„Ein verknoteter, dichter und haariger Zentralpunkt“. Sigrid Combüchen: Den Umbärliga (2014)

combuechenSchauen Sie sich bitte dieses Foto genau an: Ida Bäckmann in Napoleon-Pose, mit einer hutähnlich modellierten Langhaarfrisur und einem intensiven Blick, dem Combüchen nachsagt, dass er die allgemeinen Vorfahrtsregeln nicht beachte. Das Foto (1908 während einer Ausstellung in der Kunstakademie aufgenommen) stiftet Verwirrung durch die unter den Träger des Kleides geschobene Hand, die zudem mit einer bildlich dargestellten Hand auf einem Wandbehang korrespondiert – doch dort hebt die Figur ihre Hand, um das Gesicht vor grellem Licht zu schützen; die Exponiertheit wird, anders als bei Bäckmanns Haltung, gestisch relativiert.

Combüchen, deren Ich-Erzählerin sich kaum Mühe macht, einen Abstand zur realen Autorin zu schaffen, widmet sich einer kontroversen Gestalt der schwedischen Literaturgeschichte, die als Stalkerin oder parasitäre Biographin galt, welche die Nähe Gustaf Frödings und Selma Lagerlöfs suchte, um dem eigenen Leben mehr Bedeutung zu verleihen. Einen chronologischen Überblick über Bäckmanns CV liefert das Buch erst am Schluss, mit der Anmerkung, dass viele weiße Flecke auf dieser biographischen Karte noch immer nicht erschlossen seien. Doch besteht Combüchens erkenntnisfördernde Neuerung darin, Bäckmann überhaupt zur Protagonistin werden zu lassen. Im resümierenden Lebenslauf wird bewusst auf den „kittenden Zement“ zwischen den „Mosaiksteinen“ verzichtet, der zuvor als Metapher für die spekulativen Ergänzungen und Deutungen in der biographischen Literaturgeschichts-schreibung eingeführt worden ist. Zement in die Lücken zu gießen, schließt nämlich aus, den Prozess der Bedeutungskonstituierung jemals wieder nachvollziehen zu können. Die kittende Masse versinnbildlicht Fixieren und Vergessen.

Das Gegenbild zum Zement ist der verknotete Zentralpunkt als haariges Knäuel, unübersichtlich und ausfasernd (vgl. S. 130f.), gerade eben nicht im Zustand eines planvoll erstellten Gewebes. Daher herrscht kein Zweifel daran, dass diese investigative und materialbewusste Biographie einer persona non grata metareflexive Züge anstrebt. Durch das Verfahren des Positionswechsels werden unterschiedliche Versionen der von Bäckmann erprobten Identitätsangebote auf spannungsreiche Weise ineinander verflochten und gegeneinander ausgespielt. Wie kam das Deutungsvorrecht bei der Beurteilung von Bäckmanns Leben als verfehlt oder misslungen genau zustande? Welche Interessen verfolgten die beteiligten Akteure in ihrem Spiel?

Die Antwort darauf ist erstaunlich kompliziert, wie die Auswertung unterschiedlicher Biographien und Briefsammlungen von u.a. Gustaf und Cecilia Fröding, Selma Lagerlöf sowie von historischen Zeugnissen der Forschung beweist. Aufeinanderprallende Widersprüche, irritierende Einwürfe, Widerruf und Revision im Nachhinein – die Deutungen weisen in viele Richtungen zugleich, was von Combüchen zu einem Stilprinzip erhoben wird.

Besonderes Gewicht erhalten die erstmals in der Zusammenschau erschlossenen literarischen Arbeiten Bäckmanns, ihre Korrespondenz und Reisereportagen. Mitten im Material findet sich ein begriffliches literarisch-biographisches Energiefeld, das Bäckmann selbst benennt: „romanupplevelselängtan“ (S. 247, „die Sehnsucht nach Romanerlebnissen“, 1908) stellt sich als ein Begehren dar, das jenseits der sog. Sinnerfüllung und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verorten ist. Während die Aufmerksamkeit von anderen bereitgestellt wird, kann man selbst Maßnahmen ergreifen, um die Romanhaftigkeit des eigenen Daseins zu steigern! Hiermit weist Bäckmann eigentlich auf das modernistische Modell der Lebensführung im Dienste der Kunst voraus, ist sie doch eine literarische Außenseiterin par excellence.

Bäckmann war in eine wechselvolle Dreiecksbeziehung mit Gustaf Fröding und dessen Schwester Cecilia eingebunden; den psychisch kranken Dichter hatte sie 1896 besucht und ihm Schutz, Geleit und Verlobung angeboten. Alternierend befasste sich die unerschrockene Autorin leidenschaftslos mit Schulunterricht und immer wieder mit Auslandsreisen (nach Südafrika, Holland, Russland, Südamerika). Ihre Reisereportagen wurden 1906-10 veröffentlicht, im Jahre 2013 von Per Erik Tell neu gewürdigt. Als Beispiele für ihre prägnanten literarischen Arbeiten ist der melodramatische Roman Tantali kval (Tantalusqualen 1898) zu nennen, der G. Frödings tragisches Dichterschicksal antizipiert und damit bereits einige Probehandlungen durchspielt.

Der epochentypische Hysterieverdacht lässt sich durch die unterschiedlichen Schilderungen der Betreuung nicht bestätigen, die Bäckmann G. Fröding bei ihren beharrlichen Krankenbesuchen 1903-06 angedeihen ließ. (Der Patient schien über den regelmäßigen Besuch eher erfreut als verstimmt zu sein.) Eine der Versionen, dass Bäckmann die erotischen Obsessionen Frödings verstärkte, stammte von Cecilia Fröding, die doch selbst lange Zeit mit Bäckmann befreundet gewesen war. Das von C. Fröding veranlasste Besuchsverbot, das eine wichtige Lebensepisode Bäckmanns abrupt enden ließ, wurde von dem Arzt befürwortet, der den vorher zuständigen Herman Lundborg abgelöst hatte. Lundborg, zu dieser Zeit wohlgemerkt noch nicht als Rassenbiologe tätig, hatte eine Verbesserung von Frödings Zustand festgestellt. Auch unterstützte er Bäckmann, als sie öffentlich angeprangert wurde. Ist Lundborg ein unzuverlässiger Bürge für ihre Einsätze, weil er später dem rassenbiologischen Zentrum vorstand? Zu der heterogenen Gruppe, die Bäckmann die Treue hielten, gehörten die provokative Kritikerin Klara Johanson, der Maler Carl Larsson, mit dem sie mitunter Pathos und Lautstärke zu teilen scheint, aber eben auch Selma Lagerlöf, die sich überaus ambivalent verhielt und zwischen Loyalität und herber Verachtung schwankte.

Lagerlöf gab Bäckmann den Rat, die Erlebnisse mit Fröding zu einem Buch zu verarbeiten, ein Ratschlag, den die Nobelpreisträgerin nach dem vehementen Misserfolg von Gustaf Fröding skildrad af Ida Bäckmann (Gustaf Fröding, geschildert von Ida Bäckmann 1913) bitter bereute. Schon im Vorfeld distanzierte sich Lagerlöf von diesem Vorhaben. Das von ihr zugesagte Vorwort wurde nicht verfasst, auch ein von Bäckmann gefordertes kompensierendes Werk Lagerlöfs nahm 1930 nur Artikelformat an. Nichtsdestotrotz kürt sich Bäckmann erneut zu einer wichtigen Nebenfigur, nunmehr im Leben Lagerlöfs: Mitt liv med Selma Lagerlöf (Mein Leben mit Selma Lagerlöf, 2 Bde. 1944). Bemerkenswert scheint, dass Lagerlöf trotz der Schwankungen die Freundschaft auch weiter pflegte, sogar als sich die Möglichkeit einer recht schmerzlosen ‚Trennung‘ ergab. Bäckmanns Frödingbuch wurde 1940 mit dem tönenden Titel Gralsökaren (Der Gralssucher) neu aufgelegt. Bäckmann hatte sich mit einer Freundin nach Himmer (bei Örebro, Närke) zurückgezogen und schrieb u.a. die von Klara Johanson gelobte Landlebenschilderung På och i vägen med Fordhoppa (1925, übersetzt in etwa: Unterwegs mit dem Ford-Gaul). Von ihren großen Projekten der Koproduktion scheint sie sich vor allem als Jugendbuchschriftstellerin (die Trilogie Röpecka/Rotschopf wird 1937 fertiggestellt), Reisereporterin und Hühnerfarmerin ansatzweise lösen zu können, wenn es schließlich sogar heißt: „Selma var umbärlig.“ (S. 264, Selma war entbehrlich.) Obwohl sie anstrebte, wichtige Nebenfigur im Leben anderer zu sein, versuchte sie dennoch, auf deren Wirken Einfluss zu nehmen (vgl. S. 114). Nach ihren Reisen habe Bäckmann laut Combüchen stets daran weitergearbeitet, „att sömna och reparera på den allt knöligare, kompakta och håriga berättelsen om L och F.“(S. 130, die Erzählung über L und F weiter zu vernähen und zu reparieren, die immer verknoteter, dichter und haariger geworden war). Auf die Metapher des Nervenknotens (S. 171, „nervknuten“) kommt die Ich-Erzählerin zurück in der Beschreibung des abschließenden Konflikts auf der psychiatrischen Station, der zu Bäckmanns Bruch mit den Geschwistern Fröding führt. Für den in Erwägung gezogenen Roman über Bäckmann – mit just dieser als Protagonistin – ist dieses Ereignis der wichtigste Ausstrahlungspunkt.

Combüchen gelingt es auf faszinierende Weise, Gegenstimmen zu den Diffamierungen in ihren Quellen zu finden, die sowohl mit Selbstzeugnissen als auch mit literarischen Arbeiten Bäckmanns untermauert werden. Die Korrespondenzen mit Fröding und dessen Schwester sind bereits zu Lebzeiten von Bäckmann ausgewählt, arrangiert, gestutzt worden; die löcherigen Papierbögen sind ein groteskes Monument der fortlaufenden Arbeit am Selbst. Die materiellen Leerstellen lassen zum einen Vermutungen zu, was verschwinden sollte, um den Argumenten der Gegner zuvorzukommen oder um die Widersprüche zu – kleidsameren ­– Versionen zu beseitigen, die Bäckmann oder andere bereits in Umlauf gebracht hatten.

Bereits in Spill. En damroman (2010; Was übrig bleibt. Ein Damenroman, übs. von Paul Berf, 2012) wurde das Thema der Biographien derjenigen behandelt, die vergessen sind, weil sie die Erwartungen anderer nicht erfüllten, als gescheitert oder als Möchtegern-Gestalten marginalisiert blieben. Combüchens Vergleich eines Bäckmann-Textes mit einem „Marlittroman“ (S. 157) zeigt an, dass die Risiken einer gender-blinden Literaturgeschichtsschreibung mit Den umbärliga herausgestellt werden sollen (siehe etwa die Forschungen von Pil Dahlerup 1982 oder David Gedin 2004). Zugleich geht die Vorliebe für ‚Marlitt-Genres‘, also Damenromane, auf eine Unterstellung der verstimmten Cecilia Fröding zurück, Bäckmann hätte eine besondere Affinität zur sensationsheischenden Trivialliteratur. Hieraus geht hervor, dass den interagierenden Texten Akteursstatus zukommt, denn die Gattungen und Textsorten charakterisieren sich wechselseitig so wie die Figuren.

Der Topos von dem ersehnten Einfluss des Individuums auf die Nachwelt, eingefangen in dem Ausdruck, ‚etwas Bleibendes hinterlassen zu wollen‘, wird bis heute selten hinterfragt. Mitunter reicht schon eine Phase der Berühmtheit aus, in den sozialen Medien bekanntlich eine kürzere Zeitspanne, um zu einer öffentlichen Person zu avancieren, wobei einst und jetzt der Skandal die grundlegende Initialzündung liefert.

In Spill geht es um eine Lebensgeschichte, die viel verspricht, in der Rückschau aber wenig von den Versprechen eingelöst zu haben scheint. Die Titelmetapher lässt den Begriff der Vergeudung geradezu schillern – wer sagt einem Menschen nach, sein Leben nicht ausgeschöpft zu haben oder gar Zeit verschwendet zu haben? In welchem Verhältnis stehen Selbstzuschreibung und Projektionen von außen zueinander, auch wenn letztere den autobiographischen Textentwurf längst invadiert haben? Und vor welchem Hintergrund werden solche Urteile gefällt? Diese existentielle Frage wird also in beiden Romanen gestellt.

Combüchen hat eine komplexe Textkomposition geschaffen, die mit ungewöhnlichen Metaphern arbeitet (siehe die Titelformulierung der Rezension), die sowohl auf verschiedenen historischen Zeitstufen als auch zeitlichen Erzählebenen entfaltet werden. So wird etwa die I-Phone-App als mediale Metapher ausgetestet. Könnte man weiblichen Altruismus als Vorform einer App betrachten, „ett programtillägg för att frigöra, svalka, förnya mannen“, S. 48; ein Zusatzprogramm, mit dem der Mann [gemeint ist der exemplarische Fröding, AW], freigestellt, beruhigt und erquickt werden kann? Hebt dieser Metapherngebrauch nicht treffend eine automatisierte genderspezifische Erwartungshaltung und eine gedankenlose Unterstellung von Kompetenzbereichen der Geschlechter hervor? Frödings, trotz seiner Krankheit, niemals in Frage gestellte Position als schöpferischer Künstler und Bäckmanns vermeintlich selbstverständliche Stellung als ‚Dichter-Applikation‘ sind durch diesen Metapherntransfer ebenfalls erfasst.

Für die Entwirrungsarbeit der losen Fadenenden wird der Vergleich mit der Nanotechnik bemüht (vgl. S. 65), auch dieser wird nicht im Tonfall der Technikskepsis eingeführt, sondern mit einer Begrüßung der neu entstandenen metaphorischen Optionen. Niemals entsteht in Den umbärliga ein tragfähiges Gewebe, stattdessen findet ein – genüsslich prozessuales – ‚Tauziehen mit dünnem Faden‘ statt (vgl. S. 160), und die weißen Flecken verändern fortlaufend ihre Konturen. Die mitunter eingestreuten englischen Wendungen („believed“, „skalde-shrink“, „kiss & tell“) setzen ein sinnbildhaftes code-switching um, das mit dem Figuren- und Textsorten-spezifischen Registerwechsel korrespondiert. Dies sind sprachliche Spielarten des Positionswechsels, der schließlich auf das Zusammenspiel der Gattungen sowie das Wechselverhältnis von dargestellter/außertextlicher Welt bezogen wird. Nicht nur der vorherige Damenroman, sondern auch Combüchens Byron-Monographie (1988) kommt in unterschiedlichen Intensitätsgraden ins Spiel, nicht zuletzt weil Lagerlöf eine Ähnlichkeit zwischen Byron und Fröding festzustellen meint (vgl. S. 100).

Den umbärliga setzt eine ästhetisch nachvollziehende Literaturgeschichts-schreibung frei und problematisiert sowohl plausible als auch bizarre Versuche, Kontinuität in geschichtlichen Verläufen zu suggerieren. Die Anwendung ahistorischer, kollidierender Metaphern demonstriert, dass Vorstellungen von einer Horizontverschmelzung fragwürdig sind. Aus diesen Zweifeln ergibt sich in der Konsequenz, dass auch die Konzepte von einem sinnerfüllten Leben und von den Nachwirkungen eines Menschen ganz sicher keine anthropologischen Konstanten sind. Den umbärliga hat einen weiteren Appell, nämlich das vermeintlich Verschwendete nachdenklich und mit großer Milde zu betrachten.

Sigrid Combüchen: Den Umbärliga, Stockholm: Norstedts, 2014.
(Antje Wischmann, Wien, März 2015)

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Peter Høeg: Effekten af Susan

hoegPeter Høeg ist ein zwar international erfolgreicher, doch vom dänischen Feuilleton wenig geliebter Autor. Seine ersten beiden Bücher, vor allem der Erzählband Fortællinger om natten (1990), wurden zunächst enthusiastisch begrüßt, seine stilistische Brillanz, Imaginationsfähigkeit und erzählerische Kreativität galten als Indizien für eine große literarische Karriere; mit  Frøken Smillas fornemmelse for sne (1992) trug er dann (neben Jostein Gaarder) ganz entscheidend zum internationalen Durchbruch der skandinavischen Literatur auf den Buchmärkten der westlichen Welt bei. Mittlerweile sind Høegs Werke in 33 Sprachen übersetzt, doch die seit 1993 publizierten vier Romane brachten dem Autor kaum Lob in der heimischen Literaturkritik ein. Auch sein im Mai erschienener neuer Roman Effekten af Susan erhielt überwiegend kritische Rezensionen in der dänischen Presse. Die Berlingske Tidende schrieb, dieser Hybridroman, der Thriller, Apokalypse und Populärwissenschaft in durchaus ambitionierter Weise mische, sei zwar unterhaltsam, aber zu konstruiert, um als große Literatur zu gelten. Ekstrabladet hielt hingegen den Spannungsbogen für zu »træg« (träge), auch Information urteilte negativ. Von den großen Tageszeitungen druckte lediglich Politiken eine recht positive Besprechung und attestierte dem neuen Roman das Potential zu einem Comeback, das an den Erfolg von Fräulein Smilla anschließen könnte: »Peter Høeg er i topform med videnskabelig superwoman« (Peter Høeg ist mit wissenschaftlicher Superfrau in Topform).

Die Parallelen zu dem früheren Roman sind denn auch offensichtlich. Sie beginnen damit, dass Høeg wiederum eine starke Heldin entwirft, eine ungewöhnliche Frau, die nicht nur im Zentrum dieses Romans steht, sondern auch seine Erzählerin ist. Susan Svendsen ist Experimentalphysikerin, beschäftigt an der Universität Kopenhagen und mit Verbindungen in die höchsten Kreise von Wissenschaft und Gesellschaft. Abgesehen von ihrem Glauben an die Gesetze des Periodensystems, d.h. die Rationalität der Naturwissenschaften, besitzt sie eine Art spirituelle Eigenschaft, die dem Roman den Titel gibt: Sie kann bei ihrem Gegenüber, in bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraussetzungen, Ehrlichkeit hervorrufen. Dieser »Effekt« birgt letztendlich die Möglichkeit zu humanitärem Miteinander, die Nähe zum anderen Menschen ist es, die der Roman in seinem Schlusskapitel als ein ethisches Ziel formuliert: »Længst inde i en selv er de andre mennesker« (S. 330; Im eigenen Innersten sind die anderen Menschen).

Die Verbindung von Ratio und Intuition, von logischem Scharfsinn und Streben nach menschlicher Gemeinschaft verkörpern auch die Ehepartner Susan und Laban: der Ehemann der Hauptfigur ist Musiker und Komponist und steht damit für Kreativität und Gefühl, womit die gängigen Geschlechterzuschreibungen verkehrt werden:

­Han peger op på månen, den er tæt ved at være fuld, omkring den lysende skive er et opalfarvet regnbuefænomen, the circle of the moon.

– Susan, hvad ser du?

– Refraktion, den supernumeriske bue.

Han nikker tankefuldt. Vi har gjort det her før, det er en gammel leg mellem os, et spil der går tilbage til da vi lærte hinanden at kende. Laban udpeger et fysisk fænomen. Vi beskriver så for hinanden hvad vi ser.

Aldrig nogensinde så vi det samme.

-Jeg ser en følelse. Af skæbne. Af uafvendelighed. I de uafvendelighed er der samtidig harmoni. (S. 171)

Er zeigt auf den Mond, der beinahe voll ist und um die leuchtende Scheibe herum ein opalfarbenes Regenbogenphänomen aufweist, the circle of the moon.

– Susan was siehst du?

– Refraktion, den supernumerischen Bogen.

Er nickt gedankenvoll. Wir haben das schon öfter gemacht, es ist ein altes Spiel zwischen uns, ein Spiel, das auf die Zeit zurückgeht, als wir uns kennenlernten. Laban weist auf ein physisches Phänomen hin, und wir beschreiben füreinander, was wir sehen.

Wir haben niemals dasselbe gesehen.

-Ich sehe ein Gefühl. Von Schicksal. Von Unabwendbarkeit. Im Unabwendbaren liegt gleichzeitig Harmonie.

Über diese Fähigkeiten hinaus hat Susan körperliche Stärke, Kraft, Ausdauer, Sex-Appeal, Mut, hohe Intelligenz, eine schnelle Auffassungsgabe – sie ist in der Tat eine »superwoman«, die typisch weibliche mit einer Vielzahl von traditionell Männern zugeschriebenen Eigenschaften vereint. Wie Smilla vor ihr verkörpert sie insofern ein die Normen überschreitendes Frauenbild. Mit Geschlechterstereotypen und überkommenen Familienbildern räumt der Roman gewissermaßen im Vorübergehen auf:

Det danske samfund har en massiv mainstream. Hvis man følger den, får man medvind, man får fremdrift og et skub i ryggen af at gøre som alle andre. Det eneste, man skal, er at få sin uddannelse, inden man er 30, sikre sig en mand og nogle børn og en villa, fra man er 30 til 40, frasere alkoholforbruget, overleve midtvejskriserne, kridte skoene og være klar, når børnene flytter hjemmefra, til at tage den sidste lange spurt i det danske kapløb, der hedder ›den, der har mest, når hun dør, har vundet‹.

Die dänische Gesellschaft hat einen massiven Mainstream. Wenn man ihm folgt, hat man den Wind von hinten, man bekommt Antrieb und einen Schubs in den Rücken davon, dass man dasselbe tut wie alle anderen. Das einzige, was man tun muss, ist seine Ausbildung zu beenden, bevor man 30 ist, sich einen Mann, ein paar Kinder und eine Villa sichern, wenn man zwischen 30 und 40 ist, den Alkoholverbrauch schönreden, die Midlife-Krise überwinden, nicht nachgeben und bereit sein, wenn die Kinder ausziehen, den letzten langen Spurt im dänischen Wettlauf anzutreten, der da heißt, ›derjenige, der am meisten hat, wenn er/sie stirbt, hat gewonnen‹.

Vor allem aber, und das ist der zweite Punkt, in dem dieser Roman an den Erfolgs-Vorgänger anschließt, werden die ungewöhnlichen Eigenschaften der Hauptfigur benötigt, um ein Genre umzusetzen, das wohl am ehesten als Öko-Thriller bezeichnet werden kann. Der komplizierte Plot entzieht sich der Nacherzählung und sollte auch, da der Roman vor allem Thriller-Fans begeistern wird, nicht verraten werden. Doch es geht um nicht mehr und nicht weniger als die ultimative ökologische Katastrophe, die von einer in den 1970er Jahren installierten ›Zukunftskommission‹ ziemlich exakt prognostiziert wurde. Um die Mitglieder und vor allem um die von politisch Mächtigen geheim gehaltenen Protokolle dieser Kommission dreht sich die quest dieses Romans, die Susan und ihre Familie mehrfach in Lebensgefahr bringt und schließlich – so viel sei dann doch verraten – alle Hindernisse überwinden lässt. Die Welt wird durch ihre Aktionen allerdings nicht gerettet, aber der Autor mag gehofft haben, dass mit einer spannenden Romanhandlung und einem apokalyptischen Szenario mehr Menschen auf ökologische Missstände und skrupellose Machtpolitik aufmerksam werden als durch wissenschaftliche Berichte oder politische Warnungen.

Mit seiner hybriden Gattung, dem als action novel verpackten ernsten Anliegen, das ökologisches Bewusstsein mit einer Aufforderung zur Mitmenschlichkeit verbindet, liegt der Roman ebenso im Trend wie mit seinem Bezug auf Physik und Naturwissenschaften, die in etlichen aktuellen Romanen und Filmen eine Rolle spielen. Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Plot-Konstruktion und Figurenhandeln zu stellen, erübrigt sich wohl in diesem Genre – so offensichtlich ist die Konstruiertheit, die Menge der Zufälle und Übertreibungen, die übermenschliche Kraft der Heldin, die Gewaltbereitschaft und Bosheit der Gegner, dass überhaupt nichts in diesem Roman dem oben genannten mainstream entspricht. Ist es Ausdruck von kritischer Selbstreflexivität, wenn es im Roman selbst heißt, die Berichte der Zukunftskommission seien unterdrückt worden, weil ihr Katastrophenszenario so unwahrscheinlich erschien, dass es die Menschen für Unsinn (eigentlich: Geisterbeschwörung = »åndemaneri«, S. 270) gehalten hätten? Anders gefragt: Welche Wirkung haben Übertreibungen, wenn es darum geht, ernsthafte Warnungen auszusprechen, oder ist eine Fiktion keine Übertreibung, sondern besitzt die Kraft zur Veranschaulichung?

Fest steht, dass Peter Høegs Fabulierfreude und sein Erfindungsreichtum seiner bekannten Stilsicherheit in nichts nachstehen. Durch die spannungsgeladene Handlung, die mit Stemmeisen und Schraubenzieher kämpfende Heldin und nicht zuletzt schon durch seinen Titel (The Susan-effect) hat der Roman Chancen auf einen erneuten internationalen Erfolg oder eine Verfilmung. Um ihn als Literatur wirklich schätzen zu können, muss man aber action-plots mögen – und die mag bestimmt nicht jeder.

Peter Høeg: Effekten af Susan, København: Rosinante, 2014, 330 S.
(Annegret Heitmann, München, August 2014)

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Tomas Espedal: Imot naturen (notatbøkene)

Imot-naturenThomas Espedal ist, was die Rezeption und das knappe Piano seiner Sprache anlangt, leise unter den ‚Selbsterzählern’, viel leiser als der über Norwegen hinaus auch in Deutschland und den U.S.A. hinreichend bekannte Karl Ove Knausgård und seine monumentale Hexalogie (Espedal selbst spricht von „800 faste lesere“ („800 festen Lesern“), vgl. den Beitrag von Siri Økland mit dem Titel Tomas Espedal: – Ja, jeg er en åndssnobb (Tomas Espedal: Ja, ich bin ein Bildungssnobb) in Aftenposten kultur  vom 21.12.2012; vgl. zur Knausgård-Rezeption in den U.S.A. den Beitrag von Lisa Abend mit dem Titel Norway’s Proust. The unlikely stardom of Karl Ove Knausgaard im Time Magazine vom 02.07.2014). Dabei ist Espedals autonarrativ wiedergegebener ‚Lebenskampf’ nicht minder intensiv, nicht weniger schwer als Knausgårds, dazu durchdrungen von einer besonderen Sensibilität für das Tragische des Alltags. Espedals Ich-Erzählerstimme zeichnet vor allem eine Erlebnisfähigkeit für das Leidvolle aus. Seine Prosa erscheint als aufrichtige Introspektion und Selbstreflexion, ein intimes Abrechnen mit den eigenen Handlungen und Handlungsmotivationen, zugleich jedoch auch als ein eindringlicher, flehentlicher Ruf nach Erlösung von niederschmetternden Schicksalsschlägen und von der gnadenlosen Forderung des Lebens, wieder aufstehen, weitergehen, weitermachen zu müssen.

Der 48-jährige Ich-Erzähler Tomas, der – wie auch in anderen Werken Espedals – die Möglichkeit zum Wechsel in eine Außenposition hat, in der er von sich selbst in der dritten Person spricht, trifft auf einer Silvesterparty eine sehr junge Frau namens Janne, die nur etwa halb so alt ist wie er selbst. Die beiden ziehen sich in ein abseits gelegenes Bibliothekszimmer des Gastgebers zurück und erleben ein leidenschaftliches sexuelles Abenteuer. Während Janne wegen des Altersunterschieds anfänglich unsicher ist, empfindet der Ich-Erzähler sie sofort als einzig wahre und tiefste Liebe seines Lebens.

Trotz der fulminanten Introduktion (Kapitel „Biblioteket“ („Die Bibliothek“)) schwebt von Anfang an eine Tragik über der Beziehung. Diese Tragik wird allerdings erst nach einem langen retrospektiven Intermezzo (Kapitel „Arbeidet, fabrikken“ („Die Arbeit, die Fabrik“), „Kjærlighetsarbeidet“ („Die Liebesarbeit“) und „Arbeidsrom, laboratorierom“ („Arbeitszimmer, Laboratorium“) erzählerisch fortgeführt. Wiederholt vergleicht der Ich-Erzähler seine Beziehung mit derjenigen zwischen dem 38-jährigen Philosophen Pierre Abélard und dessen 16-jähriger Schülerin Heloïse. Deren Liebe endete nach Heloïses entdeckter Schwangerschaft in einer gewaltsamen Trennung, der Entmannung Abélards durch Heloïses gekränkten Onkel Fulbert und der ‚Verwahrung’ beider ehemals Liebender in Klöstern. Abélards in Historia Calamitatum vermittelte Stimmung bildet den psychisch-emotionalen Subtext, vor dem Wider die Natur zu lesen ist. Der Briefwechsel des mittelalterlichen Philosophen mit Heloïse wird ausschnittweise als Intertext in einer norwegischen Übersetzung von Harald Gullichsen zitiert. Auch Ovids Liebeskunst bildet in Thea Selliaas Thorsens norwegischer Übersetzung einen Referenztext, nimmt jedoch – verglichen mit Abélard und Heloïse – lediglich eine intertextuelle Statistenposition ein.

Das bereits erwähnte Intermezzo, das von der gesellschaftlich nicht sanktionierten Beziehung zwischen Ich-Erzähler und Janne sowie den Zitaten zu Abélard und Heloïse umrahmt wird, schlüsselt Tomas’ erste gescheiterte Liebe zu Eli und die ebenfalls gescheiterte Ehe mit der wenige Jahre nach der Scheidung an Krebs verstorbenen Agnete auf. Aus Tomas’ Verbindung mit der exzentrischen, zunächst in Rom lebenden, dann auf Tourneen in Norwegen und Nicaragua in Begleitung von Mann und Kind umherreisenden Schauspielerin Agnete ging die gemeinsame Tochter Amalie hervor, aus einer späteren Liaison Agnetes ihr zweites Kind Harriet. Der Ich-Erzähler versorgte nach Agnetes Tod durchgehend seine leibliche Tochter, eine Zeit lang auch sein ‚Stiefkind’.

Nachdem der Rahmen geschlossen und auch das glückliche Zusammenleben mit Janne dargestellt wurde (Kapitel „En liten bok om lykke“ („Ein kleines Buch vom Glück“)), läuft die Erzählung in einer Coda aus (Kapitel „Notatbøkene“ („Die Notizbücher“) – die Kapitelüberschrift stellt wieder eine Verbindung zum Anfang, zum Untertitel „notatbøkene“ her). Darin verändert sich die fließend-assoziative narrative Form zu einzelnen datierten Tagebucheinträgen und bruchstückhaften Notizen. Sie sind aufgezeichnet, nachdem Janne sowie auch die Tochter Amalie aus dem gemeinsam mit dem Ich-Erzähler bewohnten Reihenhaus ausgezogen sind. Aus unterschiedlichen Motivationen gingen die beiden jungen Frauen nach Oslo: Janne, um etwas zu erleben, um mit anderen und vor allem jüngeren Männern zusammen zu sein; die 19-jährige Amalie, um ihr eigenes Leben zu beginnen. Als Vater und Lebenspartner verlassen bleibt der Ich-Erzähler zurück, verliert sich in seinem Liebeskummer, in Alkohol- und Zigarettenkonsum. Er löst sich als psychisches Subjekt sichtbar in einer stellenweise symbolistisch-kryptischen Sprache auf, die in einigen Passagen delirierend wirkt. Die Sprachform ist teilweise sehr musikalisch, erinnert an gebetsähnliche Formeln mit Anspielungen auf eine mystisch-religiöse Erfahrung bzw. an einen sprachlich praktizierten Ritus des Hieros gamos. Durch die subversive Kraft der Sprache schient zugleich die Hoffung auf einen Wandel, eine Verkehrung des Gegebenen auf:

Ingen dager er helligdager.

Våkner i stuen, på gulvet, like i nærheten av Jannes sofa. Jeg tryglet henne om å la den bli igjen her; sofaen og lampene og mest mulig av tingene hennes, hun lot dem bli igjen.

Alt her er som det var før. Jeg våkner på gulvet, har drukket for mye vin. Tre liter, det betyr at jeg har en kartong tilbake; jeg finner hvitt brød på kjøkkenet, dypper det i glaset med vin, spiser.

Spiser, drikker.

Det er enkelt, det er rent.

Hvitt brød, den hvite kroppen.

Så enkelt, så rent.

Dypper brødet i vinen; hvordan brødet trekker opp i seg blodet hennes.

Det røde, bløte brødet. Den røde, fyldige munnen hennes; jeg spiser den.

Så rødt, så rent. Så rødt, så hvitt. Så hvitt, så rent. Så hvitt. Så hvitt, så hvitt. Så rent, så rødt.

Så rødt, så dødt, så født. Så født og bløtt. Så bløtt og søtt. Så søtsøtt. Så søtrødt. Så søtfødt i munnen.

Så dødbløtt i munnen. Inne i. Inne i munnen. I min. Så dødfødt i munnen. Inne i. I munnen. I munnen i.

I munnen i min. Inne i. Inne i munnen min. Nå er hun i munnen min.

Nå er hun min.

Så enkelt, så rent.

Drikker, spiser.

Alle dager er helligdager (Imot naturen, 148–149).

(Kein Tag ist Feiertag.

Wache im Wohnzimmer auf, auf dem Boden, dicht neben Jannes Sofa. Ich hatte sie angebettelt, es hierzulassen; das Sofa und die Lampen und so viele von ihren Sachen wie möglich, sie ließ sie hier.

Alles hier ist wie vorher. Ich wache auf dem Boden auf, habe zu viel Wein getrunken. Drei Liter, das bedeutet, ich habe noch einen Karton; in der Küche finde ich Weißbrot, tauche es ins Weinglas, esse.

Esse, trinke.

Das ist einfach, das ist rein.

Weißes Brot, den weißen Körper.

So einfach, so rein.

Tauche das Brot in den Wein; wie das Brot ihr Blut aufsaugt.

Das rote, weiche Brot. Ihr roter, voller Mund; ich esse ihn.

So rot, so rein. So rot, so weiß. So weiß, so rein. So weiß. So weiß, so weiß. So rein, so rot.

So rot, so tot, so Brot. So Brot und Not. So Not und rott. So rottrott. So rottrot. So Rottbrot im Mund.

So totnot im Mund. Innen im. Innen im Mund. In meinem. So totbrot im Mund, innen im. Im Mund. Im Mund innen.

Im Mund in meinem. Innen im. Innen in meinem Mund. Jetzt ist sie in meinem Mund.

Jetzt ist sie mein.

So einfach, so rein.

Trinken, essen.

Alle Tage sind Feiertage

(Wider die Natur, 157–159, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Die anfänglich gemachte Aussage wird somit ins Gegenteil verkehrt, wird ‚umgeschrieben’.

Außerdem ist die drohende Auflösung des Subjekts einerseits in den zunehmend von mehrtägigen Schreibpausen durchsetzten Tagebuchaufzeichnungen deutlich, andererseits durch die wiederholte Mitteilung über den Gewichtsverlust von mehreren Kilo, den der Ich-Erzähler aufgrund seines Liebeskummers erleidet.

Von Tomas Espedals Werken wurde außer Imot naturen (Wider die Natur) von Hinrich Schmidt-Henkel bisher nur Gå eller kunsten å leve et vilt og poetisk liv (Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen) von Paul Berf ins Deutsche übersetzt. Anlässlich der Übersetzung und bevorstehenden Publikation von Wider die Natur im März 2014 war der Autor auf der Leipziger Buchmesse zu Gast und las ebendort auf dem Nordischen Forum sowie in Kiel und Berlin (Pressemitteilung der Königlich Norwegischen Botschaft in Berlin vom 12. März 2014). Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung steht – davon wird sich der des Norwegischen und Deutschen mächtige Leser leicht selbst überzeugen können – Espedals sprachlich hochkonzentriertem Erzählstil und seinen spielerischen, lyrisch verdichteten Exkursen in nichts nach. Aus obigem Zitat wird die kongeniale Umdichtung des Gegensatzes von Tot-Sein und Geboren-Werden deutlich, das bei einer wörtlichen Wiedergabe im Deutschen den Sprachrhythmus und die Assonanzen zunichte gemacht hätte. Anzumerken wäre, dass Schmidt-Henkel eine größere Varianz an semantisch ähnlichen Ausdrücken wählt, wo das Norwegische dieselben Lexeme benutzt.

Wider die Natur ist als Fortspinnung des 2009 von Espedal publizierten, noch nicht ins Deutsche übersetzen Romans Imot kunsten (Wider die Kunst) und damit als Erforschung einer ‚Natur’ als einem scheinbaren Antipoden zu ‚Kunst’ zu verstehen. Setzt sich das Erzähler-Ich Tomas in Imot kunsten mit sich wiederholenden Mustern innerhalb seiner Herkunftsfamilien auseinander und erforscht selbstreflexiv und biographisch den Schreibprozess, das Schreiben als Arbeit, dessen Implementierung in den Alltag, seine Funktion im und sein Verhältnis zum Leben, so kreisen die Gedanken des Ich-Erzählers in Wider die Natur um die – perspektivisch und kontextuell variable – Natürlichkeit oder Widernatürlichkeit von Handlungen in Intim- und Liebesbeziehungen. Agnete etwa bringt den Ich-Erzähler dazu, den Sexualakt vor der Überwachungskamera einer Villenpforte im nächtlichen Rom auszuführen, eine Handlung, die den Ich-Erzähler zu folgender Reflexion veranlasst:

Det var ingenting naturlig i kjærlighetslivet vårt. Hun hadde alle disse ideene, alle disse påfunnene som skulle krysse en grense, som ikke skulle være normale; hun klarte ikke, kunne ikke være normal; jeg tror hun ønsket å være normal, jeg tror hun ønsket å være naturlig, i samsvar med menneskene og verden rundt seg, men hun klarte det ikke […] (Imot naturen, 64).

(Unser Liebesleben hatte nichts Natürliches an sich. Sie hatte all diese Ideen, diese Vorschläge, die eine Grenze überschreiten, über das Normale hinausführen sollten; es gelang ihr nicht, normal zu sein, sie konnte es nicht; ich glaube, sie wollte aber normal sein, ich glaube, sie wollte natürlich sein, im Einklang mit den Menschen und der Welt um sich herum, aber sie schaffte es nicht […] (Wider die Natur, 65, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Der Begriff ‚Natürlichkeit’, den der Text entwickelt, entspricht dem der Authentizität. Er ist in seiner Definitionen immer an Exempel aus dem Beziehungsleben gebunden. Dies zeigt sich in der Reaktion des Ich-Erzählers auf Agnetes aus rein ökonomischen Gründen forcierte Heirat, ihren zweimal – trotz medizinischer Risiken – durchgesetzten Wunsch nach Hausgeburten und schließlich in ihrem Wunsch, zu Hause im eigenen Bett sterben zu dürfen.

Jeg var ikke glad for å måtte gifte meg, men jeg var glad for at vi skulle komme oss bort fra småbruket i skogen, huset i dumpen, det harde, naturlige og falske livet på landet.

Var ikke livet vårt ekte? Bodde vi ikke i naturen, omgitt av skog og dyr? Hadde vi ikke født et barn i huset hvor vi bodde? Jo, men vi elsket hverandre ikke. Vi levde sammen, hadde et barn sammen, samarbeidet så vidt det var, men kjærligheten mellom oss var borte. Kanskje hadde den aldri vært der (Imot naturen, 77).

Det året da den minste datteren fylte tre år i mai, døde Agnete i september. Hun døde i huset. Hun ville dø hjemme. Hun hadde født begge døtrene hjemme, nå ville hun dø på den samme måten, i sin egen seng.

Det var naturlig (Imot naturen, 107).

(Ich war nicht erfreut über die Heiratspläne, aber ich sehnte mich danach, aus dem Kleinbauernhaus im Wald herauszukommen, aus dem Haus in der Senke, aus dem harten, natürlichen und falschen Leben auf dem Lande.

War unser Leben nicht echt? Lebten wir denn nicht in der Natur, umgeben von Wald und Tieren? Hatten wir nicht ein Kind in dem Haus, wo wir lebten, zur Welt gebracht? Schon, aber wir liebten einander nicht. Wir lebten zusammen, hatten ein Kind miteinander, kooperierten ganz gut, aber die Liebe zwischen uns war weg. Vielleicht hatte es sie nie gegeben (Wider die Natur, 79–80, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).

Die Jüngere [i.e. der beiden Töchter, J.E.] wurde in einem Mai drei, im September desselben Jahres starb Agnete. Sie starb zu Hause. Sie wollte zu Hause sterben. Sie hatte beide Kinder zuhause zur Welt gebracht, jetzt wollte sie auf dieselbe Weise sterben, in ihrem eigenen Bett (Wider die Natur, 113, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Genauso widernatürlich wie die rational definierte Natürlichkeit Agnetes erscheint die spontane, nicht-rationale Nachgiebigkeit des Ich-Erzählers gegenüber dem situativen, emotionalen, erotisch-sexuellen Impuls, der von Janne ausgeht. Allerdings ist es hier nicht ein intrinsischer Erkenntnisakt des Ich-Erzählers, sondern die Perspektive des sozialen Umfeldes, das Janne mit Tomas’ Tochter Amalie verwechselt, und so die Unnatürlichkeit der Beziehung eines älteren Mannes zu einer sehr jungen Frau aufdeckt.

Da vi skulle gå, strakte han [i.e. ein Bekannter namens Martin Larsson, J.E.] frem hånden: Det var trivelig å hilse på deg og din datter, sa han.

Det skjedde hele tiden. Vi gikk ut sammen, noen kom bort og ville hilse på min datter.

Det var skammelig.

Vi skammet oss.

Hvor kom skamfølelsen fra?

Var lykken skammelig; vår lykke var skammelig, den var ikke naturlig, den var imot naturen.

Vi sluttet å gå ut, vi isolerte oss inne. (Imot naturen, 120)

(Als wir uns voneinander verabschiedeten, reichte er [i.e. ein Bekannter namens Martin Larsson, J.E.] mir die Hand: Es war nett, dich und deine Tochter zu treffen.

Das passierte unablässig. Wir gingen zusammen aus, jemand kam und wollte meine Tochter kennenlernen.

Es war beschämend.

Wir schämten uns.

Woher kam das Schamgefühl?

War das Glück beschämend? Unser Glück war beschämend, es war nicht natürlich, es war wider die Natur.

Wir hörten auf auszugehen, wir verkrochen uns zuhause (Wider die Natur, 127–128, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).

Dies lässt den verunsicherten Ich-Erzähler schließlich in einer ausweglosen epistemologischen Leere zurück. Ihm bleibt nur, sich auf seine Introvertiertheit zurückzuziehen und sich das Unvermögen einzugestehen, jegliche Umwelt, sei es die Zivilisation oder seien es unbesiedelte Gebiete mit ihrer Flora und Fauna – d.h. die populäre und alltagssprachliche Bedeutung von ‚Natur’ –, erfolgreich relational bewältigen zu können.

Jeg har alltid vært mest lykkelig innendørs, sjelden ute, bortsett fra i enkelte lynaktige glimt som lyste opp noe ufattelig og nytt, noe jeg aldri hadde sett før, noe i naturen.

Jeg har aldri hatt et forhold til naturen (Imot naturen, 109).

(Ich war immer drinnen am glücklichsten, selten draußen, abgesehen von einzelnen, aufblitzenden Funken, die etwas Unfassbares und Neues aufleuchten ließen, etwas, das ich nie gesehen hatte, etwas in der Natur.

Zur Natur hatte ich nie ein Verhältnis (Wider die Natur, 115–116, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).

Der eingangs angestellte Vergleich mit Knausgård empfiehlt sich nicht nur wegen der ähnlichen Thematik – dem öffentlichen Aussetzen intimer Privatheit durch ihre Verwertung als literarisches Material –, sondern auch wegen der realen Freundschaft zwischen den beiden Autoren und schließlich wegen der Knausgård-Rezeption, die in Wider die Natur in den Plot integriert wird:

Vi [i.e. Janne und der Ich-Erzähler Tomas, J.E.] lå ved siden av hverandre i sengen og leste. Vi leste hver våre eksemplarer av Knausgård-bøkene, begynte samtidig og leste parallelt, plutselig la hun ned boken og så på meg; leste du det? spurte hun. Hvordan våger han, det er jo helt utrolig, han er ikke riktig klok, sa hun.

Så leste vi videre.

Helt til jeg la boken min ned og så på henne; leste du det? spurte jeg. Hvordan våger han, det er jo helt utrolig, han ødelegger seg selv, sa jeg. (Imot naturen, 115–116).

(Wir [i.e. Janne und der Ich-Erzähler Tomas, J.E.] lagen nebeneinander im Bett und lasen. Wir lasen jeder in seinem Exemplar der Bücher von Knausgaard, begannen gleichzeitig und lasen parallel, auf einmal legte sie das Buch hin und sah mich an; hast du das schon gelesen?, fragte sie. Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, ist er wahnsinnig, sagte sie.

Dann lasen wir weiter.

Bis ich mein Buch hinlegte und sie ansah; hast du das schon gelesen?, fragte ich. Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, er zerstört sich selbst (Wider die Natur, 123, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).

 Tomas Espedal steht trotz seines autofiktionalen Erstaunens in eben zitierter Passage nicht hinter seinem Freund Knausgård zurück. Ist der Stil auch ein anderer – weniger abschweifend und weniger um essayistische Themen als vielmehr um das Erzähler-Ich selbst, seine Position als schreibendes, liebendes Ich im eigenen Leben und in der Welt sowie um seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu kreisend –, so ist Espedal doch nicht weniger mutig als Knausgård. Auch er wagt Ehrlichkeit und Intimität, einen Einbezug der lesenden Öffentlichkeit in seine Erlebnisse und Erwägungen.

Espedals Wider die Natur fügt sich ebenso wie das 2013 erschienene Bergeners (Bergenser – der norwegische Titel ist in Anlehnung an Dubliners von James Joyce gebildet) und auch das vorausgehende Imot kunsten in eine Reihe ein, in der sich Espedal mit der Materialität und der lyrischen Gestaltung von Sprache im Roman beschäftigte. Im Gespräch mit Cathrine Strøm anlässlich seiner Einladung auf das Poesie-Festival Audiatur äußerte der Autor am 14.02.2014: „Imot kunsten inngår også i en større syklus. Det er viktig, for når jeg skriver vet jeg at boken ikke er ment å være uttømmelig. Imot naturen fortsetter der den slipper, og så kommer Bergeners. Det skal være mulig å lese bøkene i en større sammenheng“ („Wider die Kunst geht auch in einen größeren Zyklus ein. Das ist wichtig, denn wenn ich schreibe, weiß ich, dass das Buch nicht unerschöpflich sein kann. Wider die Natur setzt an der Stelle an, wo jenes aufhört, und dann kommt Bergeners. Es soll möglich sein, die Bücher in einem größeren Zusammenhang zu lesen“ (Tomas Espedal/Cathrine Strøm (2014): Jag skriver i dina ord. En samtale. Oslo, 7).

So stimmt Wider die Natur als stiller, gefühlvoller, zeitloser Verismo, als aufrichtig und konstant (weiter) sprechender Bordun in das Fortissimo der realistischen, autobiographischen, autonarrativen und autofiktionalen Tendenzen der skandinavischen Gegenwartsliteratur ein. Seine unterbrochene und dennoch schlichte Narration mit lyrisch-poetischen Einschüben macht den Roman zu einem sehr lesenswerten Stück Literatur.

Espedal brach übrigens am 6. April 2014 nach Avignon auf, um anschließend auf den Spuren Petrarcas (und Lauras) zu reisen und ein Jahr lang jeden Tag ein Gedicht – diesmal offensichtlich ausschließlich als solche definierte Lyrik – in Form eines „liten kjærlighetsbok“ („kleinen Liebesbuchs“) zu schreiben (Tomas Espedal/Cathrine Strøm (2014): Jag skriver i dina ord. En samtale. Oslo, 24–25). Es bleibt mit Spannung zu erwarten, wie sich Espedals laufendes lyrisches Sprachprojekt ausnehmen wird.

Tomas Espedal: Wider die Natur (Die Notizbücher). Berlin 2014.
Original: Imot naturen (notatbøkene). Oslo 2011.
(Juliane Egerer, Erlangen-Nürnberg 2014)

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