Wie man weiterlebt. Kreation individueller samischer Identität in Maren Uthaugs Og sådan blev det (2013)

uthaugOg sådan blev det – Und so war’s dann eben. Nüchterne Feststellung oder Resignation?

Auf den ersten Blick ist schwer zu sagen, wie der Titel der realistischen und mit feiner Ironie erzählten Lebensgeschichte eines heranwachsenden samischen Mädchens zu verstehen ist, dessen liebste Beschäftigung das Zeichnen ist. Maren Uthaug schöpft aus ihren eigenen Erfahrungen, ohne jedoch autobiographisch oder autofiktional zu werden: Als Tochter einer Norwegerin und eines Sami wuchs Uthaug zunächst in Nordnorwegen auf. Nach der Scheidung ihrer Eltern zog sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Dänemark zu deren neuem Partner. Um Homi Bhabhas Terminologie heranzuziehen: Uthaug ist eine kulturelle Hybride, „halvt samisk, halvt norsk og derudover […] ret dansk“ (halb samisch, halb norwegisch und darüber hinaus […] recht dänisch), wie sie im Portrait Bokprogrammet (Die Buchsendung) des NRK vom 25.03.2014 von sich selbst sagt.

Seit 2009 ist die Graphikerin mit Marens Blog online präsent. Über diese Internetseite vermarktet sie auch von ihr gestaltete Produkte: Poster, Postkarten, Kalender, Tassen und andere Gebrauchsgegenstände. Lesern der dänischen Tageszeitung Politiken (Die Politik) ist Uthaug seit 2013 bekannt, als sie den Cartoonwettbewerb der Tageszeitung gewann. Seither zeichnen ihre hintersinnigen Strichmännchen täglich im Kulturteil unter dem Titel Ting jeg gjorde (Dinge, die ich tat) kritisch und ironisch alle möglichen, viel häufiger jedoch unmöglichen Lebenssituationen nach. Zeichnerisch erfolgreich ist Uthaug auch in Norwegen mit ihren satirischen Cartoon-Büchern über Lebens- und Stimmungslagen samischer Existenz: Eines zeigt auf dem Cover eine Person in samischer Tracht, die im Begriff ist, Selbstmord zu begehen. Der Titel lautet Det er gøy å være same (Es ist lustig, Sami zu sein, 2010). Nach anfänglichen Skrupeln ließ sich Uthaug von ihrer samischen Familie davon überzeugen, dass sie als Insiderin das Recht habe, samisches Alltagsleben zu karikieren. Ihre so gewonnene Freiheit zeigt sich auch an dem provokativ doppelsinnigen Titel einer weiteren Cartoon-Sammlung: Same shit (2011) – ‚same’ als englisch ‚gleich’ oder aber norwegisch ‚Sami’ zu lesen. Verlegt werden die Karikaturen von Uthaugs samischen Onkeln, den Inhabern des Verlags CálliidLágádus.

In Og sådan blev det, ihrem Debütroman, schlägt Uthaug jedoch andere Töne an. Die Autorin baut mit Hilfe einer unregelmäßigen Alternation zwischen Rückblicken, Vorschauen und Passagen in der Erzählgegenwart einen äußerst dynamischen Text auf, der zwischen Nordnorwegen und Dänemark, der Kindheit und dem Erwachsenenleben der Protagonistin pendelt. Dass es sich bei der erstmals in einem mit der Jahreszahl 2007 überschriebenen Kapitel genannten Kirsten um eben jene Protagonistin handelt, die unter der Überschrift 1982 als siebenjährige Risten vorgestellt wird, kann der Leser rasch erschließen, da ihr Vater, der Norweger Knut, in beiden Textpassagen genannt wird. Erst nach und nach jedoch entfalten sich die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass aus Risten Kirsten wird, dass Knut seine samische Frau Rihtta verließ und mit seiner Tochter von Nordnorwegen nach Dänemark zu seiner neuen Geliebten Grethe zog. Analog zu Risten wird der Leser dabei lange fehlinformiert bzw. über ein unangenehmes Familiengeheimnis im Unklaren gelassen, um genau zu sein: bis kurz vor das Ende des Romans.

