Amanda Svensson: Hey Dolly

Anders lesen: Amanda Svenssons Pubertätsroman Hey Dolly (2008)

Als Dolly gefragt wird, mit welchem Lebensmittel sie sich am ehesten identifizieren könne, antwortet sie ohne Zögern: „En prinsesstårta. Jag skulle garanterat vara en prinsesstårta.“ Mit dieser Antwort sagt Dolly eigentlich alles: Die Torte mit ihrer vollen, runden Form, kalorienreich mit Sahne gefüllt und überzogen mit einer dicken Schicht süßen, schweren Marzipans soll Luxus, Überfluss und Ausnahme signifizieren; nach all dem sehnt sich Dolly: nach Glamour und Celebrity, Rausch und Ekstase. Und doch handelt es sich in beiden Fällen um ein Massenprodukt, ein Gebäck vom Fließband einer Konditoreifabrik und das Leben einer 19-Jährigen in Malmö.

In kurzen und ultrakurzen Abschnitten – vielleicht sind es Eintragungen in ein blog – erzählt Dolly ihre Geschichte: Sie ist schmutzig, voller Obszönität und Vulgarität. Für ihren Freund Mårten und seine Zufriedenheit mit einem Nullachtfünfzehn-Leben hat Dolly nur Verachtung übrig: Das Leben bietet ihm schon genug Befriedigung, wenn er nur Sex bekommt und den Nachmittag mit web-cam-Bildern aus dem Berliner Zoo vertrödeln kann. Ihm fehlt das Bewusstsein, dass ihm etwas fehlt. Als Dolly ihn „mit einem herrlichen Schwanz“ betrügt, beendet er die Beziehung. Als dann auch noch die labilen Freundinnen Emma und Katrin entweder in Alkoholismus oder Selbstmordversuchen vor die Hunde gehen, bricht auch bei der ach so coolen Dolly die ständig latente existentielle Krise aus. Zur Rettung kommt Marvin, ein alter Freund, 30 Jahre, abgebrochenes Psychologiestudium. Die von ihm aufgestellte Therapie umfasst folgendes Programm: Auf eine Kunstausstellung gehen, jemandem die Unschuld nehmen, etwas Schönes und Erbauliches für eine wahlfreie durchgeknallte Freundin tun, einen ganzen Tag seichten Pop hören, bis zum Erbrechen rauchen, sich einer lebensgefährlichen Situation aussetzen, einen wahlfreien ethnischen Konflikt analysieren, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, ein Manifest schreiben und sich jeden Tag einem anregenden Gedankenspiel widmen. Und tatsächlich: In ihrem letzten Eintrag scheint Dolly wieder unter den Lebenden zu sein. Das Buch (oder das blog) endet in einem Weihnachtsgottesdienst mit den Worten: „Det är inte det att det inte är ett vackert liv. / Sartre och Mårten och alla andra depprövar kan go fuck themselves. Det finns ett ljus som aldrig brinner ut. En liten metallicficklampa i bröstet på varenda människa.“

* * *

Wäre Hey Dolly das Debut einer deutschen Autorin, würde es unter dem Label Popliteratur firmieren. Amanda Svensson baut ihre Figur aus Elementen der Popkultur zusammen: Dolly feiert die Künstlichkeit der Konsumwelt, zelebriert die Oberfläche, sie inszeniert sich als Echoraum des Populären in der Hoffnung, dass bereits das Nebeneinander, das Arrangieren von Bekanntem und Hundertmal-Gehörtem Sinn erzeugt – oder doch zumindest zu einer Attitüde von Sinn gerinnt. „Pop heißt Re-make und Re-model, heißt Zitat und Reproduktion, heißt Künstlichkeit und Übertreibung“, schreiben Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher in ihrer Anthologie Pop seit 1964; und weiter: „Remix, Sampling, die Verarbeitung von vorgefundenem Material sind wichtiger als der originelle Einfall: das aufzuschreiben, was jetzt, in diesem Moment, passiert, ist wichtiger als die Haltbarkeit des Textes.“

