Katastrophenliteratur als Trauerkritik. Brit Bildøens Roman über das Nachleben des Terrors im Trauern (2014)

sju_dagarAls Brit Bildøen 2014 ihren Roman Sju dagar i august (Sieben Tage im August) herausbrachte, konnte sie sich der Aufmerksamkeit des norwegischen Lesepublikums sicher sein: Erzählt wird, wie ein schon etwas älteres Paar (Sofie: 50 Jahre, Otto: 60 Jahre) sieben Tage im August 2019 erlebt. Die Kapitel tragen die Namen der erzählten Wochentage, von Donnerstag bis Mittwoch. Erzählenswert werden diese Tage nicht durch irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse; wir erfahren von den kollegialen Rivalitäten im Munch-Museum in Osloer Stadtteil Bjørvika, das Sofie leitet (und das voraussichtlich 2018 fertiggestellt wird); von den finanziellen Schwierigkeiten, die Ottos Sohn aus erster Ehe in Australien hat; von Reparaturen der Unwetterschäden an Ottos und Sofies Wochenendhaus; von einer missglückten Party, die einer der Gäste, ein egomanischer Psychologe, als Plattform nutzt, um mit seiner Frau Schluss zu machen; oder von Ottos Sturz im Treppenhaus, der ihn einige Tage ans Bett fesseln wird. Interessant werden diese pointenlosen Szenen erst dadurch, dass Bildøen an ihnen ausbuchstabiert, wie sich Sofie aus den sozialen Beziehungen zu Freunden und Kollegen, aus ihrer Ehe und ihrer Familie und sogar aus ihrem eigenen Leben zurückgezogen hat. Grund für die schier unüberwindbare innere Distanz zu ihrer Umwelt ist Sofies anhaltende Trauer um Marie, ihre Tochter aus erster Ehe, die bei dem Massaker auf Utøya am 22. Juli 2011 erschossen wurde. Der Roman deutet die fürchterlichen Ereignisse der Vergangenheit nur an – doch mehr braucht es in einem norwegischen Kontext nicht. Das Land ist so klein, dass fast jeder jemanden kennt, der direkt von der Explosion in Oslos Regierungsviertel oder Breiviks Amoklauf auf Utøya betroffen ist. Entsprechend gibt es auch kaum ein Feuilleton in den Print- und elektronischen Medien, das den Roman nicht rezensiert hätte. Man lobt Bildøens Darstellung der Trauer, das Verständnis, das sie für die Angehörigen der Opfer hat, aber auch für die Menschen, die mit diesen Trauernden auskommen müssen.

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So wird das Buch zu einer Untersuchung der Trauer nicht als ein individuelles, sondern als ein kollektives Problem: In einer fast analytischen Sprache, die völlig ohne Sentimentalität auskommt, beschreibt Bildøen, wie Sofie davon ausgeht, sie habe das Recht, die Schockstarre, die 2011 auf die Nachricht vom Mord an Marie einsetzte, bis in das Jahr 2019 hinein zu bewahren und die Trauer einzufrieren. Nicht an Trauerarbeit ist sie interessiert, sondern an einer Monopolisierung der Trauer. Entsprechend beschreibt sie die kollektiven Anstrengungen in den Monaten nach dem Attentat mit Verachtung: „Krisepsykolog, sorggrupper, møte med andre etterlatne … Eg prøvde ei stund, men fekk ikkje til å ta imot hjelp. Eg blei kvalm av den kollektive sørginga, og at det fanst så sterke oppfatningar om korleis eg burde takle det. Det handla jo ganske enkelt om å gjennomleve sorga“ (S. 177 – „Krisenpsychologe, Trauergruppen, Treffen mit anderen Hinterbliebenen … Eine Weile versuchte ich es damit, aber bekam es nicht hin, Hilfe anzunehmen. Mir wurde schlecht von dem kollektiven Trauern, und dass es so klar war, wie ich das meistern sollte. Es ginge doch ganz einfach darum, die Trauer zu durchleben“).

Doch genau das will Sofie nicht: die Trauer durchleben; vielmehr leitet sie ihre Überlegenheit über andere Betroffene daraus ab, dass sie die Trauer konserviert. Äußerlich markiert sie diesen Anspruch dadurch, dass sie die acht Jahre seit dem Mord nur schwarze Kleidung getragen hat. Auch lässt sie Fotografien der toten Tochter als Medien der Trauerarbeit nicht zu – und zwar auch nicht für andere. Ihre Mutter etwa vergrößert ein Bild der Enkelin, das ästhetisch wohl nicht gelungen ist – eine Tatsache über die Sofie nur spotten kann. Doch Otto weist sie darauf hin, dass die Mutter buchstäblich keine Wahl hatte, denn Sofie verweigert die Herausgabe anderer Fotografien. Als sie dann für ihren an das Bett gefesselten Mann einige Unterlagen aus dessen Büro in der Osloer Innenstadt holen muss, sieht sie, dass er ein Bild von Marie auf dem Schreibtisch hat. Sie stellt es nicht zurück, sondern legt es auf die Tischplatte; „Otto skulle skjøne at ho hadde sett det“ (S. 164 – „Otto sollte verstehen, dass sie es gesehen hatte“). Der implizite Vorwurf, den diese Geste impliziert, ist nur schwer zu überhören.

Die Fotografie, die Augenblicksaufnahme, wird im Roman zum Medium, an dem zeitlicher Abstand erfahrbar wird. Doch genau den Abstand zum Unglück der Vergangenheit will Sofie minimieren und maximiert dadurch den Abstand zu ihrer Gegenwart. Eine Freundin und Kollegin drückt es so aus, als sie mit ihr über die Stimmung am Arbeitsplatz im Munch-Museum spricht: „[S]aka er at folk er litt … redde for deg, for du har jo ein aura av, kva skal eg seie, opphøgd sorg over deg. […] Det gjer deg uangripeleg, skjønar du det?“ (S. 178 – „Die Sache ist die, dass die Leute etwas … Angst vor dir haben, denn du hast ja eine Aura, wie soll ich es sagen, von erhabener Trauer um dich. […] Das macht dich unangreifbar, verstehst Du?“)

Der Rückzug in den inneren Raum der stillgestellten Trauer geht so weit, dass Sofie sogar den eigenen Körper als aufdringliche Außenwelt empfindet: Bereits am ersten der sieben Augusttage reibt sie an einer geröteten Stelle ihres Armes. Offensichtlich ist es ein Zeckenbiss, der ärztlich untersucht werden muss. Immer wieder wird sie von Otto aufgefordert, den Arzt aufzusuchen, jeden Tag ist die geschwollene Stelle größer geworden. Doch sie weigert sich, die Wirklichkeit des Körpers als relevant wahrzunehmen. Sofie praktiziert eine Tyrannei der Trauer, die für sich rücksichtslos in Anspruch nimmt, dass alle anderen ihre Bedürfnisse zurückstellen müssen – und zu diesen anderen gehört eben sogar der eigene Körper.

Bildøens Roman sieht der Versuchung der Trauer gnadenlos ins Auge. Denn durch den Trick, die Handlung nur fünf Jahre in die Zukunft der Lesenden zu projizieren, leistet sie nicht nur Trauerarbeit, sondern übt eben auch Trauerkritik.

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Trauer kann eine sinnstiftende Funktion bekommen, die jedoch eher zerstörerischen Charakter hat. Liest man Sju dagar i august als Buch über eine nationale Katastrophe bekommt diese psychologische Klarsicht eine politische Aktualität. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man Sju dagar i august als disaster fiction liest. Neben der nationalen Katastrophe des 22. Juli und der privaten Katastrophe eines havarierenden Lebens finden zwei weiter Katastrophentypen Erwähnung. Zum einen eine humanitäre Katastrophe, den die Roma in Oslo erleiden, um die sich Otto als Mitarbeiter einer NGO beruflich kümmert. Bildøen hat diesen Handlungsstrang sicher als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Diskussionen im Jahr 2012 in das Buch aufgenommen, als ca. 2000 Roma aus Rumänien nach Norwegen flohen und dort von den Osloer Behörden in einem stillgelegten Steinbruch untergebracht wurden. Bildøen deutet die Zusammenhänge (wie auch im Fall des Breivik Massakers) nur an. So erfährt man, dass es nach wie vor Schwierigkeiten mit der Ansiedelung gibt. Das Schicksal dieser ethnischen Gemeinschaft und die Art und Weise, wie über sie in der norwegischen Öffentlichkeit befunden wird, spiegelt Bildøyen an der Selbstbezogenheit Sofies (und damit einer Nation, die selbst gerade eine Katastrophe zu betrauern hat). Eine der Momente, die an Sofies Weltdistanz rüttelt, ist ihre Begegnung mit einer jungen Romamutter, die ein Kleinkind in den Armen hält.

Wesentlich präsenter sind im Roman jedoch die Vorboten einer drohenden Klimakatastrophe. Das Oslo im Jahr 2019 wird von schweren Unwettern heimgesucht; orkanartige Winde und sintflutartige Regengüssen sind zum Alltag geworden. Bildøen thematisiert an diesem Beispiel wie schwer sich die Gegenwart damit tut, sich selbst als Endzeit zu begreifen. Ausgerechnet der unsympathische Psychologe analysiert den anthropologischen Schutzmechanismus im Plauderton auf einer Party:

„Dødsangsten får oss til avvise faren, fortrenge det opplagde, justere oppfatninga vår om kva som er naturleg og kva som er rett. [… V]i reagerer med å endre oppfatninga om situasjonen i staden for å endre åtferd. Vi overtyder oss sjølve og andre om at det er ikkje så farleg. […] Snart kjem vi også til å akseptere at det vil gå menneskeliv kvar gong det er uvêr.“ (S. 83 – „Die Todesangst bringt uns dazu, die Gefahr wegzuschieben, das Offensichtliche zu verdrängen, unsere Ansicht darüber zu justieren, was natürlich und was recht ist. […] Wir reagieren damit, unsere Auffassung von der Situation zu verändern, anstatt unser Verhalten zu ändern. Wir überzeugen uns selbst und andere, dass sie nicht so gefährlich ist. […] Bald werden wir auch akzeptieren, dass jedes Mal, wenn Unwetter herrscht, Menschenleben draufgehen.“)

Als Lesende/r steht man unweigerlich vor der Frage, ob diese Einsicht, die im Kontext der Klimaveränderungen formuliert wird, auf die individuelle Katastrophe Sophies übertragbar ist. Das Außergewöhnliche, das die Klimakatastrophe in der Geschichte der Katastrophenwahrnehmung auszeichnet, ist – wie die Wiener Germanistin Eva Horn unlängst in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe (Fischer 2014) herausgearbeitet hat – die Tatsache, dass es sich um eine Katastrophe handelt, die nicht mehr als Ereignis vorgestellt werden kann. In diesem Punkt unterscheidet sie sich fundmental von der nationalen Katastrophe auf Utøya. Der Tod von 77 Menschen am 22. Juli 2011 in Oslo war ein zeitlich und lokal klar definiertes Ereignis mit eindeutigen Akteuren, das potentiell auch verhindert hätte werden können. Doch die Klimakatastrophe passiert nicht plötzlich; sie ist bereits da, auch wenn sich ihre desaströsen Folgen erst langsam entfalten werden. Sichtbar werden sie erst im Moment des Umschlages: „Tipping points werden […] nicht durch Entscheidungen hervorgerufen, sondern sind Phänomene der spontanen Emergenz: Aus einer kaum bemerkbaren Tendenz, aus winzigen Schritten entwickelt sich eine einschneidende Änderung der Verhältnisse“ (Horn, S. 18).

Mit dem oben zitierte Statement des Psychologen zu den Verdrängungsmechanismen unterstellt Bildøen ihrer Gegenwart, dass sie es bisher versäumt habe, das Katastrophische als Zustand zu begreifen. Und auch wenn sich die Denkfigur des durch eine schleichende Akkumulation hervorgerufenen Umschlagmoments nicht auf die nationale Katastrophe von Utøya übertragen lässt, kann man doch eine Analogie zur Trauerthematik herstellen. Letztlich beschreiben die titelgebenden sieben Tage im August den Tipping point in Sophies individueller Katastrophe. Nach acht Jahren der konsequenten Abschottung ist der Moment gekommen, in der ein soziales Miteinander nicht mehr möglich ist – und zwar nicht, weil irgendetwas Einschneidendes passiert, sondern nur weil der Tipping point erreicht ist. Das Gespräch zwischen Otto und Sophie auf den letzten Seiten des Romans lässt jedoch auf einen versöhnlichen Ausgang hoffen; der psychologische Tipping point könnte auch einen Umschlag in Richtung Öffnung des Ichs mit sich bringen. Doch gleichzeitig tobt auf den Straßen Oslos ein weiteres Unwetter mit Sturm und Regen; und der nächste Tag, der nicht mehr erzählt wird, wäre ein torsdag, ein Donnerstag. Dies lässt für die gesellschaftlich-politische Dimension des Romans nichts Gutes erwarten.

Brit Bildøen: Sju dagar i august. Oslo: Samlaget 2014.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, März 2015)

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„Ein verknoteter, dichter und haariger Zentralpunkt“. Sigrid Combüchen: Den Umbärliga (2014)

combuechenSchauen Sie sich bitte dieses Foto genau an: Ida Bäckmann in Napoleon-Pose, mit einer hutähnlich modellierten Langhaarfrisur und einem intensiven Blick, dem Combüchen nachsagt, dass er die allgemeinen Vorfahrtsregeln nicht beachte. Das Foto (1908 während einer Ausstellung in der Kunstakademie aufgenommen) stiftet Verwirrung durch die unter den Träger des Kleides geschobene Hand, die zudem mit einer bildlich dargestellten Hand auf einem Wandbehang korrespondiert – doch dort hebt die Figur ihre Hand, um das Gesicht vor grellem Licht zu schützen; die Exponiertheit wird, anders als bei Bäckmanns Haltung, gestisch relativiert.

Combüchen, deren Ich-Erzählerin sich kaum Mühe macht, einen Abstand zur realen Autorin zu schaffen, widmet sich einer kontroversen Gestalt der schwedischen Literaturgeschichte, die als Stalkerin oder parasitäre Biographin galt, welche die Nähe Gustaf Frödings und Selma Lagerlöfs suchte, um dem eigenen Leben mehr Bedeutung zu verleihen. Einen chronologischen Überblick über Bäckmanns CV liefert das Buch erst am Schluss, mit der Anmerkung, dass viele weiße Flecke auf dieser biographischen Karte noch immer nicht erschlossen seien. Doch besteht Combüchens erkenntnisfördernde Neuerung darin, Bäckmann überhaupt zur Protagonistin werden zu lassen. Im resümierenden Lebenslauf wird bewusst auf den „kittenden Zement“ zwischen den „Mosaiksteinen“ verzichtet, der zuvor als Metapher für die spekulativen Ergänzungen und Deutungen in der biographischen Literaturgeschichts-schreibung eingeführt worden ist. Zement in die Lücken zu gießen, schließt nämlich aus, den Prozess der Bedeutungskonstituierung jemals wieder nachvollziehen zu können. Die kittende Masse versinnbildlicht Fixieren und Vergessen.

Das Gegenbild zum Zement ist der verknotete Zentralpunkt als haariges Knäuel, unübersichtlich und ausfasernd (vgl. S. 130f.), gerade eben nicht im Zustand eines planvoll erstellten Gewebes. Daher herrscht kein Zweifel daran, dass diese investigative und materialbewusste Biographie einer persona non grata metareflexive Züge anstrebt. Durch das Verfahren des Positionswechsels werden unterschiedliche Versionen der von Bäckmann erprobten Identitätsangebote auf spannungsreiche Weise ineinander verflochten und gegeneinander ausgespielt. Wie kam das Deutungsvorrecht bei der Beurteilung von Bäckmanns Leben als verfehlt oder misslungen genau zustande? Welche Interessen verfolgten die beteiligten Akteure in ihrem Spiel?

Die Antwort darauf ist erstaunlich kompliziert, wie die Auswertung unterschiedlicher Biographien und Briefsammlungen von u.a. Gustaf und Cecilia Fröding, Selma Lagerlöf sowie von historischen Zeugnissen der Forschung beweist. Aufeinanderprallende Widersprüche, irritierende Einwürfe, Widerruf und Revision im Nachhinein – die Deutungen weisen in viele Richtungen zugleich, was von Combüchen zu einem Stilprinzip erhoben wird.

Besonderes Gewicht erhalten die erstmals in der Zusammenschau erschlossenen literarischen Arbeiten Bäckmanns, ihre Korrespondenz und Reisereportagen. Mitten im Material findet sich ein begriffliches literarisch-biographisches Energiefeld, das Bäckmann selbst benennt: „romanupplevelselängtan“ (S. 247, „die Sehnsucht nach Romanerlebnissen“, 1908) stellt sich als ein Begehren dar, das jenseits der sog. Sinnerfüllung und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verorten ist. Während die Aufmerksamkeit von anderen bereitgestellt wird, kann man selbst Maßnahmen ergreifen, um die Romanhaftigkeit des eigenen Daseins zu steigern! Hiermit weist Bäckmann eigentlich auf das modernistische Modell der Lebensführung im Dienste der Kunst voraus, ist sie doch eine literarische Außenseiterin par excellence.

Bäckmann war in eine wechselvolle Dreiecksbeziehung mit Gustaf Fröding und dessen Schwester Cecilia eingebunden; den psychisch kranken Dichter hatte sie 1896 besucht und ihm Schutz, Geleit und Verlobung angeboten. Alternierend befasste sich die unerschrockene Autorin leidenschaftslos mit Schulunterricht und immer wieder mit Auslandsreisen (nach Südafrika, Holland, Russland, Südamerika). Ihre Reisereportagen wurden 1906-10 veröffentlicht, im Jahre 2013 von Per Erik Tell neu gewürdigt. Als Beispiele für ihre prägnanten literarischen Arbeiten ist der melodramatische Roman Tantali kval (Tantalusqualen 1898) zu nennen, der G. Frödings tragisches Dichterschicksal antizipiert und damit bereits einige Probehandlungen durchspielt.

Der epochentypische Hysterieverdacht lässt sich durch die unterschiedlichen Schilderungen der Betreuung nicht bestätigen, die Bäckmann G. Fröding bei ihren beharrlichen Krankenbesuchen 1903-06 angedeihen ließ. (Der Patient schien über den regelmäßigen Besuch eher erfreut als verstimmt zu sein.) Eine der Versionen, dass Bäckmann die erotischen Obsessionen Frödings verstärkte, stammte von Cecilia Fröding, die doch selbst lange Zeit mit Bäckmann befreundet gewesen war. Das von C. Fröding veranlasste Besuchsverbot, das eine wichtige Lebensepisode Bäckmanns abrupt enden ließ, wurde von dem Arzt befürwortet, der den vorher zuständigen Herman Lundborg abgelöst hatte. Lundborg, zu dieser Zeit wohlgemerkt noch nicht als Rassenbiologe tätig, hatte eine Verbesserung von Frödings Zustand festgestellt. Auch unterstützte er Bäckmann, als sie öffentlich angeprangert wurde. Ist Lundborg ein unzuverlässiger Bürge für ihre Einsätze, weil er später dem rassenbiologischen Zentrum vorstand? Zu der heterogenen Gruppe, die Bäckmann die Treue hielten, gehörten die provokative Kritikerin Klara Johanson, der Maler Carl Larsson, mit dem sie mitunter Pathos und Lautstärke zu teilen scheint, aber eben auch Selma Lagerlöf, die sich überaus ambivalent verhielt und zwischen Loyalität und herber Verachtung schwankte.

Lagerlöf gab Bäckmann den Rat, die Erlebnisse mit Fröding zu einem Buch zu verarbeiten, ein Ratschlag, den die Nobelpreisträgerin nach dem vehementen Misserfolg von Gustaf Fröding skildrad af Ida Bäckmann (Gustaf Fröding, geschildert von Ida Bäckmann 1913) bitter bereute. Schon im Vorfeld distanzierte sich Lagerlöf von diesem Vorhaben. Das von ihr zugesagte Vorwort wurde nicht verfasst, auch ein von Bäckmann gefordertes kompensierendes Werk Lagerlöfs nahm 1930 nur Artikelformat an. Nichtsdestotrotz kürt sich Bäckmann erneut zu einer wichtigen Nebenfigur, nunmehr im Leben Lagerlöfs: Mitt liv med Selma Lagerlöf (Mein Leben mit Selma Lagerlöf, 2 Bde. 1944). Bemerkenswert scheint, dass Lagerlöf trotz der Schwankungen die Freundschaft auch weiter pflegte, sogar als sich die Möglichkeit einer recht schmerzlosen ‚Trennung‘ ergab. Bäckmanns Frödingbuch wurde 1940 mit dem tönenden Titel Gralsökaren (Der Gralssucher) neu aufgelegt. Bäckmann hatte sich mit einer Freundin nach Himmer (bei Örebro, Närke) zurückgezogen und schrieb u.a. die von Klara Johanson gelobte Landlebenschilderung På och i vägen med Fordhoppa (1925, übersetzt in etwa: Unterwegs mit dem Ford-Gaul). Von ihren großen Projekten der Koproduktion scheint sie sich vor allem als Jugendbuchschriftstellerin (die Trilogie Röpecka/Rotschopf wird 1937 fertiggestellt), Reisereporterin und Hühnerfarmerin ansatzweise lösen zu können, wenn es schließlich sogar heißt: „Selma var umbärlig.“ (S. 264, Selma war entbehrlich.) Obwohl sie anstrebte, wichtige Nebenfigur im Leben anderer zu sein, versuchte sie dennoch, auf deren Wirken Einfluss zu nehmen (vgl. S. 114). Nach ihren Reisen habe Bäckmann laut Combüchen stets daran weitergearbeitet, „att sömna och reparera på den allt knöligare, kompakta och håriga berättelsen om L och F.“(S. 130, die Erzählung über L und F weiter zu vernähen und zu reparieren, die immer verknoteter, dichter und haariger geworden war). Auf die Metapher des Nervenknotens (S. 171, „nervknuten“) kommt die Ich-Erzählerin zurück in der Beschreibung des abschließenden Konflikts auf der psychiatrischen Station, der zu Bäckmanns Bruch mit den Geschwistern Fröding führt. Für den in Erwägung gezogenen Roman über Bäckmann – mit just dieser als Protagonistin – ist dieses Ereignis der wichtigste Ausstrahlungspunkt.

Combüchen gelingt es auf faszinierende Weise, Gegenstimmen zu den Diffamierungen in ihren Quellen zu finden, die sowohl mit Selbstzeugnissen als auch mit literarischen Arbeiten Bäckmanns untermauert werden. Die Korrespondenzen mit Fröding und dessen Schwester sind bereits zu Lebzeiten von Bäckmann ausgewählt, arrangiert, gestutzt worden; die löcherigen Papierbögen sind ein groteskes Monument der fortlaufenden Arbeit am Selbst. Die materiellen Leerstellen lassen zum einen Vermutungen zu, was verschwinden sollte, um den Argumenten der Gegner zuvorzukommen oder um die Widersprüche zu – kleidsameren ­– Versionen zu beseitigen, die Bäckmann oder andere bereits in Umlauf gebracht hatten.

Bereits in Spill. En damroman (2010; Was übrig bleibt. Ein Damenroman, übs. von Paul Berf, 2012) wurde das Thema der Biographien derjenigen behandelt, die vergessen sind, weil sie die Erwartungen anderer nicht erfüllten, als gescheitert oder als Möchtegern-Gestalten marginalisiert blieben. Combüchens Vergleich eines Bäckmann-Textes mit einem „Marlittroman“ (S. 157) zeigt an, dass die Risiken einer gender-blinden Literaturgeschichtsschreibung mit Den umbärliga herausgestellt werden sollen (siehe etwa die Forschungen von Pil Dahlerup 1982 oder David Gedin 2004). Zugleich geht die Vorliebe für ‚Marlitt-Genres‘, also Damenromane, auf eine Unterstellung der verstimmten Cecilia Fröding zurück, Bäckmann hätte eine besondere Affinität zur sensationsheischenden Trivialliteratur. Hieraus geht hervor, dass den interagierenden Texten Akteursstatus zukommt, denn die Gattungen und Textsorten charakterisieren sich wechselseitig so wie die Figuren.

Der Topos von dem ersehnten Einfluss des Individuums auf die Nachwelt, eingefangen in dem Ausdruck, ‚etwas Bleibendes hinterlassen zu wollen‘, wird bis heute selten hinterfragt. Mitunter reicht schon eine Phase der Berühmtheit aus, in den sozialen Medien bekanntlich eine kürzere Zeitspanne, um zu einer öffentlichen Person zu avancieren, wobei einst und jetzt der Skandal die grundlegende Initialzündung liefert.

In Spill geht es um eine Lebensgeschichte, die viel verspricht, in der Rückschau aber wenig von den Versprechen eingelöst zu haben scheint. Die Titelmetapher lässt den Begriff der Vergeudung geradezu schillern – wer sagt einem Menschen nach, sein Leben nicht ausgeschöpft zu haben oder gar Zeit verschwendet zu haben? In welchem Verhältnis stehen Selbstzuschreibung und Projektionen von außen zueinander, auch wenn letztere den autobiographischen Textentwurf längst invadiert haben? Und vor welchem Hintergrund werden solche Urteile gefällt? Diese existentielle Frage wird also in beiden Romanen gestellt.

Combüchen hat eine komplexe Textkomposition geschaffen, die mit ungewöhnlichen Metaphern arbeitet (siehe die Titelformulierung der Rezension), die sowohl auf verschiedenen historischen Zeitstufen als auch zeitlichen Erzählebenen entfaltet werden. So wird etwa die I-Phone-App als mediale Metapher ausgetestet. Könnte man weiblichen Altruismus als Vorform einer App betrachten, „ett programtillägg för att frigöra, svalka, förnya mannen“, S. 48; ein Zusatzprogramm, mit dem der Mann [gemeint ist der exemplarische Fröding, AW], freigestellt, beruhigt und erquickt werden kann? Hebt dieser Metapherngebrauch nicht treffend eine automatisierte genderspezifische Erwartungshaltung und eine gedankenlose Unterstellung von Kompetenzbereichen der Geschlechter hervor? Frödings, trotz seiner Krankheit, niemals in Frage gestellte Position als schöpferischer Künstler und Bäckmanns vermeintlich selbstverständliche Stellung als ‚Dichter-Applikation‘ sind durch diesen Metapherntransfer ebenfalls erfasst.

Für die Entwirrungsarbeit der losen Fadenenden wird der Vergleich mit der Nanotechnik bemüht (vgl. S. 65), auch dieser wird nicht im Tonfall der Technikskepsis eingeführt, sondern mit einer Begrüßung der neu entstandenen metaphorischen Optionen. Niemals entsteht in Den umbärliga ein tragfähiges Gewebe, stattdessen findet ein – genüsslich prozessuales – ‚Tauziehen mit dünnem Faden‘ statt (vgl. S. 160), und die weißen Flecken verändern fortlaufend ihre Konturen. Die mitunter eingestreuten englischen Wendungen („believed“, „skalde-shrink“, „kiss & tell“) setzen ein sinnbildhaftes code-switching um, das mit dem Figuren- und Textsorten-spezifischen Registerwechsel korrespondiert. Dies sind sprachliche Spielarten des Positionswechsels, der schließlich auf das Zusammenspiel der Gattungen sowie das Wechselverhältnis von dargestellter/außertextlicher Welt bezogen wird. Nicht nur der vorherige Damenroman, sondern auch Combüchens Byron-Monographie (1988) kommt in unterschiedlichen Intensitätsgraden ins Spiel, nicht zuletzt weil Lagerlöf eine Ähnlichkeit zwischen Byron und Fröding festzustellen meint (vgl. S. 100).

Den umbärliga setzt eine ästhetisch nachvollziehende Literaturgeschichts-schreibung frei und problematisiert sowohl plausible als auch bizarre Versuche, Kontinuität in geschichtlichen Verläufen zu suggerieren. Die Anwendung ahistorischer, kollidierender Metaphern demonstriert, dass Vorstellungen von einer Horizontverschmelzung fragwürdig sind. Aus diesen Zweifeln ergibt sich in der Konsequenz, dass auch die Konzepte von einem sinnerfüllten Leben und von den Nachwirkungen eines Menschen ganz sicher keine anthropologischen Konstanten sind. Den umbärliga hat einen weiteren Appell, nämlich das vermeintlich Verschwendete nachdenklich und mit großer Milde zu betrachten.

Sigrid Combüchen: Den Umbärliga, Stockholm: Norstedts, 2014.
(Antje Wischmann, Wien, März 2015)

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Peter Høeg: Effekten af Susan

hoegPeter Høeg ist ein zwar international erfolgreicher, doch vom dänischen Feuilleton wenig geliebter Autor. Seine ersten beiden Bücher, vor allem der Erzählband Fortællinger om natten (1990), wurden zunächst enthusiastisch begrüßt, seine stilistische Brillanz, Imaginationsfähigkeit und erzählerische Kreativität galten als Indizien für eine große literarische Karriere; mit  Frøken Smillas fornemmelse for sne (1992) trug er dann (neben Jostein Gaarder) ganz entscheidend zum internationalen Durchbruch der skandinavischen Literatur auf den Buchmärkten der westlichen Welt bei. Mittlerweile sind Høegs Werke in 33 Sprachen übersetzt, doch die seit 1993 publizierten vier Romane brachten dem Autor kaum Lob in der heimischen Literaturkritik ein. Auch sein im Mai erschienener neuer Roman Effekten af Susan erhielt überwiegend kritische Rezensionen in der dänischen Presse. Die Berlingske Tidende schrieb, dieser Hybridroman, der Thriller, Apokalypse und Populärwissenschaft in durchaus ambitionierter Weise mische, sei zwar unterhaltsam, aber zu konstruiert, um als große Literatur zu gelten. Ekstrabladet hielt hingegen den Spannungsbogen für zu »træg« (träge), auch Information urteilte negativ. Von den großen Tageszeitungen druckte lediglich Politiken eine recht positive Besprechung und attestierte dem neuen Roman das Potential zu einem Comeback, das an den Erfolg von Fräulein Smilla anschließen könnte: »Peter Høeg er i topform med videnskabelig superwoman« (Peter Høeg ist mit wissenschaftlicher Superfrau in Topform).

Die Parallelen zu dem früheren Roman sind denn auch offensichtlich. Sie beginnen damit, dass Høeg wiederum eine starke Heldin entwirft, eine ungewöhnliche Frau, die nicht nur im Zentrum dieses Romans steht, sondern auch seine Erzählerin ist. Susan Svendsen ist Experimentalphysikerin, beschäftigt an der Universität Kopenhagen und mit Verbindungen in die höchsten Kreise von Wissenschaft und Gesellschaft. Abgesehen von ihrem Glauben an die Gesetze des Periodensystems, d.h. die Rationalität der Naturwissenschaften, besitzt sie eine Art spirituelle Eigenschaft, die dem Roman den Titel gibt: Sie kann bei ihrem Gegenüber, in bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraussetzungen, Ehrlichkeit hervorrufen. Dieser »Effekt« birgt letztendlich die Möglichkeit zu humanitärem Miteinander, die Nähe zum anderen Menschen ist es, die der Roman in seinem Schlusskapitel als ein ethisches Ziel formuliert: »Længst inde i en selv er de andre mennesker« (S. 330; Im eigenen Innersten sind die anderen Menschen).

Die Verbindung von Ratio und Intuition, von logischem Scharfsinn und Streben nach menschlicher Gemeinschaft verkörpern auch die Ehepartner Susan und Laban: der Ehemann der Hauptfigur ist Musiker und Komponist und steht damit für Kreativität und Gefühl, womit die gängigen Geschlechterzuschreibungen verkehrt werden:

­Han peger op på månen, den er tæt ved at være fuld, omkring den lysende skive er et opalfarvet regnbuefænomen, the circle of the moon.

– Susan, hvad ser du?

– Refraktion, den supernumeriske bue.

Han nikker tankefuldt. Vi har gjort det her før, det er en gammel leg mellem os, et spil der går tilbage til da vi lærte hinanden at kende. Laban udpeger et fysisk fænomen. Vi beskriver så for hinanden hvad vi ser.

Aldrig nogensinde så vi det samme.

-Jeg ser en følelse. Af skæbne. Af uafvendelighed. I de uafvendelighed er der samtidig harmoni. (S. 171)

Er zeigt auf den Mond, der beinahe voll ist und um die leuchtende Scheibe herum ein opalfarbenes Regenbogenphänomen aufweist, the circle of the moon.

– Susan was siehst du?

– Refraktion, den supernumerischen Bogen.

Er nickt gedankenvoll. Wir haben das schon öfter gemacht, es ist ein altes Spiel zwischen uns, ein Spiel, das auf die Zeit zurückgeht, als wir uns kennenlernten. Laban weist auf ein physisches Phänomen hin, und wir beschreiben füreinander, was wir sehen.

Wir haben niemals dasselbe gesehen.

-Ich sehe ein Gefühl. Von Schicksal. Von Unabwendbarkeit. Im Unabwendbaren liegt gleichzeitig Harmonie.

Über diese Fähigkeiten hinaus hat Susan körperliche Stärke, Kraft, Ausdauer, Sex-Appeal, Mut, hohe Intelligenz, eine schnelle Auffassungsgabe – sie ist in der Tat eine »superwoman«, die typisch weibliche mit einer Vielzahl von traditionell Männern zugeschriebenen Eigenschaften vereint. Wie Smilla vor ihr verkörpert sie insofern ein die Normen überschreitendes Frauenbild. Mit Geschlechterstereotypen und überkommenen Familienbildern räumt der Roman gewissermaßen im Vorübergehen auf:

Det danske samfund har en massiv mainstream. Hvis man følger den, får man medvind, man får fremdrift og et skub i ryggen af at gøre som alle andre. Det eneste, man skal, er at få sin uddannelse, inden man er 30, sikre sig en mand og nogle børn og en villa, fra man er 30 til 40, frasere alkoholforbruget, overleve midtvejskriserne, kridte skoene og være klar, når børnene flytter hjemmefra, til at tage den sidste lange spurt i det danske kapløb, der hedder ›den, der har mest, når hun dør, har vundet‹.

Die dänische Gesellschaft hat einen massiven Mainstream. Wenn man ihm folgt, hat man den Wind von hinten, man bekommt Antrieb und einen Schubs in den Rücken davon, dass man dasselbe tut wie alle anderen. Das einzige, was man tun muss, ist seine Ausbildung zu beenden, bevor man 30 ist, sich einen Mann, ein paar Kinder und eine Villa sichern, wenn man zwischen 30 und 40 ist, den Alkoholverbrauch schönreden, die Midlife-Krise überwinden, nicht nachgeben und bereit sein, wenn die Kinder ausziehen, den letzten langen Spurt im dänischen Wettlauf anzutreten, der da heißt, ›derjenige, der am meisten hat, wenn er/sie stirbt, hat gewonnen‹.

Vor allem aber, und das ist der zweite Punkt, in dem dieser Roman an den Erfolgs-Vorgänger anschließt, werden die ungewöhnlichen Eigenschaften der Hauptfigur benötigt, um ein Genre umzusetzen, das wohl am ehesten als Öko-Thriller bezeichnet werden kann. Der komplizierte Plot entzieht sich der Nacherzählung und sollte auch, da der Roman vor allem Thriller-Fans begeistern wird, nicht verraten werden. Doch es geht um nicht mehr und nicht weniger als die ultimative ökologische Katastrophe, die von einer in den 1970er Jahren installierten ›Zukunftskommission‹ ziemlich exakt prognostiziert wurde. Um die Mitglieder und vor allem um die von politisch Mächtigen geheim gehaltenen Protokolle dieser Kommission dreht sich die quest dieses Romans, die Susan und ihre Familie mehrfach in Lebensgefahr bringt und schließlich – so viel sei dann doch verraten – alle Hindernisse überwinden lässt. Die Welt wird durch ihre Aktionen allerdings nicht gerettet, aber der Autor mag gehofft haben, dass mit einer spannenden Romanhandlung und einem apokalyptischen Szenario mehr Menschen auf ökologische Missstände und skrupellose Machtpolitik aufmerksam werden als durch wissenschaftliche Berichte oder politische Warnungen.

Mit seiner hybriden Gattung, dem als action novel verpackten ernsten Anliegen, das ökologisches Bewusstsein mit einer Aufforderung zur Mitmenschlichkeit verbindet, liegt der Roman ebenso im Trend wie mit seinem Bezug auf Physik und Naturwissenschaften, die in etlichen aktuellen Romanen und Filmen eine Rolle spielen. Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Plot-Konstruktion und Figurenhandeln zu stellen, erübrigt sich wohl in diesem Genre – so offensichtlich ist die Konstruiertheit, die Menge der Zufälle und Übertreibungen, die übermenschliche Kraft der Heldin, die Gewaltbereitschaft und Bosheit der Gegner, dass überhaupt nichts in diesem Roman dem oben genannten mainstream entspricht. Ist es Ausdruck von kritischer Selbstreflexivität, wenn es im Roman selbst heißt, die Berichte der Zukunftskommission seien unterdrückt worden, weil ihr Katastrophenszenario so unwahrscheinlich erschien, dass es die Menschen für Unsinn (eigentlich: Geisterbeschwörung = »åndemaneri«, S. 270) gehalten hätten? Anders gefragt: Welche Wirkung haben Übertreibungen, wenn es darum geht, ernsthafte Warnungen auszusprechen, oder ist eine Fiktion keine Übertreibung, sondern besitzt die Kraft zur Veranschaulichung?

Fest steht, dass Peter Høegs Fabulierfreude und sein Erfindungsreichtum seiner bekannten Stilsicherheit in nichts nachstehen. Durch die spannungsgeladene Handlung, die mit Stemmeisen und Schraubenzieher kämpfende Heldin und nicht zuletzt schon durch seinen Titel (The Susan-effect) hat der Roman Chancen auf einen erneuten internationalen Erfolg oder eine Verfilmung. Um ihn als Literatur wirklich schätzen zu können, muss man aber action-plots mögen – und die mag bestimmt nicht jeder.

Peter Høeg: Effekten af Susan, København: Rosinante, 2014, 330 S.
(Annegret Heitmann, München, August 2014)

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