Uthaugs klare Sprache, die oft einfache Syntax und die Ellipsen, die sowohl auf der Ebene der Erzählinstanz als auch derjenigen der Figuren gedankliche Spontaneität erzeugen, bewirken eine lapidare Distanz zu den enormen familiären Konflikten und dem Kulturschock, den Risten erlebt. Möglicherweise ist diese nichtemotionale und unsentimentale Sprache ein Grund dafür, dass Og sådan blev det in Dänemark eher sozialrealistisch rezipiert wird. Uthaug selbst spricht von der Entwurzelung und familiären Entfremdung als zentralem Textthema. Diese Sicht zeigen auch verschiedene Rezensionen (vgl. z.B. Klaus Rothsteins Rezension in Weekendavisen (Wochenendzeitung), 30.08.2013), Lesarten, die durch das Symbol der Wurzeln inspiriert wurden, das zweifach im Text auftaucht und zudem als Cover-Illustration aufgegriffen wird: Risten ist als Kind über Monate hinweg damit beschäftigt, die Blätter eines Malblocks aneinander zu kleben und das Wurzelsystem eines Baumes in Originalgröße zu zeichnen. Sie wird nicht damit fertig. Die bemalten Papierbögen verschwinden als Polsterungsmaterial in den Umzugskisten für die Übersiedlung nach Dänemark. Als Erwachsene nennt Risten ihren Sohn Rod (Wurzel). Diese Rezeption wird in Norwegen übernommen, als 2014 die Übersetzung Og sånn ble det erscheint (vgl. Gabriel Michael Vossgraff Moros Rezension in Verdens Gang (Lauf der Welt), 27.10.2014 sowie Maya Troberg Djuves Rezension in Dagbladet (Die Tageszeitung), 20.12.2014).

Verwunderlich ist, dass weder die ablehnende Haltung gegen Norweger, wie sie etwa in Rihttas Mutter Áhkku präsent ist, noch die offensichtlich koloniale, ja, rassistische Haltung, die die egozentrische Stiefmutter Grethe im Mikrokosmos der neuen Patchworkfamilie praktiziert, den Rezensenten Anlass geben, kritisch über das Verhältnis zwischen skandinavischen Gesellschaften und deren indigenen Minderheiten zu räsonieren. Koloniales Gebaren zeigt Grethe insbesondere in der Umbenennung Ristens in Kirsten und der Namensgebung ihres vietnamesischen Pflegesohns, eines verwaisten Bootsflüchtlings. Da der Junge einen „indviklet, vietnamesisk navn“ (komplizierten vietnamesischen Namen) hat, nennt Grethe ihn einfach „Vietnameser-Niels“ (Vietnamesen-Niels), mit der Begründung „[i] Danmark er det jo praktisk med et dansk navn“ (in Dänemark ist es doch praktisch, einen dänischen Namen zu haben, S. 55). In gleicher Weise kolonial kann Grethes selbstgefällige Nötigung der beiden Kinder verstanden werden, sie mit ‚Mutter’ anzusprechen.

Diaspora ist in indigenen Kontexten ein prominentes Thema. Bemerkenswert ist, dass Risten Vorstellungen, wie sie ihr von Áhkku in früher Kindheit vermittelt werden, auch in Dänemark allen Widrigkeiten zum Trotz unverbrüchlich treu bleibt. Diese indigene Identität äußert sich in einem großen Respekt vor unterirdischen Wesen und dem Nordlicht, vor denen man sich nur durch Tragen von Silberschmuck, Aufsagen kvenischer Gebete und Abwenden des Blicks schützen kann. Obwohl Risten entdeckt, dass es in Dänemark kein Nordlicht gibt, ist sie skeptisch, ob es nicht doch plötzlich erscheinen könnte. Die zum Schutz nötigen Handlungen und Rituale praktiziert Risten in Grethes Garten weiter und vermittelt sie auch an ihren vietnamesischen Stiefbruder. Dieser begreift nicht, dass er in samisches Wissen eingeweiht wird, sondern meint, Wesentliches über seine neue Heimat, also über Dänemark, zu lernen. Risten hat damit keine traditionale samische ‚pre-contact’ Identität, vielmehr praktiziert sie den læstadianisch-samischen Synkretismus ihrer Großmutter kreativ in einer Form, wie sie ihr in der dänischen Umgebung möglich ist und sinnvoll erscheint, sozusagen ‚global’ orientiert durch die enge Gemeinschaft mit ihrem vietnamesischen Stiefbruder und späteren Lebensgefährten: Die beiden Kinder erschaffen sich ihre eigene Form einer indigenen Identität, die auf einer samischen basiert. Als die Kinder Silberschmuck aus Grethes Schatullen stehlen und den Grund verschweigen, bleiben Konflikte nicht aus. Den pubertierenden Niels gibt Grethe schließlich an einen anderen vietnamesischen Flüchtling ab, der in Kopenhagen in einem Restaurant arbeitet.

Da der Fokus ganz auf der samischen Mikrokultur liegt, die die beiden Kinder miteinander entwickelt haben, werden die Jahre ohne Niels, die Risten noch mit Grethe und Knut lebt, in starker Zeitraffung erzählt. Lediglich Ristens Schockzustand, nachdem Niels aus der Patchworkfamilie ausgestoßen wurde, ist hervorgehoben. Als Risten für ein Architekturstudium nach Kopenhagen zieht, trifft sie Niels schließlich wieder und bekommt mit ihm einen Sohn, Rod. Immer noch praktiziert sie – gebilligt und vollkommen unterstützt von Niels – die Rituale mit dem Silberschmuck und setzt sich von ihrer Stiefmutter Grethe ab.

Die Rituale stabilisieren Risten und definieren ihre indigene Eigenheit in einer sonst vollkommen anders orientierten dänischen Umgebung. Ihre Sehnsucht nach Rihtta jedoch vermögen sie nicht zu stillen. Nachdem sich Risten ein idealisiertes Mutterbild aufgebaut hat – die liebende Rihtta im Vergleich zu der dominanten und kalten Grethe – besucht sie 2007 Rihtta in Nordnorwegen. Dies ist der erste Kontakt nach gut zwei Jahrzehnten. Rihttas mangelndes Engagement und ihre fehlende Wiedersehensfreude irritieren Risten. Wenige Wochen nach dem Besuch stirbt Rihtta. Sie beging vermutlich Selbstmord, da ihr eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden war. Mutmaßliche Unstimmigkeiten in der Patientenakte veranlassen Risten, investigativ tätig zu werden. Sie setzt ihren Vater Knut massiv unter Druck, ihr die Wahrheit über ihre Mutter zu sagen. In die Enge getrieben, gesteht Knut schließlich – erzähltechnisch in einem enthüllenden Flashback gestaltet, das Licht auf manche für den Leser vorher rätselhafte Episode wirft –, dass Ristens biologische Mutter Ravna ist, Rihttas jüngste Schwester. Diese lebt inzwischen verwirrt in einem Pflegeheim. Risten sucht sie dort zwar auf, jegliche Kommunikation scheitert aber an Ravnas schlechtem geistigem Zustand.

Nach dem unharmonischen Aufwachsen in der dänisch-norwegisch-samisch-vietnamesischen Patchworkfamilie, der Enthüllung der Lebenslüge und der Enttäuschung über die Unmöglichkeit eines echten Austausches mit ihrer biologischen Mutter bricht Risten nicht etwa zusammen: Sie „[v]enter på tårerne. De kommer ikke.“ (wartet auf die Tränen. Sie kommen nicht. S. 206). Sie geht vielmehr zum Alltag über. Mit einem Blick auf die eisige winterliche Landschaft stellt sie abschließend lediglich lakonisch – und wohl auch selbstironisch – fest: „[F]rosten har bidt sig fast for i år“ (Für dieses Jahr hat sich der Forst festgebissen, S. 206).

Bisher ist Og sådan blev det noch nicht in einer indigen-komparatistischen Perspektive gelesen worden. Eine solche Lesart empfiehlt sich jedoch, denn Uthaug präsentiert mit Risten eine Figur, die Parallelen zu den indigenen und halb-indigenen literarischen Figuren Saul Indian Horse und Franklin Starlight aus den Romanen Indian Horse (2012) und Medicine Walk (2014) des kanadischen Ojibwe-Indianers Richard Wagamese hat. Diese Protagonisten haben mit der unmittelbaren Vergangenheit abgeschlossen oder müssen notwendigerweise mit ihr abschließen, um ihre individuell kreierte indigene Identität zu praktizieren. Ausgewählt für den landesweiten Lesetag Danmark læser 2015 und damit in die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit gerückt folgen in den nächsten Jahren womöglich noch vergleichende Lesarten von Og sådan blev det. Diese könnten das Desiderat globaler, d.h. nicht vorwiegend auf englischsprachige Literatur konzentrierter indigener Literaturstudien aufgreifen, wie es etwa von dem samischen Wissenschaftler Harald Gaski (Universität Tromsø) mehrfach formuliert wurde. Vielleicht wird Og sådan blev det – auch dies wäre wünschenswert – in weitere Sprachen übersetzt.

Wagameses und Uthaugs Texte gehen weiter und überschreiten die oft postkolonial aufgearbeitete Opferrolle, indem sie der Desorientierung indigener Personen kreative Figuren gegenüberstellen, die ihren Weg aus dem Desaster gehen. In diesem Kontext gelesen, bringt der Titel Og sådan blev det weder eine nüchterne Feststellung noch Resignation zum Ausdruck. Vielmehr ist damit der für Indigene, Nicht-Indigene sowie auch für Personen gemischter ethnischer Herkunft durchaus schwierige, aber unbedingt positive und zukunftsweisende Umgang mit den historisch – und in Konsequenz daraus auch biographisch – gewordenen Gegebenheiten gemeint. Und so war’s dann eben. Eine Bekräftigung und Emphase: Es gilt, trotz der unabänderlichen Vergangenheit weiter zu leben.

Könnte mit dem Vergleich zur First-Nations-Literatur im Immigrationsland Kanada im Hinterkopf nicht die Frage gestellt werden, wo im ‚Europa der Immigration’ Uthaugs Text überhaupt seinen Platz finden sollte?

Maren Uthaug: Og sådan blev det,  Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2013.
(Juliane Egerer, Erlangen-Nürnberg, 2015)

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Krieg und Unterwelt entronnen – Lotta Lundbergs schwedisch-deutscher Roman Timme noll (2014)

timme_nollDer Trend, sich an ein skandinavisches und an ein deutschsprachiges Publikum zu wenden, ist für Film, Fernsehen oder Pop-Musik bereits recht ausgeprägt – und wird sich auch für die skandinavische Belletristik voraussichtlich immer stärker geltend machen. Lundbergs spannender Roman ist ein dankbares Beispiel. Vielleicht handelt es sich sogar um einen geplanten Bestseller? Oder ist bald eine Verfilmung zu erwarten?

Der erste Teilstrang von Lundbergs Roman, „Berlin 1945“ über die historische Stunde Null führt die Autorinnenfigur Hedwig Lohmann und ihre Tochter ein, die „flickan“ (Mädchen) genannt wird. Der zweite Teilstrang „Uppsala 1984“ ist einem Teenager in Uppsala namens Isa gewidmet, der dritte „Bildholmen 2005“ einer pensionierten Therapeutin, Ingrid, die im Begriff steht, sich von ihrem schwer kranken Ehemann zu trennen. Timme noll nutzt das Skandalmoment der historischen Biographien von Elisabeth Langgässer, einer deutschen Autorin und deren Tochter Cordelia Edvardson, einer Holocaust-Überlebenden und in Schweden sehr bekannten Zeitzeugin. In den beiden anderen, alternierend dargebotenen Teilsträngen widmet sich der Roman Fragen von Schuld und Verantwortung in weiteren Mutter-Tochter-Beziehungen, so als würde der historische Stoff bis in die Gegenwart hinein aufgefächert.

Interessant ist nun, wie sich das unterschiedlich anzusetzende kulturelle Wissen für die beiden Lesergruppen auswirken mag: Stellt man sich die Lektüre derjenigen vor, die bereits im Schulunterricht die literarischen und journalistischen Arbeiten der schwedischsprachigen Autorin Cordelia Edvardson (1929-2012) kennengelernt haben, dann gibt die explizite Widmung des Romans an diese Vorbildfigur ein deutliches Signal: Timme noll geht eine dokumentarische Verpflichtung ein.

Stellt man sich dagegen die Lektüre derjenigen vor, die mit der deutschsprachigen Literaturgeschichte gut vertraut sind, ist davon auszugehen, dass die Hauptfigur im Jahr 1945 als die Autorin Elisabeth Langgässer (1899-1950) identifiziert werden kann, nachdem ein zentraler Roman erwähnt worden ist: Proserpina (1932), ein Text, in dem Langgässer den Übergang ins Erwachsenenalter anhand des Proserpina-Mythos ausgestaltete und wiederum ihre eigene Kindheit verarbeitete. Das Trauma der Mutter-Tochter-Beziehung von Langgässer und Edvardson besteht darin, dass der Autorin nachgesagt wurde, sie habe billigend in Kauf genommen, dass ihre deutsch-jüdische Tochter mit unbekanntem Ziel verschickt wurde, um sich weiter ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin widmen zu können. Sowohl Timme noll als auch Bränt barn söker sig till elden 1984 von Edvardson (Gebranntes Kind sucht das Feuer, 1986) beschreiben, wie „flickan“ – alias Cordelia – begleitet von der Mutter, ein Dokument unterzeichnen muss, das sie den Rassegesetzen unterstellt, nachdem zuvor immer wieder Anstrengungen unternommen worden waren, das Mädchen in Sicherheit zu bringen. (Zu den Einzelheiten siehe Anna Callenholm: Erinnerte Erfahrung der Shoah in den Werken von Ruth Klüger und Cordelia Edvarson, Växjö 2013.) Edvardson wurde als Sechzehnjährige mit den legendären weißen Bussen nach Schweden gerettet. Sie war in den Jahren 1977 bis 2006 als Israel-Korrespondentin für Svenska Dagbladet im Einsatz, weshalb sie in Lundbergs Roman häufig als „rösten i radion“ (Radiostimme) tituliert wird.

Während es zwischen den beiden historischen Akteurinnen wohl nur ein kurzes Wiedersehen gegeben hat, breitet der Roman Timme noll eine Vielfalt von Konflikten und Symbiosen von Müttern und Töchtern auf, als ob sich diese in alle Zeit fortsetzten. Dabei wird auf die zirkuläre Figur einer genealogischen Vergewisserung großer Wert gelegt, die bereits im Proserpina-Mythos selbst angelegt ist: Tritt Proserpina (in der griechischen Mythologie Persephone) aus der Unterwelt hervor, verbringt sie den Sommer mit ihrer Mutter Ceres/ Demetria, wohingegen sie im Winter auf Unterwelt und Totenreich verwiesen ist, das von den destruktiven Mächten des Pluto/ Hades beherrscht wird.

Die Ereignisse der späteren Jahrzehnte in den beiden anderen Teilsträngen antworten ganz sprichwörtlich auf die historische Vorgeschichte. Isa ist in Uppsala durch destruktives Verhalten auffällig geworden und wird in die Psychiatrie aufgenommen, nachdem sie eine Puppe zerfetzt hat (vgl. Lundberg: Timme noll, S. 43-35 mit Langgässer: Proserpina, S. 104-110). Mit dieser brutalen Episode der Entdeckung dämonischer Kräfte im Selbst wird makaber auf den Kosenamen von Hedwigs Tochter „flickan“ angespielt: „Dockelina“ (in etwa Püppchen). Der Puppenmord ist Isas erste schuldhafte Handlung, die auf Langgässers Verrat an deren Tochter rückverweist und Isa zugleich in der Position einer generationsübergreifenden verallgemeinerten Tochter präsentiert – so als würde eine Nachgeborene unmittelbar an eine historische Handlung anknüpfen. So scheint Isa, die sich nach einer mütterlichen Vertrauten sehnt, vierzig Jahre später den suchenden Blick Lohmanns zu erwidern, wenn jene den Blick von „flickan“ zu fangen sucht (vgl. Timme noll, S. 72 und 29). In gewissem Sinne sind in Isa die Positionen von Lohmann und „flickan“ gleichzeitig vorhanden, der Mutter-Tochter-Konflikt kreuzt sich in der Psyche der Nachgeborenen.

Im Teilstrang zur Figur Isa wird das Augenmerk stärker auf das intra- und intertextuelle Verfahren von Timme noll gerichtet. Dies ist höchst komplex und angesichts der Fülle des Stoffs doch effizient. Während in den „Berlin 1945“-Kapiteln Passagen aus Lohmanns Manuskripten in Kursiv eingefügt sind und in deren erlebte Rede zitierte Ausdrücke von anderen Figuren, integriert Isas Teilstrang, für den als einzigen die Ich-Perspektive gewählt ist, psychoanalytisches Vokabular (einschließlich eines abgedroschenen Therapie-Jargons), Fremdwörter oder betont erwachsen klingende Ausdrücke, die ebenfalls kursiviert sind. Der Registerwechsel setzt kleine ironische Verfremdungseffekte. Isa arbeitet an einem abgewandelten Monopoly-Spiel, das ihren gesamten Therapieverlauf in ein aufwendiges Würfelspiel mit selbst angefertigten Spielfiguren, Ereigniskarten u.ä. transformiert. Dieses Spiel, natürlich ein Gleichnis für die freie Transformation der Biographien in ein eigengesetzliches Konglomerat, erhält die Therapeutin zum Abschied geschenkt. Als eine Art Debütwerk besiegelt es die sich fortsetzende Stabilität Isas.

Solche sprachlichen und erzählperspektivischen Distanznahmen treten im dritten Teilstrang um die Therapeutin Ingrid eher zurück: Die wenigen in alternativer Typographie dargebotenen Formulierungen sind Mail- und SMS-Zitate, erinnerte Phrasen oder Begriffsprägungen anderer Figuren.

Ingrid, die möglicherweise in den 1980er Jahren Isas Therapeutin war, lässt sich pensionieren, um ihren kranken Ehemann zu unterstützen, der in seiner letzten Lebensphase den Beruf als Pastor auf einer Schäreninsel ausüben will. Was hat sich die Mutter dreier Kinder nach ihren beruflichen Erfolgen zu Schulden kommen lassen? Ist sie nur ein altruistisches Opfer ihres Mannes, der nun auch noch ein Verhältnis zu einer Autorin beginnt? (Die Geliebte heißt Hanna Lund – mit einem Seitenblick auf die Autorin Lundberg selbst.) Ingrids Nullpunkterlebnis besteht in der Entscheidung, spät im Leben die Autonomie zu erproben. Wider Erwarten unterstützen sie ihre Kinder bei dem Vorhaben, gerade auch ihre Tochter, von der sie bislang nur Widerspruch gewohnt war.

Weder die vielfältigen Verflechtungen zwischen den Lebensläufen der Figuren, das Funken sprühende Netz der Anspielungen noch die gröberen Analogiebildungen sollen hier genauer aufgeschlüsselt werden. Ebenso wenig soll hier das Finale im Kloster verraten werden, bei dem sich die drei Frauengenerationen begegnen, sich zum letzten Mal eine Tochter in ihrer Mutter wiedererkennt und eine Mutter in ihrer Tochter. Für die Beschreibung der gefährlichen Fußwanderung, die Lohmann von Berlin nach Anastasiendorf unternimmt, werden Passagen aus Langgässers Roman Märkische Argonautenfahrt (1950) verwendet.

Da Timme noll in diesem Jahr Sveriges Radios Romanpris erhielt, liegt umfangreiches Rezeptionsmaterial vor. Dabei fällt auf, dass auf die kompositorische Nähe zu Michael Cunninghams The Hours (1998, erfolgreich verfilmt 2002) zwar hingewiesen, dann aber dieser Bezug – respektvoll – nicht weiter verfolgt wird. Auch Cunningham verwendete für seine Hommage an Virginia Woolf (1882-1941) und ihr Werk sowohl biographische Materialien als auch literarische Texte, vor allem Woolfs Roman Mrs. Dalloway (1925). Wie so viele Familiensagas bemüht The Hours das Drei-Generationen-Modell und liefert genau wie Timme noll ineinander verwobene Erzählstränge aus der Sicht dreier Protagonistinnen. Das wichtigste gemeinsame Merkmal besteht darin, dass sich die Textbezüge überhaupt erst durch intensive Lesermitarbeit verwirklichen. Indem die Lesenden das Puzzle vervollständigen, vollziehen sie selbständig das zyklische Muster einer intergenerationalen Kontinuitätsvergewisserung nach. Doch wird The Hours nicht von Lundberg zum Anlass für ein Remake oder ein Pastiche genommen, sondern dieser produktiv verarbeitete Text entfaltet sich als einer neben vielen anderen Texten.

Der Teenager Isa ist eine Figur, die Ironie in die schwergewichtigen Themen einspeist, eigentlich ein riskantes Unterfangen, das aber eine analytische Betrachtung der eingebrachten Intertexte anregt. Die zentralen Deutungsmodelle einer wahlweise religiös oder psychoanalytisch orientierten Welterklärung bilden zwar einerseits unhinterfragte große Erzählungen. Andererseits pointiert Timme noll auch den pathetischen Sog, der sich aus der intergenerationalen Tradierung der Mutter-Tochter-Symbiose ergibt. Mit dem ironischen Hinweis auf die Filmstudios in Babelsberg wird sogar antizipiert, wie wir als Lesende trotz des markierten Konstruktcharakters bereit sind, Emotionen zu investieren. Von ihrer Begleiterin auf dem Weg nach Anastasiendorf wird Lohmann gefragt, ob ihre Produktion stärker von „Gud eller Freud“ beherrscht sei, worauf die Autorinnenfigur lachend „Babelsberg“ antwortet (vgl. S. 249). Es mag gewagt erscheinen, vor dem gewählten historischen Hintergrund auf das melodramatische Potential und die mediale Verwertbarkeit anzuspielen.

Wie bei der Lektüre eines spannenden Kriminalromans gilt es auch bei Timme noll, ein Begehren zu stillen. Dies bezieht sich in gewisser Weise auch auf die Aufklärung eines Verbrechens (Langgässers schuldhafte Handlung), aber mehr noch auf die Lösung eines psychologischen Rätsels. Die ethische und politische Ebene der Kombinationsbiographie von Timme noll dürfte allerdings im deutschsprachigen Raum eher kontrovers betrachtet werden als dies von Seiten der schwedischen Leserschaft zu erwarten ist. In einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird trotz einer ausführlichen Würdigung des Romans der ethische Maßstab leise in Zweifel gezogen, wenn es heißt: „hier befinden sich Frauen an einem Nullpunkt des Lebens, so diffizil es auch scheint, ihren mit dem Nullpunkt einer Elisabeth Langgässer oder gar Cordelia Edvardson zu vergleichen“ (Matthias Hannemann: „Proserpina und das große Therapiespiel“, 1.8.2015). Auf alle Fälle kann sich dieser Text als ein Nationalliteraturen-übergreifender ‚Fortschreibungsroman‘ platzieren.

Lotta Lundberg: Timme noll, Stockholm: Natur & Kultur, 2014.
Deutsche Übersetzung: Zur Stunde Null, aus dem Schwedischen von Nina Hoyer, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2015
(Antje Wischmann, Uppsala, August 2015)

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Anonymität oder Achtsamkeit? Simon Fruelund: Pendlerne (2014)

fruelund»Simon Fruelund mestrer en minimalistisk realisme i stil med den amerikanske novellist Raymond Carver og med danske Helle Helle: En nedtonet, ufortolkende fortællestil, som antyder noget mere gådefuldt under hverdagens overflade.«

(Simon Fruelund ist ein Meister des minimalistischen Realismus im Stil des amerikanischen Erzählers Raymond Carver und der Dänin Helle Helle: ein abgeschwächter, nicht interpretierender Erzählstil, der etwas Geheimnisvolleres unter der Oberfläche des Alltags andeutet).

So wird der 1966 geborene Autor auf der Seite von forfatterweb.dk charakterisiert, und es überrascht nach dieser Beschreibung nicht, dass er Absolvent der »forfatterskole« (Abschluss 1995) sowie eines creative writing-Kurses einer amerikanischen Universität ist. Er debütierte 1997 mit dem Kurzprosaband Mælk und erlangte größere Bekanntheit und Erfolg mit Borgerligt tusmørke (2006), ebenfalls eine dem Minimalismus verpflichtete Sammlung von Augenblicksbildern. Während Borgerligt tusmørke die Bewohner einer Straße in einer Kopenhagener Vorstadt porträtierte, präsentiert der neue Text Pendlerne die Passagiere eines Pendlerzuges, der morgens von Kalundborg bis zum Kopenhagener Østerport fährt. Man könnte geneigt sein, von einer gewissen Masche des Autors zu sprechen, wie es Politikens kritischer Rezensent Ask Hansen tut, der der Meinung ist, dass die »rå katalogisering af danskere« (rohe Katalogisierung der Dänen; Politiken, 8.9.2014) die Grenze zum Klischee und zur Karikatur gelegentlich überschritte. Die meisten anderen Rezensenten sind jedoch sehr angetan von Fruelunds Prosa. Søren Kassebeer resümiert überrascht, dass »så fin litteratur [kan komme] ud af så megen almindelighed« (so gute Literatur aus so viel Gewöhnlichkeit entstehen kann; Berlingske Tidende, 5.9.2014), und Erik Skyum-Nielsen fasst zusammen: »Et øjenåbnende billede af Danmark af i dag, men også et deprimerende kig ind i et mørkt dyb af sammenhængsløshed og ensomhed« (Ein die Augen öffnendes Bild vom heutigen Dänemark, aber auch ein deprimierender Blick hinein in ein tiefes Dunkel von Zusammenhangslosigkeit und Einsamkeit; Information 5.9.2104).

Die meisten Rezensionen konzentrieren sich auf das Dänemarkbild, das aus den Porträts der Pendler hervorgeht: es geht um einen Querschnitt der dänischen Gegenwartsgesellschaft, in der die Schülerin neben dem Pensionär, der Arbeitslose neben der Krankenschwester, die Witwe neben dem Ehemann, der Einwanderer neben dem Afghanistan-Soldaten sitzt. Ein wirklich repräsentativer Querschnitt durch die dänische Gesellschaft wird doch wohl kaum angestrebt, zumal all die vielen Auto- und Radfahrer (und damit bestimmte soziale Schichten) Dänemarks aus diesem Bild ausgeklammert bleiben. Es geht eher um etwas anderes als eine soziologische Bestandsaufnahme. Dafür spricht schon die Erzählperspektive. Alle Personen werden sehr knapp auktorial eingeführt, stets nur durch das Personalpronomen »han« oder »hun« (er oder sie) bezeichnet, bleiben sie namenlos. Die Charakteristik, die Beruf, Alter, Personenstand oder Lebenssituation aufruft, gleitet dann fast unmerklich in eine Innenperspektive über, in der Gedanken, Gefühle oder Zweifel der jeweiligen Person wiedergegeben werden: was sie bewegt, während sie lesen, aus dem Fenster schauen und Gebäude, Windräder oder einmal ein paar Rehe registrieren. Während kaum jemand spricht oder interagiert, sind sie alle in ihren eigenen Gedanken und Problemen gefangen. Wir lesen von Einsamkeit und Träumen, Erinnerungen und Hoffnungen, Eheproblemen und sexuellen Wünschen, Arbeitsplatzsorgen und Stress. Auf diese Weise entsteht eine Balance zwischen Ferne und Nähe, zwischen Distanz und Einfühlung, zwischen anonymer Vereinzelung und Individualität. Und es ist diese erzählerische Balance, die immer wieder das Interesse des Lesers wecken kann und daher den Reiz des Textes ausmacht.

Zum zweiten ist es die Struktur von Pendlerne, von Erik Skyum-Nielsen als einen »fællesskabsløs kollektivroman« (einen gemeinschaftslosen Kollektivroman) bezeichnet, die raffiniert und, trotz gewisser Ähnlichkeit zu voraufgehenden Texten, durchaus aussagekräftig ist. Die Kapiteleinteilung folgt den Abfahrtszeiten des Zuges von den Unterwegsbahnhöfen, so dass sich 18 Abschnitte auf dem Weg nach Kopenhagen ergeben. Immer mehr Passagiere steigen in den Zug ein, immer neue Menschen werden erzählerisch eingeführt. Gelegentlich entstehen aber auch Bezüge: jemand beobachtet eine Person, die wir wiedererkennen, so dass Bilder von außen und innen einander ergänzen. So lernen wir z.B. am Anfang der Reise einen Arbeitslosen kennen, der Breiviks Manifest gelesen hat und eine Burka in seiner Reisetasche mit sich führt. Später wundert sich eine Mitfahrerin, dass eine Frau mit großen Füßen in einer Burka die Toilette verlässt, obwohl sie sicher ist, dass sie einen Mann hat hineingehen sehen. Im Geflecht der Alltäglichkeit entstehen so Bilder, aus denen sich Handlungen ergeben können, im erwähnten Fall sogar eine möglicherweise schwelende Gefahr. Diese Zusammenhänge machen aus den Augenblickseindrücken einen Roman.

Und noch etwas anderes passiert an diesem für die meisten ganz gewöhnlichen Morgen im Pedlerzug zwischen 7.11 und 9.11. Die Zeitangaben des Inhaltsverzeichnisses – also die planmäßigen Abfahrtszeiten – weichen von denen am Kapitelanfang notierten, an diesem Tag erreichten vorübergehend ab. Am Kopenhagener Hauptbahnhof ist die Verzögerung dann wieder aufgeholt, so dass der Ärger und die Sorge verschiedener Fahrgäste über die Verspätung zerstreut werden. Was nur wenige der in ihren Gedanken und Lektüren befangenen Passagiere (und aufmerksame Leser) bemerken, ist der Grund des unplanmäßigen Aufenthalts. Als nur eine Szene unter vielen lesen wir vom Zusammenbruch eines Mannes kurz vor Holbæk, in kurzen Augenblickssequenzen erfährt man von Rufen nach dem Notarzt, sieht wenig später den Rettungsdienst mit einer Trage und erfährt kurz vor Schluss durch die Lektüre eines Passagiers der Internetseite »Nordvestnyt« (ein aktueller Nachrichtendienst), dass der Mann an einem Herzinfarkt verstorben ist.

Auch auf diese Weise wird aus den isolierten Augenblicksbildern ein Roman, wenn scheinbare Belanglosigkeiten sich zu einem Eindruck fügen, der viele Facetten menschlichen Daseins umspannt. Das Banale steht neben dem Tragischen, Trauer neben Vorfreude, Alltagssorgen neben Existenzproblemen. Zwar gibt es durchaus die für einen Pendlerzug typische Anonymität und Vereinzelung, aber es gibt auch Zusammenhänge, Blicke, Worte und Handlungen, denen dieser Text seine Aufmerksamkeit schenkt und daher als eine der Gesellschaft zugrundeliegende Netzwerkstruktur auch hervorhebt. Die Form des Textes fordert aufmerksames Lesen heraus und ruft mit Hilfe dieser implizierten Lesestrategie dazu auf, Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen.

Vor allem aber wird der Text zum Roman, weil es Simon Fruelund gelingt, in jedem der Einzelporträts die Keimzelle einer Geschichte anzulegen, die man weiterlesen möchte. Jedes dieser Leben scheint einen eigenen Roman wert zu sein, hinter jedem »hun« oder »han« verbirgt sich ein Schicksal, über das man mehr erfahren möchte. Der Autor vermag es, diesen anonymen Figuren eine Relevanz zu geben, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, egal ob sie Arbeitsloser, Krankenschwester oder Biologielehrer sind. Die Vereinzelung und Belanglosigkeit, die die Form der Kurzporträts suggeriert, wird also konterkariert von kaum sichtbaren Zusammenhängen, von der Forderung nach Aufmerksamkeit, die der Text als Ganzes erhebt. Insofern stellt Fruelunds Pendlerne doch ein erhellendes und relevantes Porträt der Gegenwartsgesellschaft dar.

Simon Fruelund: Pendlerne. Kopenhagen: Gyldendal, 2014.
(Annegret Heitmann,München, März 2015)

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