Genau so muss man Hey Dolly lesen – als ein Surfen an der Oberfläche des Populären. Die Überschrift des ersten Kaptitels (oder des ersten blogg-Eintrags) führt dies mustergültig vor: „Will the real Dolly please stand up?“ Zitiert wird mit dieser Frage zunächst der amerikanische Rapper Eminem, der im Jahr 2000 einen HipHop Song mit dem Titel The Real Slim Shady herausbrachte, in dem die Zeile „Will the real Slim Shady please stand up?“ immer wieder wiederholt wird. Wie Dolly verstößt auch Eminem gegen jede political correctness und wie der Roman scheut auch das Video das Vulgäre nicht.

Mit der HipHop-Zeile zitiert Dolly aber einen Satz, der selbst bereits ein Zitat ist. Eminem übernimmt ihn aus der Episode „Will the Real Martian Please Stand Up?“ der amerikanischen Fernsehserie The Twilight Zone, die erstmals 1961 ausgestrahlt wurde, in der ein Überlandbus aufgrund starken Schneefalls im amerikanischen Nirgendwo zu einem Halt an einer Raststätte gezwungen ist. Schnell stellt sich heraus, dass einer der Passagiere ein getarnter Marsianer sein muss – doch das Geheimnis, wer der Mitreisenden es denn tatsächlich ist, wird erst am Ende gelüftet. Eingepasst in den Kontext von Hey Dolly wird das Zitat zu einem Hinweis auf Dollys Entfremdung. Wie der Marsianer passt sie nicht in Welt der Menschen.

Doch selbst mit diesem Bezug kommt die Kapitelüberschrift „Will the real Dolly please stand up?“ nicht an das Ende der Zitatkette. Denn The Twilight Zone hat den Episodentitel wiederum aus einer Spielshow übernommen. In To Tell the Truth (seit 1956 im amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt) geben sich drei Kandidaten für dieselbe Person aus – etwa für John Smith; jeder versucht die Jury davon zu überzeugen, dass er das Original ist. Am Ende der Sendung bittet der Showmaster: „Will the real John Smith please stand up?“.

Allein die erste Kapitelüberschrift breitet also einen Zitatteppich aus, der das Sampeln, den Remix, das Zitieren von schon Zitiertem als wichtigste Strategie von Amanda Svenssons Roman offenlegt. Wer sich auf die Suche nach dem Ursprung eines Zitats macht, wird nur an ein weiteres Zitat verwiesen, wer nach metaphorischer Tiefe sucht, die zu einem Verständnis von Dollys Existenz führt, wird enttäuscht. Nein, Hey Dolly fordert ein anderes Lesen: eine metonymische Bewegung von einem Element zum nächsten, als eine Folge von Elementen, die nicht durch Ähnlichkeit des Wesens motiviert sind, sondern wie in dem Muster eines Teppichs von einem Ornament zum nächsten führt. Dolly ist ein Produkt der Unterhaltungsindustrie; nicht umsonst heißt sie nach einer ebenso künstlich produzierten „silikongefüllten Countrydiva“, die auch schon Namensgeberin für das Klonschaf Dolly wurde, dem einzigen überlebenden von 29 identischen Embrionen. Der Name selbst indiziert also Serialität und Künstlichkeit.

* * *

Wie liest sich auf der Basis dieser popkulturellen Einbettung das Happy End? Erlebt Dolly eine existentielle Krise, die sie zwingt, der Konsumwelt den Rücken zuzukehren, um dann in die Wirklichkeit und in ein authentisches Leben aufzubrechen? Sie selbst bietet an einer frühen Stelle ein solches Deutungsmuster an, wenn sie betont, dass sie das, was ihr gerade passiert als Wendepunkt erlebt: „Jag känner mej pånyttfödd. En katharsis“! Doch später, als wiederum ihre Freundin aus ihrem verkorksten Leben ausbricht, markiert Dolly das Modell der reinigenden Umkehr als unwirklich; es funktioniere nur in Romanen: „Hade jag läst det här [= der Aufbruch der Freundin in ein neues Leben] i en bok hade jag krävt en forklaring. Nåt slags katharsis. Men Emma fungerar inte så.“ Die Katharsis ist eine erzählerische Strategie, eine Logik, die man für Fiktionen akzeptiert, aber nicht etwa für das „wahre“ Leben.

Als sich Dolly neu verliebt, deutet sie an, dass sie nach der Logik des Populären nun über ihre Krise hinweggekommen sein müsste – „Om det här nu hade varit en fånig svensk ungdomsfilm om en tonårstjej med identitetsproblem, då hade de där problemen varit lösta nu.“ – was sie natürlich weit von sich weist. Doch passiert in Hey Dolly wirklich etwas anderes? Stößt uns Amanda Svensson mit der eben zitierten Stelle nicht vielmehr mit der Nase darauf, dass auch Dollys Lösungsweg – durch eine Reihe von absurden Aufgaben den Kontakt zum wahren Leben zu finden – ein Klischee ist, das wir alle schon hunderte Male im Vorabendprogramm, in soap operas und schlechten Jugendbüchern gesehen, gelesen, gehört haben? Aus dem Klon Dolly wird kein Individuum durch die Wiederholung eines Ritus, der ebenfalls populärkulturell codiert ist. Und so ist auch ihr letzter Satz, der ihre Rückkehr unter den Lebenden beweisen soll, – „Det finns ett ljus som aldrig brinner ut. En liten metallicficklampa i bröstet på varenda människa.“ – doch nur wieder ein Zitat. The Smiths wusste schon 1986: „There is a light that never goes out.“

Amanda Svensson: Hey Dolly. Norstedts, 2008.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, Februar 2012)

P. S. Die schwedische Presse hat Hey Dolly durchgängig als einen Text gelesen, in dem die Generation der jetzt Zwanzig-Jährigen authentisch dargestellt wird, so dass Dolly ein positives Modell für junge LeserInnen darstellen könne; Svenska Dagbladet etwa hält Dolly für „en helt vanlig tonåring“, Hälsingborgs Dagblad spricht von einem „generationsroman“, der von „typiska tjugonånting problem“ handelt und Västerbottens-Kuriren unterstreicht „de generationsbetingade inslagen“. Nimmt man jedoch die Ironie wahr, die Dollys Krisenmanagement trägt, läge das Authentische des Buches nur in dem Nachweis völliger Authentizitätslosigkeit der Generation, der Dolly – und Amanda Svensson – angehören.

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Kirsten Hammann: Se på mig

Seit Kirsten Hammann 1993 mit dem experimentellen Roman Vera Winkelvir um ersten Mal eine literarische Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machte, hat sie sich als eine der wichtigsten dänischen Gegenwartsautorinnen etabliert. Während ihr letzter Roman (En dråbe i havet, 2008) ein origineller Beitrag zu dem politisch aktuellen Thema Globalisierung & Literatur war, scheint der im August 2011 publizierte Roman Se på mig auf den ersten Blick ein eher traditionelles, psychologisch ausgerichtetes Doppelporträt der beiden Protagonisten Julie und Sune auszumachen. Es geht um die zufällige Bekanntschaft der beiden – sie sucht kurzfristig einen Untermieter und er ein Zimmer -, um ihre graduelle Annäherung und Liebesbeziehung – die zu heftigen und ausführlich beschriebenen Sex-Szenen führt – und vor allem um den Selbstbetrug und die Lebenslügen der beiden – sie orientiert sich an Schönheitstipps in Frauenzeitschriften und sucht bürgerliches Ehe- und Kinderglück, ihm genügen one night stands auf seinem Weg zum großen schriftstellerischen Erfolg.

Handlung und Problemstellung sind also eher konventionell, auf 460 Seiten wird eine recht alltägliche Geschichte sprachlich elegant, inhaltlich nachvollziehbar, doch mit durchaus komischen und zur Distanz einladenden Zügen beschrieben; die Kritik sprach von einer »kærlighedskomedie«. Schnell durchschaut man die Illusionen der beiden durchaus nicht unsympathischen und wieder erkennbaren Figuren, es braucht aber nicht viel literarischer Erfahrung um zu erkennen, dass Julis Verlobter, der sich nach Indien abgesetzt hat, nicht zu ihr zurückkommen wird, und dass Sune auch der perfekt aufgeräumte Schreibtisch auf dem Weg zum Erfolg nichts nützen wird. Ein anspruchsvoller Unterhaltungsroman also, der sich literarisch durch zwei Verfahren auszeichnet, die ihn dann doch vom mainstream unterscheiden.

Der erste Erzähltrick ist der ständige Wechsel der Perspektive zwischen den beiden Protagonisten. Da sie jeweils die Fokalisierungsinstanz in den auf sie bezogenen Abschnitten darstellen, kann der Leser/die Leserin sowohl ihre Sicht auf die Dinge nachvollziehen als auch – sehr bald – ihren Selbstbetrug entlarven sowie auch die Bewegung der beiden aufeinander zu schon viel eher erkennen als die in ihrem Wahrnehmungsnetz gefangenen Personen. Diese Bewegung der Annäherung führt zu gemeinsamen Mahlzeiten, zunehmender Sympathie, Fürsorge, erotischer Anziehung und schließlich zu sehr viel Sex. Die detailliert geschilderten Liebesszenen erhalten ihre Pointe durch die völlig unterschiedliche Bedeutung, die dieselben und sogar zur selben Zeit miteinander ausgeführten Handlungen für die beiden Personen haben. Selbst das intimste Miteinander lässt sie also in ihren Wahrnehmungszirkeln verharren. Erst die Erzählperspektive bringt also die psychologisch eindringliche Schilderung zweier moderner Tagträumer hervor.

Hinzu kommt die Tatsache, dass es sich bei Sunes Traum um ein zunächst illusionär erscheinendes schriftstellerisches Projekt handelt. Insofern handelt dieser Roman nicht zuletzt auch vom Romaneschreiben bzw. von Schreibblockaden und vor allem vom Stoffmangel. Während Sune verzweifelt nach einem Stoff sucht, Ratgeberbücher für Krimiautoren zu Rate zieht und sogar Spionagewerkzeug für Detektive kauft, um seine Vermieterin zu beobachten und möglicherweise eine spannungsvolle Handlung zu entdecken, ergibt sich unter der Hand und ganz von selbst ein Stoff, den sein eigenes und das Leben Julis ihm ganz ohne (im Teddy versteckte) Beobachtungskamera darbietet. Nachdem die Entdeckung der Kamera zum Bruch der Beziehung geführt hat, offenbart eine Schlusspassage, dass Sune zwei Jahre später wirklich einen Roman veröffentlicht, mit dem sich sein Traum vom Erfolg erfüllt hat. Für die Lesenden wirft das die Frage auf, ob es eben dieser Roman ist, den sie vor sich haben, ob es gerade der im vorliegenden Text dargestellte Alltag war, der dem nach Spannung suchenden Autor seinen Stoff geliefert hat. Dahinter steht die grundsätzlichere Frage, was denn überhaupt Stoff für einen (großen/erfolgreichen) Roman sein kann, womit sich dieser Roman selbst implizit und selbstironisch in Frage stellt.

Und noch etwas: Da Sune sich durch die Installation einer versteckten Kamera Zugang zu spannenden Details aus Julis Leben verschaffen wollte (was letztlich nicht gelingt, aber schon deswegen ironisch ist, weil Juli stets alles daran setzt, gesehen zu werden), nimmt er auch seinen eigenen Voyeurismus aufs Korn, denn nichts anderes als das neugierige und möglicherweise genießerische Eindringen in die Intimsphäre anderer stellt schließlich die detailliert ausgemalte Beschreibung sexueller Begegnungen dar. Indem das Thema Voyeurismus aufgerufen und als vergeblich und absurd abgestempelt wird, entfaltet Hammanns Roman eine weitere selbstreflexive Ebene, die auch den Leser in den ironisierenden Gestus einbezieht. Also doch wenn auch kein großer, ein selbstironisch- raffinierter und vergnüglicher Roman!

Kirsten Hammann: Se på mig. Gyldendal, 2011.
(Annegret Heitmann, z.Zt Umeå,  Oktober 2011)

In Dänemark veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Nina Lykke: Orgien, og andre fortellinger

„And welcome to the land of the bleeding obvious“. Nina Lykkes Kurzprosaband Orgien, og andre fortellinger (2010)

Die Textsammlung von Nina Lykke ist ein Debutwerk, das von drei norwegischen Tageszeitungen mit der Auszeichnung „Årets beste bøker 2010“ versehen worden ist. Dagbladet verwendet das schillernde Adjektiv „knalltøff“ (krass), Klassekampen rühmt den schrägen Humor, während Bergens Tidende einfach das ‚gelungene’ Debut würdigt.

In Lykkes Geschichten sind die Figuren tragisatirisch – zahlreiche von ihnen sind im Alltag verschollen, einige plötzlich zu drastischen Veränderungen bereit. Alle scheinen miteinander vereint durch die hintergründige Annahme einer norwegischen Normalbiographie, der sie vergeblich entgegenstreben oder von der sie sich bewusst oder unwillentlich absetzen wollen. Dabei werden generationsspezifische Lebensphasen herausmodelliert, deren jeweilige Stimmungskurve eher absinkt. Krisen rund um die sogenannte Lebensmitte, die bekanntlich – und erfreulicherweise – inzwischen selbst schon mehrere Jahrzehnte umfasst, bringen es an den Tag: Der Zugewinn an Reife während des Alterns wird durch den Verlust an Macht, sogar an Respekt und Würde, leider mehr als aufgewogen – und hiervon sind sowohl die weiblichen als auch die männlichen Charaktere in Orgien betroffen. Einige Figuren haben indessen noch weitere Gemeinsamkeiten, denn es treten drei soziokulturelle Praktiken gehäuft auf: das Weinen, der Verzehr von Tiefkühlkost und das exaltierte Reden. Diese Tätigkeiten konstituieren eine temporäre Ich-Identität und geben Aufschluss über die Machtverteilung in den Figurenkonstellationen.

Die Erzählungen selbst ordnen sich infolge der ausgetragenen Konflikte zu Textpaaren an. So stehen beispielsweise „Arne“ und „Langtidssykemelding“ in einem Dialog, und die beiden Protagonisten Arne und Turid einander gegenüber: hat Arne – um die 50 – den Neuanfang mit einer jugendlichen Geliebten gewagt, sieht sich aber zu misslichen Zugeständnissen gezwungen, da sein Alter ihn in eine unterlegene Position bringt:

Hver morgen drikker de kaffe på sengen mens de snakker om drømmene til Maria. Arne er unenig. Arne mener at drømmer er åndelig avfall, en slags sjelens avføring det ikke er bryet verdt å befatte seg med. Men dette sier han ikke til Maria. Når Maria forteller at hun drømte at hun satt naken på trikken og et det kom tre ekorn inn i vognen og begynte å skyte på henne med bittesmå maskingevær, legger Arne ansiktet i ettertenksomme folder. Heldigvis trenger han ikke å si så mye, han kan bare komme med småord, som: Hm …. Jeg vet ikke, men kanskje … for så avbryter Maria ham straks og fortsetter sin egen tankerekke, og Arne kan slappe av igjen. (S. 7f.)

Jeden Morgen trinken sie Kaffee im Bett, während sie über Marias Träume sprechen. Arne ist nicht ihrer Auffassung. Arne findet, dass Träume geistiger Abfall sind, eine Art Exkrement der Seele, nicht der Mühe wert, sich damit zu befassen. Aber das sagt er Maria nicht. Als Maria erzählt, sie habe geträumt, sie säße nackt in der Straßenbahn, und drei Eichhörnchen wären eingestiegen und hätten mit winzigen Maschinengewehren auf sie geschossen, legt Arne sein Gesicht in nachdenkliche Falten. Zum Glück braucht er nicht viel zu sagen, kurze Bemerkungen reichen aus wie ‚Hm…’, ‚Ich weiß nicht, aber vielleicht….’, weil Maria ihn dann sofort unterbricht und ihren eigenen Gedankengang fortsetzt, so dass Arne sich wieder entspannen kann.

Polemisiert wird hier nicht nur gegen den Jugendwahn, sondern auch gegen die pseudoprofessionelle Psychologisierung des Alltagslebens, doch Lykkes leichtgängige satirische Form steht in einem elementaren Unterschied zur bitteren Ironie, wie man sie in Trude Marsteins oder Hanne Ørstaviks Texten antreffen kann. Hiermit sind allerdings Risiken verbunden: Zum einen tritt die Typenhaftigkeit vieler Figuren im Prozess humoristischer Selbstentlarvung hervor. Zum anderen kommt es zu einer tendenziellen Selbstsabotage des Genres, indem signalisiert wird, dass auch die sozialrealistische Kritik mit einer gewissen humoristischen Distanz zu betrachten sei (siehe auch das Zitat in meinem Titel, das von der Figur Arne stammt). Sowohl die Zusammensetzung der Sozialgalerie als auch die alltagsnah inszenierte Schreibweise mit ihren Zuspitzungen und Übertreibungen verleihen den Erzählungen nämlich einen Retro-Charme der 1970er Jahre.

Arnes Pendant Turid hingegen sammelt in der Erzählung „Langtidssykemelding“ ihre letzten Reserven für den Ausstieg. Indem sie sich mittels Krankschreibung neue Wege eröffnet, gelingt es der erschöpften Lehrerin und alleinerziehenden Mutter von drei verwöhnten Söhnen aus dem eingefahrenen System altruistischer Selbstausbeutung und auf eine spanische Ferieninsel zu fliehen. In Turids Alltagsdämmerung wird das mögliche Glück infolge einer befreienden De-Familialisierung durch die leeren Pathosformeln in einer Reality-TV-Sendung kontrafaktisch hervorgehoben:

Turid sitter i sofaen og spiser pølser og ser på et program om en syk og fattig familie som har fått renovert huset på tv-selskapets regning. Den skallede datteren med blodkreft smiler mens tårene triller og den lamme bestemoren sitter i rullestolen og gjemmer ansiktet i rynkete hender. Til og med de minste barna åpner munnene i store O’er og legger håndflatene langs kinnene, sperrer opp øynene. (S. 140f.)

Turid sitzt auf dem Sofa und isst Würstchen und schaut sich ein Programm mit einer kranken und armen Familie an, deren Haus auf Kosten des Fernsehsenders renoviert worden ist. Das glatzköpfige Mädchen mit Leukämie lächelt, während die Tränen fließen und die gelähmte Oma im Rollstuhl ihr Gesicht hinter den runzligen Händen verbirgt. Sogar die kleinsten Kinder öffnen ihre Münder zu großen O’s und haben die Handflächen an die Wangen gelegt, sperren die Augen auf.

Um die mühsame Wiedererlangung von Autonomie geht es auch in den Texten über Freundinnen-Paare und eine Beziehung unter Schwestern, die in asymmetrischen Machtverhältnissen festgefahren sind („Hytteturen“, „Skål for kokken“, „Oppe i isødet“). In „Hytteturen“ richtet sich das Begehren der untergeordneten Ich-Erzählerin auf die exzentrische und raumgreifende Schauspielerin Hege („en sjiraff“, S 76; eine Giraffe), um deren ungeteilte Aufmerksamkeit sie sich während eines Wochenendausflugs verzweifelt bemüht. Doch stets erhalten Heges Sohn oder Heges persönliche Interessen Vorrang vor dem immer wieder aufgeschobenen vertraulichen Gespräch mit der Freundin. Obwohl die Bewunderung für Hege allmählich schwindet, nimmt die Selbstverachtung der Erzählerin dennoch zu.

Mit der eindringlichen Tiefkühlkost-Metapher werden der Aufschub des ‚eigentlichen Lebens’, die Vorläufigkeit des Lebensplans oder die vorschnell ausgeführte Handlung ausgedrückt, deren Sinn bereits im Keim erstickt erscheint: „[H]un tygger på noe frossent. Hun setter tennene i det som er frossent“ (S. 51; sie kaut auf etwas gefrorenem. Sie beißt in das Gefrorene hinein).

Die letzte Geschichte des Bandes, „Fra hytte til hytte“, bildet mit dem erwähnten ersten Text „Arne“ eine Art humoristische Rahmung. Es geht um die traditionellen sommerlichen Besuche bei den Eltern. Bei der ersten Station leiden die Ich-Erzählerin und ihre Kinder unter dem Aufsehen, das die grotesk anmutende Großmutter durch Langstreckenschwimmen und Bierkonsum an einem Badestrand weckt. Der zweite Reiseabschnitt führt sie zum Großvater, der inzwischen eine neue Partnerin hat und seiner Tochter und den Enkeln nur noch mit notdürftiger Höflichkeit begegnet. Wer in diesen Relationen gegenwärtig und zukünftig füreinander Verantwortung übernehmen soll, ist noch nicht ausgehandelt. In dieser letzten Erzählung treffen wir auf ein böse verfremdetes ‚Puppenhaus’-Motiv, denn die umständliche Reise mit viel Gepäck wird durch die Mitnahme eines improvisierten Meerschweinchenkäfigs samt Bewohner gekrönt. Die Kinder haben einen Schuhkarton rosa angemalt und mit Streu gefüllt, deren penetranter Geruch zu einem weiteren unliebsamen Merkmal der Familie wird. Die Ich-Erzählerin rechnet aus, dass die Kinder aufgrund ihrer Scheidung eines Tages sechs verschiedene Orte werden ansteuern müssen, um ihre sommerlichen Familienbesuche zu absolvieren. Doch was hält die generationsübergreifenden Kleingruppenverbände nun eigentlich zusammen? Der Flug einer Möwe gibt die Antwort:

Måken letter, liksom trett, som om den egentlig ikke gidder. Som om den ikke setter pris på det fantastiske å kunne fly. For den virker det vel som om vi er limt fast til bakken. Den flyr lavt over parkeringsplassen, men finner ingenting av interesse. (S. 174)

Die Möwe hebt ab, als ob sie müde wäre und eigentlich wenig Lust hat. Als ob sie keinen Wert auf die fantastische Möglichkeit legte, fliegen zu können. Aus ihrer Sicht muss es so aussehen, als ob wir auf dem Hügel festgeklebt wären. In niedriger Höhe überfliegt sie den Parkplatz, kann aber nichts Interessantes entdecken.

Ein dauerhafter Aufenthalt jenseits des Areals vertrauter Geborgenheit scheint trotz der offenkundigen Abnutzungserscheinungen nicht verheißungsvoll. Auch in dieser Hinsicht entfaltet sich eine nostalgische Perspektive auf das sozialrealistische Genre, indem Lykkes Sammlung markante Parallelen etwa zu Vita Andersens Hold kæft og vær smuk (DK, 1978) oder anderen skandinavischen Erzählbänden aus den 1970ern aufweist. Schon damals wurden Alltagsszenen stellvertretend abgehandelt, wenn es um ethische und privat-politische Lebensfragen ging, und schon damals hatte man sich auf die Suche nach dem glücklichen Dasein im konkurrenzbetonten Wohlfahrtsstaat begeben. Der Wunsch, als ein ausgeglichener Mensch zu leben, „som gikk rundt og var i pakt med seg selv og slapp alle disse klovneriene.“ (S. 38; der umherging und mit sich selbst im Einklang war und dieses alberne Spiel nicht mehr nötig hatte), hat offenbar nichts an Aktualität eingebüßt, auch wenn die Übereinstimmung mit sich selbst heute unzweifelhaft ein anachronistisch anmutendes Identitätskonzept darstellt.

Nina Lykke: Orgien, og andre fortellinger. Oktober, 2010.
(Berlin, Oktober 2011, Antje Wischmann)

In Norwegen veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen