischem Ton zu Wort: „Med några färgglada illustrationer skulle det här kunna bli en rätt odräglig bilderbok.“ (Versehen mit ein paar farbenfrohen Illustrationen könnte das doch ein ziemlich widerliches Bilderbuch werden.)

Die Textbeziehung von „AI“ zu „Matrioska“ führt dazu, dass der potentielle symbolisch-allegorische Gehalt des literarischen Textes niedrig erscheint. Das Szenario der ungewissen Zukunft soll gerade in konkreten Episoden nachvollzogen werden. Dem Autor geht es nicht darum, Chiffren zu finden, die den Lesern nahelegen, eine andere oder eigentlich gemeinte Geschichte zu dekodieren.

Auch die literaturwissenschaftlich fundierte Reportage über Per Olof Sundmans Werkbiographie (S. 91-155), passagenweise szenisch und protokollarisch dargeboten, ist in einem science-fiction-Rahmen ‚aufgespannt’, wie der Titel „Översten kom tillbaka från Ingenting-alls“ und das Motto von Cordwainer Smith signalisieren. Dieses zentrale Essay liefert sowohl literaturwissenschaftliche Deutungsansätze am Beispiel von Sundmans Kurzgeschichte „Vadaren“ (Der Watende, 1972) als auch eigene Recherchen zu Sundmans pro-nazistischen Aktivitäten. Zugleich werden die vermeintliche Aufdeckung von Sundmans Schuld in der Forschung und eine versteckte Thematisierung des ‚dunklen Geheimnisses’ nachdrücklich dementiert. Dass Jakobson sich mit einem Autor auseinandersetzt, der zum – sogar ethisch fundierten – Widerspruch reizt, ist für die eigene Inszenierung der Autorschaft von großer Bedeutung. Der erwähnte Autor C. Smith ist nicht allein für seine science-fiction-Prosa (z.B. die Erzählung „The Colonel Came Back from the Nothing-at-All“) bekannt, sondern auch für seine Fachbücher zur psychologischen Kriegsführung 1958-65.

Wie nun eine Dreiecksrelation zwischen Sundman, Smith und Jakobson aufgebaut wird, lässt sich in zwei Schritten nachvollziehen: Nachdem die Spur zu C. Smith als Vergleichsautor für Sundman gelegt worden ist, wird nun Sundmans Genreentwurf eines „provinsialisk science fiction“ (1958, vgl. S. 147) als Komponente der Jakobsonschen Poetik präsentiert. (Dies lässt sich allerdings erst aus dem Kontext sämtlicher Essays erschließen und im Vorausgriff auf die 2003 erschienene Anthologie Stjärnfall. Om sf, verfasst von Lars Jakobson, Ola Larsmo, Steve Sem-Sandberg.) Sundman erläutert den ‚provinziellen sf’ wie folgt:

„Det är ju så att väl praktiskt taget alla framtidsvisioner har en sorts kontinental storstadsmiljö som bakgrund (antingen de utspelas i miljonstäder eller i ett vilsekommet rymdskepp). Men vi måste ändå liksom tänka oss att i framtiden skall det även finnas avlägsna landsdelar, långt-bort-boende människor som inte sett raketskepp annat än på vykort. Och jag menar, att på samma sätt som man nu kan återfinna tätortsmänniskornas ogripbara problem återspeglade i glesbygdsmänniskans gripbara samhälle, på samma sätt skulle man kunna skapa en gripbar vision av framtidens fantastiska utvecklingsmöjligheter för de stora människoanhopningarna genom att försöka ’prekonstruera’ de vid-sidan-om-liggande landsdelarna.” (1958, S. 147f.; Im Grunde genommen verwenden alle Zukunftsvisionen eine Art kontinentale großstädtische Umgebung als Ausgangspunkt (unabhängig davon, ob sie die großen Metropolen oder ein verirrtes Raumschiff als Schauplatz haben). Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass es auch zukünftig abgelegene Regionen geben wird, weit außerhalb lebende Menschen, die eine Rakete nur auf einer Postkarte gesehen haben. Und ich meine, dass man eine nachvollziehbare Vision der phantastischen zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten für die Orte mit großen Menschenansammlungen entwerfen kann – ebenso wie man die unfassbaren Probleme der Menschen in den dicht besiedelten Gebieten durch eine Übertragung auf die überschaubaren Gesellschaften der dünn besiedelten Gebiete fassbar machen kann – indem man eine vorausschauende Konstruktion der marginalen Regionen entwirft).

Jakobson spinnt diesen Gedanken weiter, wobei es ihm nicht allein auf das dystopische bzw. utopische Zukunftsszenario ankommt, sondern insbesondere auch auf die realistisch-konkrete Verankerung der optionalen Welt. Das Pendant zu den marginalen Gebieten (bei Sundman) sind die bei Jakobson dargestellten historischen Räume und die Raumschiff-Welten, wobei beide in einer charakteristischen Verschränkung auftreten. Wie sich im Anspruch einer generellen und raumübergreifenden Detailtreue verrät, soll auch die wiedererkennbare Raumschiff-Welt der Forderung einer ‚realistisch-konkreten Verankerung’ unterstellt sein – wie sie sich tatsächlich bereits häufig in der science-fiction-Literatur manifestiert, wenn technische oder wissenschaftliche Exkurse Authentizitätsversicherungen geradezu ausstellen. Die Wiedererkennbarkeit wird paradoxerweise insbesondere durch eine dichte Intertextualität des Genres science-fiction erzielt.

Die Dimension des kontrafaktischen Erzählens nimmt zwar die Sundman entliehene Zielvorgabe zum Ausgangspunkt, verlangt aber darüber hinausgehend, dass sich dieser Zugang von der herkömmlichen kontrafaktischen Geschichtsschreibung absetzt. Im Essay „På vilken strand vid vilket hav?“2 zitiert der Autor eine eigene Tagebuchaufzeichnung über eine ABF-Buchpräsentation: Der dort auftretende Autor habe ein alternatives Geschichtsszenario entworfen, wie sich nämlich ein nationalsozialistisches Schweden, das einem großdeutschen Reich unterstellt sei, gestalten könnte. Ein solches Ansinnen wehrt Jakobson als trivial und unredlich ab, um sein eigenes Credo noch deutlicher herauszustellen:

„Romanen, som form, ställer inte lägre krav på akribi bara för att den har en annan syftning än historieforskningen. Eller den sociologiska undersökningen. Eller den psykologiska fallstudien. En uttalat kontrafaktisk fiktion, som mer än andra berättelser bygger på att ett tydligt ramverk övertas från den faktiska historien, måste alltid, implicit och/eller explicit, kunna förklara sina brott mot detta ramverk. Om inte så blir fiktionens berättelse, dess kritik eller utsaga, meningslös. Dess rum tomt.” (S. 200; Die Form des Romans stellt keine geringeren Ansprüche an die Genauigkeit, nur weil er andere Intentionen verfolgt als die Geschichtsforschung. Oder die soziologische Untersuchung. Oder die psychologische Fallstudie. Eine dezidiert kontrafaktische Fiktion, die mehr als andere Erzählungen eine markante Rahmung erfordert, die aus der faktischen Geschichte übernommen wird, muss stets – sei es implizit und/oder explizit – ihre Verstöße gegen diesen Rahmen rechtfertigen können. Sonst bleiben die fiktionale Erzählung, ihre Kritik oder Stellungnahme sinnlos. Ihr Raum leer.).

Nach dem ‚Tod des Romanautors’ ist nun abzuwarten, ob die essayistische Ästhetik weiterhin mit diesen Rahmenkonstruktionen arbeiten oder eine Entgrenzung stattfinden wird und auf diese Weise andere Markierungen der Literarizität erfolgen.

Bleibt nur nachzutragen, dass Jakobsons Verfahren einer vehementen Betonung der suspension of disbelief bei gleichzeitiger Wahrung der Realitätseffekte voraussetzt, dass die Lesenden viel Expertise mitbringen müssen, nicht nur die ‚männlichen Klassiker’ und den privaten Jakobson-Kanon, sondern auch populäre science-fiction-Texte betreffend.

Um auf die eingangs erwähnte Werkliste auf dem Umschlag, von John Ashbery bis Roger Zelazny, abschließend noch einmal zurückzukommen: Unverständlich bleibt, warum nirgends auf Lotta Lotass Romane verwiesen wird, die sich durch kontrafaktisches Erzählen (z.B. Tredje Flykthastigheten 2004) und nicht zuletzt eine Detailbesessenheit (z.B. Den svarta solen 2009) auszeichnen, die Jakobsons Akribie in nichts nachsteht. Sollte dieses Konkurrenzverhältnis vielleicht sogar eines der verschwiegenen abseitigen Elemente in der Autorschaft Jakobsons sein?

1 Mittlerweile drängen sich Bezüge zum Roman Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro 2005 und zum Film Moon (Regie Duncan Jones, 2009) auf.

2 Von 2010 ; über das Prosagedicht „Le Centaure“ von Maurice de Guérin, 1839.

Lars Jakobson: Effekter. Albert Bonniers Förlag, 2011.
(Uppsala, 4.9.2011, Antje Wischmann)

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen