Krieg und Unterwelt entronnen – Lotta Lundbergs schwedisch-deutscher Roman Timme noll (2014)

timme_nollDer Trend, sich an ein skandinavisches und an ein deutschsprachiges Publikum zu wenden, ist für Film, Fernsehen oder Pop-Musik bereits recht ausgeprägt – und wird sich auch für die skandinavische Belletristik voraussichtlich immer stärker geltend machen. Lundbergs spannender Roman ist ein dankbares Beispiel. Vielleicht handelt es sich sogar um einen geplanten Bestseller? Oder ist bald eine Verfilmung zu erwarten?

Der erste Teilstrang von Lundbergs Roman, „Berlin 1945“ über die historische Stunde Null führt die Autorinnenfigur Hedwig Lohmann und ihre Tochter ein, die „flickan“ (Mädchen) genannt wird. Der zweite Teilstrang „Uppsala 1984“ ist einem Teenager in Uppsala namens Isa gewidmet, der dritte „Bildholmen 2005“ einer pensionierten Therapeutin, Ingrid, die im Begriff steht, sich von ihrem schwer kranken Ehemann zu trennen. Timme noll nutzt das Skandalmoment der historischen Biographien von Elisabeth Langgässer, einer deutschen Autorin und deren Tochter Cordelia Edvardson, einer Holocaust-Überlebenden und in Schweden sehr bekannten Zeitzeugin. In den beiden anderen, alternierend dargebotenen Teilsträngen widmet sich der Roman Fragen von Schuld und Verantwortung in weiteren Mutter-Tochter-Beziehungen, so als würde der historische Stoff bis in die Gegenwart hinein aufgefächert.

Interessant ist nun, wie sich das unterschiedlich anzusetzende kulturelle Wissen für die beiden Lesergruppen auswirken mag: Stellt man sich die Lektüre derjenigen vor, die bereits im Schulunterricht die literarischen und journalistischen Arbeiten der schwedischsprachigen Autorin Cordelia Edvardson (1929-2012) kennengelernt haben, dann gibt die explizite Widmung des Romans an diese Vorbildfigur ein deutliches Signal: Timme noll geht eine dokumentarische Verpflichtung ein.

Stellt man sich dagegen die Lektüre derjenigen vor, die mit der deutschsprachigen Literaturgeschichte gut vertraut sind, ist davon auszugehen, dass die Hauptfigur im Jahr 1945 als die Autorin Elisabeth Langgässer (1899-1950) identifiziert werden kann, nachdem ein zentraler Roman erwähnt worden ist: Proserpina (1932), ein Text, in dem Langgässer den Übergang ins Erwachsenenalter anhand des Proserpina-Mythos ausgestaltete und wiederum ihre eigene Kindheit verarbeitete. Das Trauma der Mutter-Tochter-Beziehung von Langgässer und Edvardson besteht darin, dass der Autorin nachgesagt wurde, sie habe billigend in Kauf genommen, dass ihre deutsch-jüdische Tochter mit unbekanntem Ziel verschickt wurde, um sich weiter ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin widmen zu können. Sowohl Timme noll als auch Bränt barn söker sig till elden 1984 von Edvardson (Gebranntes Kind sucht das Feuer, 1986) beschreiben, wie „flickan“ – alias Cordelia – begleitet von der Mutter, ein Dokument unterzeichnen muss, das sie den Rassegesetzen unterstellt, nachdem zuvor immer wieder Anstrengungen unternommen worden waren, das Mädchen in Sicherheit zu bringen. (Zu den Einzelheiten siehe Anna Callenholm: Erinnerte Erfahrung der Shoah in den Werken von Ruth Klüger und Cordelia Edvarson, Växjö 2013.) Edvardson wurde als Sechzehnjährige mit den legendären weißen Bussen nach Schweden gerettet. Sie war in den Jahren 1977 bis 2006 als Israel-Korrespondentin für Svenska Dagbladet im Einsatz, weshalb sie in Lundbergs Roman häufig als „rösten i radion“ (Radiostimme) tituliert wird.

Während es zwischen den beiden historischen Akteurinnen wohl nur ein kurzes Wiedersehen gegeben hat, breitet der Roman Timme noll eine Vielfalt von Konflikten und Symbiosen von Müttern und Töchtern auf, als ob sich diese in alle Zeit fortsetzten. Dabei wird auf die zirkuläre Figur einer genealogischen Vergewisserung großer Wert gelegt, die bereits im Proserpina-Mythos selbst angelegt ist: Tritt Proserpina (in der griechischen Mythologie Persephone) aus der Unterwelt hervor, verbringt sie den Sommer mit ihrer Mutter Ceres/ Demetria, wohingegen sie im Winter auf Unterwelt und Totenreich verwiesen ist, das von den destruktiven Mächten des Pluto/ Hades beherrscht wird.

Die Ereignisse der späteren Jahrzehnte in den beiden anderen Teilsträngen antworten ganz sprichwörtlich auf die historische Vorgeschichte. Isa ist in Uppsala durch destruktives Verhalten auffällig geworden und wird in die Psychiatrie aufgenommen, nachdem sie eine Puppe zerfetzt hat (vgl. Lundberg: Timme noll, S. 43-35 mit Langgässer: Proserpina, S. 104-110). Mit dieser brutalen Episode der Entdeckung dämonischer Kräfte im Selbst wird makaber auf den Kosenamen von Hedwigs Tochter „flickan“ angespielt: „Dockelina“ (in etwa Püppchen). Der Puppenmord ist Isas erste schuldhafte Handlung, die auf Langgässers Verrat an deren Tochter rückverweist und Isa zugleich in der Position einer generationsübergreifenden verallgemeinerten Tochter präsentiert – so als würde eine Nachgeborene unmittelbar an eine historische Handlung anknüpfen. So scheint Isa, die sich nach einer mütterlichen Vertrauten sehnt, vierzig Jahre später den suchenden Blick Lohmanns zu erwidern, wenn jene den Blick von „flickan“ zu fangen sucht (vgl. Timme noll, S. 72 und 29). In gewissem Sinne sind in Isa die Positionen von Lohmann und „flickan“ gleichzeitig vorhanden, der Mutter-Tochter-Konflikt kreuzt sich in der Psyche der Nachgeborenen.

Im Teilstrang zur Figur Isa wird das Augenmerk stärker auf das intra- und intertextuelle Verfahren von Timme noll gerichtet. Dies ist höchst komplex und angesichts der Fülle des Stoffs doch effizient. Während in den „Berlin 1945“-Kapiteln Passagen aus Lohmanns Manuskripten in Kursiv eingefügt sind und in deren erlebte Rede zitierte Ausdrücke von anderen Figuren, integriert Isas Teilstrang, für den als einzigen die Ich-Perspektive gewählt ist, psychoanalytisches Vokabular (einschließlich eines abgedroschenen Therapie-Jargons), Fremdwörter oder betont erwachsen klingende Ausdrücke, die ebenfalls kursiviert sind. Der Registerwechsel setzt kleine ironische Verfremdungseffekte. Isa arbeitet an einem abgewandelten Monopoly-Spiel, das ihren gesamten Therapieverlauf in ein aufwendiges Würfelspiel mit selbst angefertigten Spielfiguren, Ereigniskarten u.ä. transformiert. Dieses Spiel, natürlich ein Gleichnis für die freie Transformation der Biographien in ein eigengesetzliches Konglomerat, erhält die Therapeutin zum Abschied geschenkt. Als eine Art Debütwerk besiegelt es die sich fortsetzende Stabilität Isas.

Solche sprachlichen und erzählperspektivischen Distanznahmen treten im dritten Teilstrang um die Therapeutin Ingrid eher zurück: Die wenigen in alternativer Typographie dargebotenen Formulierungen sind Mail- und SMS-Zitate, erinnerte Phrasen oder Begriffsprägungen anderer Figuren.

Ingrid, die möglicherweise in den 1980er Jahren Isas Therapeutin war, lässt sich pensionieren, um ihren kranken Ehemann zu unterstützen, der in seiner letzten Lebensphase den Beruf als Pastor auf einer Schäreninsel ausüben will. Was hat sich die Mutter dreier Kinder nach ihren beruflichen Erfolgen zu Schulden kommen lassen? Ist sie nur ein altruistisches Opfer ihres Mannes, der nun auch noch ein Verhältnis zu einer Autorin beginnt? (Die Geliebte heißt Hanna Lund – mit einem Seitenblick auf die Autorin Lundberg selbst.) Ingrids Nullpunkterlebnis besteht in der Entscheidung, spät im Leben die Autonomie zu erproben. Wider Erwarten unterstützen sie ihre Kinder bei dem Vorhaben, gerade auch ihre Tochter, von der sie bislang nur Widerspruch gewohnt war.

Weder die vielfältigen Verflechtungen zwischen den Lebensläufen der Figuren, das Funken sprühende Netz der Anspielungen noch die gröberen Analogiebildungen sollen hier genauer aufgeschlüsselt werden. Ebenso wenig soll hier das Finale im Kloster verraten werden, bei dem sich die drei Frauengenerationen begegnen, sich zum letzten Mal eine Tochter in ihrer Mutter wiedererkennt und eine Mutter in ihrer Tochter. Für die Beschreibung der gefährlichen Fußwanderung, die Lohmann von Berlin nach Anastasiendorf unternimmt, werden Passagen aus Langgässers Roman Märkische Argonautenfahrt (1950) verwendet.

Da Timme noll in diesem Jahr Sveriges Radios Romanpris erhielt, liegt umfangreiches Rezeptionsmaterial vor. Dabei fällt auf, dass auf die kompositorische Nähe zu Michael Cunninghams The Hours (1998, erfolgreich verfilmt 2002) zwar hingewiesen, dann aber dieser Bezug – respektvoll – nicht weiter verfolgt wird. Auch Cunningham verwendete für seine Hommage an Virginia Woolf (1882-1941) und ihr Werk sowohl biographische Materialien als auch literarische Texte, vor allem Woolfs Roman Mrs. Dalloway (1925). Wie so viele Familiensagas bemüht The Hours das Drei-Generationen-Modell und liefert genau wie Timme noll ineinander verwobene Erzählstränge aus der Sicht dreier Protagonistinnen. Das wichtigste gemeinsame Merkmal besteht darin, dass sich die Textbezüge überhaupt erst durch intensive Lesermitarbeit verwirklichen. Indem die Lesenden das Puzzle vervollständigen, vollziehen sie selbständig das zyklische Muster einer intergenerationalen Kontinuitätsvergewisserung nach. Doch wird The Hours nicht von Lundberg zum Anlass für ein Remake oder ein Pastiche genommen, sondern dieser produktiv verarbeitete Text entfaltet sich als einer neben vielen anderen Texten.

Der Teenager Isa ist eine Figur, die Ironie in die schwergewichtigen Themen einspeist, eigentlich ein riskantes Unterfangen, das aber eine analytische Betrachtung der eingebrachten Intertexte anregt. Die zentralen Deutungsmodelle einer wahlweise religiös oder psychoanalytisch orientierten Welterklärung bilden zwar einerseits unhinterfragte große Erzählungen. Andererseits pointiert Timme noll auch den pathetischen Sog, der sich aus der intergenerationalen Tradierung der Mutter-Tochter-Symbiose ergibt. Mit dem ironischen Hinweis auf die Filmstudios in Babelsberg wird sogar antizipiert, wie wir als Lesende trotz des markierten Konstruktcharakters bereit sind, Emotionen zu investieren. Von ihrer Begleiterin auf dem Weg nach Anastasiendorf wird Lohmann gefragt, ob ihre Produktion stärker von „Gud eller Freud“ beherrscht sei, worauf die Autorinnenfigur lachend „Babelsberg“ antwortet (vgl. S. 249). Es mag gewagt erscheinen, vor dem gewählten historischen Hintergrund auf das melodramatische Potential und die mediale Verwertbarkeit anzuspielen.

Wie bei der Lektüre eines spannenden Kriminalromans gilt es auch bei Timme noll, ein Begehren zu stillen. Dies bezieht sich in gewisser Weise auch auf die Aufklärung eines Verbrechens (Langgässers schuldhafte Handlung), aber mehr noch auf die Lösung eines psychologischen Rätsels. Die ethische und politische Ebene der Kombinationsbiographie von Timme noll dürfte allerdings im deutschsprachigen Raum eher kontrovers betrachtet werden als dies von Seiten der schwedischen Leserschaft zu erwarten ist. In einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird trotz einer ausführlichen Würdigung des Romans der ethische Maßstab leise in Zweifel gezogen, wenn es heißt: „hier befinden sich Frauen an einem Nullpunkt des Lebens, so diffizil es auch scheint, ihren mit dem Nullpunkt einer Elisabeth Langgässer oder gar Cordelia Edvardson zu vergleichen“ (Matthias Hannemann: „Proserpina und das große Therapiespiel“, 1.8.2015). Auf alle Fälle kann sich dieser Text als ein Nationalliteraturen-übergreifender ‚Fortschreibungsroman‘ platzieren.

Lotta Lundberg: Timme noll, Stockholm: Natur & Kultur, 2014.
Deutsche Übersetzung: Zur Stunde Null, aus dem Schwedischen von Nina Hoyer, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2015
(Antje Wischmann, Uppsala, August 2015)

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Anonymität oder Achtsamkeit? Simon Fruelund: Pendlerne (2014)

fruelund»Simon Fruelund mestrer en minimalistisk realisme i stil med den amerikanske novellist Raymond Carver og med danske Helle Helle: En nedtonet, ufortolkende fortællestil, som antyder noget mere gådefuldt under hverdagens overflade.«

(Simon Fruelund ist ein Meister des minimalistischen Realismus im Stil des amerikanischen Erzählers Raymond Carver und der Dänin Helle Helle: ein abgeschwächter, nicht interpretierender Erzählstil, der etwas Geheimnisvolleres unter der Oberfläche des Alltags andeutet).

So wird der 1966 geborene Autor auf der Seite von forfatterweb.dk charakterisiert, und es überrascht nach dieser Beschreibung nicht, dass er Absolvent der »forfatterskole« (Abschluss 1995) sowie eines creative writing-Kurses einer amerikanischen Universität ist. Er debütierte 1997 mit dem Kurzprosaband Mælk und erlangte größere Bekanntheit und Erfolg mit Borgerligt tusmørke (2006), ebenfalls eine dem Minimalismus verpflichtete Sammlung von Augenblicksbildern. Während Borgerligt tusmørke die Bewohner einer Straße in einer Kopenhagener Vorstadt porträtierte, präsentiert der neue Text Pendlerne die Passagiere eines Pendlerzuges, der morgens von Kalundborg bis zum Kopenhagener Østerport fährt. Man könnte geneigt sein, von einer gewissen Masche des Autors zu sprechen, wie es Politikens kritischer Rezensent Ask Hansen tut, der der Meinung ist, dass die »rå katalogisering af danskere« (rohe Katalogisierung der Dänen; Politiken, 8.9.2014) die Grenze zum Klischee und zur Karikatur gelegentlich überschritte. Die meisten anderen Rezensenten sind jedoch sehr angetan von Fruelunds Prosa. Søren Kassebeer resümiert überrascht, dass »så fin litteratur [kan komme] ud af så megen almindelighed« (so gute Literatur aus so viel Gewöhnlichkeit entstehen kann; Berlingske Tidende, 5.9.2014), und Erik Skyum-Nielsen fasst zusammen: »Et øjenåbnende billede af Danmark af i dag, men også et deprimerende kig ind i et mørkt dyb af sammenhængsløshed og ensomhed« (Ein die Augen öffnendes Bild vom heutigen Dänemark, aber auch ein deprimierender Blick hinein in ein tiefes Dunkel von Zusammenhangslosigkeit und Einsamkeit; Information 5.9.2104).

Die meisten Rezensionen konzentrieren sich auf das Dänemarkbild, das aus den Porträts der Pendler hervorgeht: es geht um einen Querschnitt der dänischen Gegenwartsgesellschaft, in der die Schülerin neben dem Pensionär, der Arbeitslose neben der Krankenschwester, die Witwe neben dem Ehemann, der Einwanderer neben dem Afghanistan-Soldaten sitzt. Ein wirklich repräsentativer Querschnitt durch die dänische Gesellschaft wird doch wohl kaum angestrebt, zumal all die vielen Auto- und Radfahrer (und damit bestimmte soziale Schichten) Dänemarks aus diesem Bild ausgeklammert bleiben. Es geht eher um etwas anderes als eine soziologische Bestandsaufnahme. Dafür spricht schon die Erzählperspektive. Alle Personen werden sehr knapp auktorial eingeführt, stets nur durch das Personalpronomen »han« oder »hun« (er oder sie) bezeichnet, bleiben sie namenlos. Die Charakteristik, die Beruf, Alter, Personenstand oder Lebenssituation aufruft, gleitet dann fast unmerklich in eine Innenperspektive über, in der Gedanken, Gefühle oder Zweifel der jeweiligen Person wiedergegeben werden: was sie bewegt, während sie lesen, aus dem Fenster schauen und Gebäude, Windräder oder einmal ein paar Rehe registrieren. Während kaum jemand spricht oder interagiert, sind sie alle in ihren eigenen Gedanken und Problemen gefangen. Wir lesen von Einsamkeit und Träumen, Erinnerungen und Hoffnungen, Eheproblemen und sexuellen Wünschen, Arbeitsplatzsorgen und Stress. Auf diese Weise entsteht eine Balance zwischen Ferne und Nähe, zwischen Distanz und Einfühlung, zwischen anonymer Vereinzelung und Individualität. Und es ist diese erzählerische Balance, die immer wieder das Interesse des Lesers wecken kann und daher den Reiz des Textes ausmacht.

Zum zweiten ist es die Struktur von Pendlerne, von Erik Skyum-Nielsen als einen »fællesskabsløs kollektivroman« (einen gemeinschaftslosen Kollektivroman) bezeichnet, die raffiniert und, trotz gewisser Ähnlichkeit zu voraufgehenden Texten, durchaus aussagekräftig ist. Die Kapiteleinteilung folgt den Abfahrtszeiten des Zuges von den Unterwegsbahnhöfen, so dass sich 18 Abschnitte auf dem Weg nach Kopenhagen ergeben. Immer mehr Passagiere steigen in den Zug ein, immer neue Menschen werden erzählerisch eingeführt. Gelegentlich entstehen aber auch Bezüge: jemand beobachtet eine Person, die wir wiedererkennen, so dass Bilder von außen und innen einander ergänzen. So lernen wir z.B. am Anfang der Reise einen Arbeitslosen kennen, der Breiviks Manifest gelesen hat und eine Burka in seiner Reisetasche mit sich führt. Später wundert sich eine Mitfahrerin, dass eine Frau mit großen Füßen in einer Burka die Toilette verlässt, obwohl sie sicher ist, dass sie einen Mann hat hineingehen sehen. Im Geflecht der Alltäglichkeit entstehen so Bilder, aus denen sich Handlungen ergeben können, im erwähnten Fall sogar eine möglicherweise schwelende Gefahr. Diese Zusammenhänge machen aus den Augenblickseindrücken einen Roman.

Und noch etwas anderes passiert an diesem für die meisten ganz gewöhnlichen Morgen im Pedlerzug zwischen 7.11 und 9.11. Die Zeitangaben des Inhaltsverzeichnisses – also die planmäßigen Abfahrtszeiten – weichen von denen am Kapitelanfang notierten, an diesem Tag erreichten vorübergehend ab. Am Kopenhagener Hauptbahnhof ist die Verzögerung dann wieder aufgeholt, so dass der Ärger und die Sorge verschiedener Fahrgäste über die Verspätung zerstreut werden. Was nur wenige der in ihren Gedanken und Lektüren befangenen Passagiere (und aufmerksame Leser) bemerken, ist der Grund des unplanmäßigen Aufenthalts. Als nur eine Szene unter vielen lesen wir vom Zusammenbruch eines Mannes kurz vor Holbæk, in kurzen Augenblickssequenzen erfährt man von Rufen nach dem Notarzt, sieht wenig später den Rettungsdienst mit einer Trage und erfährt kurz vor Schluss durch die Lektüre eines Passagiers der Internetseite »Nordvestnyt« (ein aktueller Nachrichtendienst), dass der Mann an einem Herzinfarkt verstorben ist.

Auch auf diese Weise wird aus den isolierten Augenblicksbildern ein Roman, wenn scheinbare Belanglosigkeiten sich zu einem Eindruck fügen, der viele Facetten menschlichen Daseins umspannt. Das Banale steht neben dem Tragischen, Trauer neben Vorfreude, Alltagssorgen neben Existenzproblemen. Zwar gibt es durchaus die für einen Pendlerzug typische Anonymität und Vereinzelung, aber es gibt auch Zusammenhänge, Blicke, Worte und Handlungen, denen dieser Text seine Aufmerksamkeit schenkt und daher als eine der Gesellschaft zugrundeliegende Netzwerkstruktur auch hervorhebt. Die Form des Textes fordert aufmerksames Lesen heraus und ruft mit Hilfe dieser implizierten Lesestrategie dazu auf, Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen.

Vor allem aber wird der Text zum Roman, weil es Simon Fruelund gelingt, in jedem der Einzelporträts die Keimzelle einer Geschichte anzulegen, die man weiterlesen möchte. Jedes dieser Leben scheint einen eigenen Roman wert zu sein, hinter jedem »hun« oder »han« verbirgt sich ein Schicksal, über das man mehr erfahren möchte. Der Autor vermag es, diesen anonymen Figuren eine Relevanz zu geben, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, egal ob sie Arbeitsloser, Krankenschwester oder Biologielehrer sind. Die Vereinzelung und Belanglosigkeit, die die Form der Kurzporträts suggeriert, wird also konterkariert von kaum sichtbaren Zusammenhängen, von der Forderung nach Aufmerksamkeit, die der Text als Ganzes erhebt. Insofern stellt Fruelunds Pendlerne doch ein erhellendes und relevantes Porträt der Gegenwartsgesellschaft dar.

Simon Fruelund: Pendlerne. Kopenhagen: Gyldendal, 2014.
(Annegret Heitmann,München, März 2015)

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Katastrophenliteratur als Trauerkritik. Brit Bildøens Roman über das Nachleben des Terrors im Trauern (2014)

sju_dagarAls Brit Bildøen 2014 ihren Roman Sju dagar i august (Sieben Tage im August) herausbrachte, konnte sie sich der Aufmerksamkeit des norwegischen Lesepublikums sicher sein: Erzählt wird, wie ein schon etwas älteres Paar (Sofie: 50 Jahre, Otto: 60 Jahre) sieben Tage im August 2019 erlebt. Die Kapitel tragen die Namen der erzählten Wochentage, von Donnerstag bis Mittwoch. Erzählenswert werden diese Tage nicht durch irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse; wir erfahren von den kollegialen Rivalitäten im Munch-Museum in Osloer Stadtteil Bjørvika, das Sofie leitet (und das voraussichtlich 2018 fertiggestellt wird); von den finanziellen Schwierigkeiten, die Ottos Sohn aus erster Ehe in Australien hat; von Reparaturen der Unwetterschäden an Ottos und Sofies Wochenendhaus; von einer missglückten Party, die einer der Gäste, ein egomanischer Psychologe, als Plattform nutzt, um mit seiner Frau Schluss zu machen; oder von Ottos Sturz im Treppenhaus, der ihn einige Tage ans Bett fesseln wird. Interessant werden diese pointenlosen Szenen erst dadurch, dass Bildøen an ihnen ausbuchstabiert, wie sich Sofie aus den sozialen Beziehungen zu Freunden und Kollegen, aus ihrer Ehe und ihrer Familie und sogar aus ihrem eigenen Leben zurückgezogen hat. Grund für die schier unüberwindbare innere Distanz zu ihrer Umwelt ist Sofies anhaltende Trauer um Marie, ihre Tochter aus erster Ehe, die bei dem Massaker auf Utøya am 22. Juli 2011 erschossen wurde. Der Roman deutet die fürchterlichen Ereignisse der Vergangenheit nur an – doch mehr braucht es in einem norwegischen Kontext nicht. Das Land ist so klein, dass fast jeder jemanden kennt, der direkt von der Explosion in Oslos Regierungsviertel oder Breiviks Amoklauf auf Utøya betroffen ist. Entsprechend gibt es auch kaum ein Feuilleton in den Print- und elektronischen Medien, das den Roman nicht rezensiert hätte. Man lobt Bildøens Darstellung der Trauer, das Verständnis, das sie für die Angehörigen der Opfer hat, aber auch für die Menschen, die mit diesen Trauernden auskommen müssen.

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So wird das Buch zu einer Untersuchung der Trauer nicht als ein individuelles, sondern als ein kollektives Problem: In einer fast analytischen Sprache, die völlig ohne Sentimentalität auskommt, beschreibt Bildøen, wie Sofie davon ausgeht, sie habe das Recht, die Schockstarre, die 2011 auf die Nachricht vom Mord an Marie einsetzte, bis in das Jahr 2019 hinein zu bewahren und die Trauer einzufrieren. Nicht an Trauerarbeit ist sie interessiert, sondern an einer Monopolisierung der Trauer. Entsprechend beschreibt sie die kollektiven Anstrengungen in den Monaten nach dem Attentat mit Verachtung: „Krisepsykolog, sorggrupper, møte med andre etterlatne … Eg prøvde ei stund, men fekk ikkje til å ta imot hjelp. Eg blei kvalm av den kollektive sørginga, og at det fanst så sterke oppfatningar om korleis eg burde takle det. Det handla jo ganske enkelt om å gjennomleve sorga“ (S. 177 – „Krisenpsychologe, Trauergruppen, Treffen mit anderen Hinterbliebenen … Eine Weile versuchte ich es damit, aber bekam es nicht hin, Hilfe anzunehmen. Mir wurde schlecht von dem kollektiven Trauern, und dass es so klar war, wie ich das meistern sollte. Es ginge doch ganz einfach darum, die Trauer zu durchleben“).

Doch genau das will Sofie nicht: die Trauer durchleben; vielmehr leitet sie ihre Überlegenheit über andere Betroffene daraus ab, dass sie die Trauer konserviert. Äußerlich markiert sie diesen Anspruch dadurch, dass sie die acht Jahre seit dem Mord nur schwarze Kleidung getragen hat. Auch lässt sie Fotografien der toten Tochter als Medien der Trauerarbeit nicht zu – und zwar auch nicht für andere. Ihre Mutter etwa vergrößert ein Bild der Enkelin, das ästhetisch wohl nicht gelungen ist – eine Tatsache über die Sofie nur spotten kann. Doch Otto weist sie darauf hin, dass die Mutter buchstäblich keine Wahl hatte, denn Sofie verweigert die Herausgabe anderer Fotografien. Als sie dann für ihren an das Bett gefesselten Mann einige Unterlagen aus dessen Büro in der Osloer Innenstadt holen muss, sieht sie, dass er ein Bild von Marie auf dem Schreibtisch hat. Sie stellt es nicht zurück, sondern legt es auf die Tischplatte; „Otto skulle skjøne at ho hadde sett det“ (S. 164 – „Otto sollte verstehen, dass sie es gesehen hatte“). Der implizite Vorwurf, den diese Geste impliziert, ist nur schwer zu überhören.

Die Fotografie, die Augenblicksaufnahme, wird im Roman zum Medium, an dem zeitlicher Abstand erfahrbar wird. Doch genau den Abstand zum Unglück der Vergangenheit will Sofie minimieren und maximiert dadurch den Abstand zu ihrer Gegenwart. Eine Freundin und Kollegin drückt es so aus, als sie mit ihr über die Stimmung am Arbeitsplatz im Munch-Museum spricht: „[S]aka er at folk er litt … redde for deg, for du har jo ein aura av, kva skal eg seie, opphøgd sorg over deg. […] Det gjer deg uangripeleg, skjønar du det?“ (S. 178 – „Die Sache ist die, dass die Leute etwas … Angst vor dir haben, denn du hast ja eine Aura, wie soll ich es sagen, von erhabener Trauer um dich. […] Das macht dich unangreifbar, verstehst Du?“)

Der Rückzug in den inneren Raum der stillgestellten Trauer geht so weit, dass Sofie sogar den eigenen Körper als aufdringliche Außenwelt empfindet: Bereits am ersten der sieben Augusttage reibt sie an einer geröteten Stelle ihres Armes. Offensichtlich ist es ein Zeckenbiss, der ärztlich untersucht werden muss. Immer wieder wird sie von Otto aufgefordert, den Arzt aufzusuchen, jeden Tag ist die geschwollene Stelle größer geworden. Doch sie weigert sich, die Wirklichkeit des Körpers als relevant wahrzunehmen. Sofie praktiziert eine Tyrannei der Trauer, die für sich rücksichtslos in Anspruch nimmt, dass alle anderen ihre Bedürfnisse zurückstellen müssen – und zu diesen anderen gehört eben sogar der eigene Körper.

Bildøens Roman sieht der Versuchung der Trauer gnadenlos ins Auge. Denn durch den Trick, die Handlung nur fünf Jahre in die Zukunft der Lesenden zu projizieren, leistet sie nicht nur Trauerarbeit, sondern übt eben auch Trauerkritik.

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Trauer kann eine sinnstiftende Funktion bekommen, die jedoch eher zerstörerischen Charakter hat. Liest man Sju dagar i august als Buch über eine nationale Katastrophe bekommt diese psychologische Klarsicht eine politische Aktualität. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man Sju dagar i august als disaster fiction liest. Neben der nationalen Katastrophe des 22. Juli und der privaten Katastrophe eines havarierenden Lebens finden zwei weiter Katastrophentypen Erwähnung. Zum einen eine humanitäre Katastrophe, den die Roma in Oslo erleiden, um die sich Otto als Mitarbeiter einer NGO beruflich kümmert. Bildøen hat diesen Handlungsstrang sicher als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Diskussionen im Jahr 2012 in das Buch aufgenommen, als ca. 2000 Roma aus Rumänien nach Norwegen flohen und dort von den Osloer Behörden in einem stillgelegten Steinbruch untergebracht wurden. Bildøen deutet die Zusammenhänge (wie auch im Fall des Breivik Massakers) nur an. So erfährt man, dass es nach wie vor Schwierigkeiten mit der Ansiedelung gibt. Das Schicksal dieser ethnischen Gemeinschaft und die Art und Weise, wie über sie in der norwegischen Öffentlichkeit befunden wird, spiegelt Bildøyen an der Selbstbezogenheit Sofies (und damit einer Nation, die selbst gerade eine Katastrophe zu betrauern hat). Eine der Momente, die an Sofies Weltdistanz rüttelt, ist ihre Begegnung mit einer jungen Romamutter, die ein Kleinkind in den Armen hält.

Wesentlich präsenter sind im Roman jedoch die Vorboten einer drohenden Klimakatastrophe. Das Oslo im Jahr 2019 wird von schweren Unwettern heimgesucht; orkanartige Winde und sintflutartige Regengüssen sind zum Alltag geworden. Bildøen thematisiert an diesem Beispiel wie schwer sich die Gegenwart damit tut, sich selbst als Endzeit zu begreifen. Ausgerechnet der unsympathische Psychologe analysiert den anthropologischen Schutzmechanismus im Plauderton auf einer Party:

„Dødsangsten får oss til avvise faren, fortrenge det opplagde, justere oppfatninga vår om kva som er naturleg og kva som er rett. [… V]i reagerer med å endre oppfatninga om situasjonen i staden for å endre åtferd. Vi overtyder oss sjølve og andre om at det er ikkje så farleg. […] Snart kjem vi også til å akseptere at det vil gå menneskeliv kvar gong det er uvêr.“ (S. 83 – „Die Todesangst bringt uns dazu, die Gefahr wegzuschieben, das Offensichtliche zu verdrängen, unsere Ansicht darüber zu justieren, was natürlich und was recht ist. […] Wir reagieren damit, unsere Auffassung von der Situation zu verändern, anstatt unser Verhalten zu ändern. Wir überzeugen uns selbst und andere, dass sie nicht so gefährlich ist. […] Bald werden wir auch akzeptieren, dass jedes Mal, wenn Unwetter herrscht, Menschenleben draufgehen.“)

Als Lesende/r steht man unweigerlich vor der Frage, ob diese Einsicht, die im Kontext der Klimaveränderungen formuliert wird, auf die individuelle Katastrophe Sophies übertragbar ist. Das Außergewöhnliche, das die Klimakatastrophe in der Geschichte der Katastrophenwahrnehmung auszeichnet, ist – wie die Wiener Germanistin Eva Horn unlängst in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe (Fischer 2014) herausgearbeitet hat – die Tatsache, dass es sich um eine Katastrophe handelt, die nicht mehr als Ereignis vorgestellt werden kann. In diesem Punkt unterscheidet sie sich fundmental von der nationalen Katastrophe auf Utøya. Der Tod von 77 Menschen am 22. Juli 2011 in Oslo war ein zeitlich und lokal klar definiertes Ereignis mit eindeutigen Akteuren, das potentiell auch verhindert hätte werden können. Doch die Klimakatastrophe passiert nicht plötzlich; sie ist bereits da, auch wenn sich ihre desaströsen Folgen erst langsam entfalten werden. Sichtbar werden sie erst im Moment des Umschlages: „Tipping points werden […] nicht durch Entscheidungen hervorgerufen, sondern sind Phänomene der spontanen Emergenz: Aus einer kaum bemerkbaren Tendenz, aus winzigen Schritten entwickelt sich eine einschneidende Änderung der Verhältnisse“ (Horn, S. 18).

Mit dem oben zitierte Statement des Psychologen zu den Verdrängungsmechanismen unterstellt Bildøen ihrer Gegenwart, dass sie es bisher versäumt habe, das Katastrophische als Zustand zu begreifen. Und auch wenn sich die Denkfigur des durch eine schleichende Akkumulation hervorgerufenen Umschlagmoments nicht auf die nationale Katastrophe von Utøya übertragen lässt, kann man doch eine Analogie zur Trauerthematik herstellen. Letztlich beschreiben die titelgebenden sieben Tage im August den Tipping point in Sophies individueller Katastrophe. Nach acht Jahren der konsequenten Abschottung ist der Moment gekommen, in der ein soziales Miteinander nicht mehr möglich ist – und zwar nicht, weil irgendetwas Einschneidendes passiert, sondern nur weil der Tipping point erreicht ist. Das Gespräch zwischen Otto und Sophie auf den letzten Seiten des Romans lässt jedoch auf einen versöhnlichen Ausgang hoffen; der psychologische Tipping point könnte auch einen Umschlag in Richtung Öffnung des Ichs mit sich bringen. Doch gleichzeitig tobt auf den Straßen Oslos ein weiteres Unwetter mit Sturm und Regen; und der nächste Tag, der nicht mehr erzählt wird, wäre ein torsdag, ein Donnerstag. Dies lässt für die gesellschaftlich-politische Dimension des Romans nichts Gutes erwarten.

Brit Bildøen: Sju dagar i august. Oslo: Samlaget 2014.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, März 2015)

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