Nicht-nivellierte Vororte. Måns Wadensjö: Människor i Solna (2016)

manniskorisolnaWer mit Ende Zwanzig autobiographische Aufzeichnungen verfasst, hat mit zu gleichen Teilen skeptischen wie erwartungsvollen Reaktionen zu rechnen. Der Autor und Journalist Måns Wadensjö (geb. 1988) verknüpft in seinen beiden Vorstadtromanen von 2011 und 2016 autobiographische Episoden mit der historisch-atmosphärischen Aufarbeitung zweier Stockholmer Vororte, die aus seiner Perspektive für die alltäglichen Wahrnehmungen der Städter und für die soziale Interaktion einstehen. Die Sichtbarmachung von Vällingby im Roman ABC-staden (Die ABC-Stadt) und jetzt von Solna in Människor i Solna (Menschen in Solna) bezieht sich einerseits auf die eher unscheinbare Peripherie, deren heutiger intensiver Austausch mit der innerstädtischen Zirkulation den Status eines Außerhalb inzwischen aufgehoben hat. Andererseits wird auch ein Debütant sichtbar, geht es doch auch um die Selbstermächtigung zur Autorschaft kraft der Stockholmer Stadt(teil)geschichte.

Die wechselseitige Erhellung von Autobiographie und Geschichte der Suburbia scheint insgesamt bisher von Erfolg gekrönt. Wadensjö erhielt wohlwollendes Feedback auf seine Vällingby-Erkundung, während die Reaktionen auf seine Kindheitsschilderung mit Solna-Bezug etwas reservierter ausfielen. Fast könnte man meinen, dass sich der Topos vom schwächeren zweiten Werk nach dem erfolgreichen Durchbruch bewahrheitet hätte. Möglicherweise hängen die Vorbehalte mit dem gewählten Verfahren einer doppelten Authentizitätsvergewisserung zusammen, die den Band auf 474 Seiten haben anschwellen lassen. Dabei werden alternierend mit den autobiographischen Episoden fingierte Interview-Äußerungen von Solna-Bewohnern präsentiert, die unterschiedlichen Generationen und sozialen Schichten angehören. Nur so kann das soziale Spektrum weiter aufgefächert werden, um der beschworenen urbanen Vielfalt das Gewicht gelebter Erfahrung zu verleihen. Auch die historischen Exkurse eines wie aus der Zeit gefallenen Lehrers namens Magister Karlsson, der mit Vorliebe bis zur schwedischen Landhebung und in die Eiszeit ausholt, dienen der Annexion von Geschichte, ebenso die Philosophievorträge des Schachlehrers Backlund, die humoristisch als nicht altersgemäß für die jugendlichen Spieler entlarvt werden. Ihre Berichte überschreiten ostentativ den temporären Horizont der Gegenwart und scheinen damit die populäre Unterstellung, dass sich Vororte durch Geschichtslosigkeit auszeichneten, zu dementieren.

Ein weiteres wirkungsvolles und ästhetisch überzeugenderes Verfahren besteht in der Wiederverwendung bewährter, teilweise dezidiert modernistischer städtischer Darstellungsmuster: Dazu gehören das Spielbrett, das Kreuzworträtsel mit seinen Planquadraten und den sich ineinander schreibenden Wörtern, aber auch die Kästchen von Formularen, die ein Netz bilden, als der Vater des Ich-Erzählers seine Unterlagen für die Steuererklärung auf dem Fußboden ausbreitet. Als der kleine Junge Måns eines Tages das Arbeitszimmer des Vaters betritt, findet er eine eigenartige, geometrische Elemente variierende Stadt-Collage vor, die ihn zunächst an ein Formular erinnert:

„Golvet var klätt i brunt papper, väggarna i plast och däremellan löpte långa bitar av svart tejp. Ljuset föll kallt och klart, starkare än från taklampan, in genom fönstret, och över hela det bruna pappersgolvet och en del av plastväggarna bredde ett oändligt, oförutsägbart mönster med tusen olika färger ut sig i arabesker, blixtlinjer och plötsliga gytter. Först trodde jag att det var deklarationen, som hade flyttat in hit och börjat färglägga, men det var bara medan jag var så upptagen av att stå och stirra på golvet. Det dröjde en stund innan jag riktade blicken uppåt och såg det som fanns fasttejpat på väggarna: Överallt runtomkring mig bredde andra rum, som liknade det här men ändå var någonting helt annat, ut sig i korridorer, hallar och stora salar. I vissa av dem var väggarna klädda av randiga tapeter, i andra var de blanka och vita, i vissa stod det möbler som såg ut att vänta att någon skulle komma och slå sig ned på dem medan åter andra rum var tomma och kala som om ingen någonsin hade varit där.” (S. 106)
(Der Fußboden war mit braunem Papier verkleidet, und die Wände mit Plastikfolie, dazwischen verliefen lange Streifen aus schwarzem Klebeband. Das Licht fiel kalt und gleißend durch das Fenster herein, heller als von der Deckenlampe, und über den gesamten Papierboden und einen Teil der Plastikwände breitete sich ein unendliches, unvorhersehbares Muster aus, in tausend verschiedenen Farben, in Arabesken, Blitzlinien und plötzlichen Verdichtungen. Erst glaubte ich, dass es die Steuererklärung sei, die hier Einzug erhalten und alles eingefärbt hätte, aber das lag nur daran, dass ich mich völlig vom Muster des Fußbodens hatte fesseln lassen. Es dauerte eine Weile, bis ich den Blick nach oben richtete und entdeckte, was an den Wänden festgeklebt war: Überall eröffneten sich neue Räume, die dem vorhandenen hier ähnelten, aber doch etwas ganz anderes waren und sie erweiterten sich zu Korridoren, Fluren und großen Sälen. Einige von ihnen waren mit gestreiften Tapeten versehen, in anderen waren die Wände leer und weiß, in wieder anderen standen Möbel so, als warteten sie darauf, dass jemand sich hinsetzte, während andere Räume kahl und leer waren, als ob nie jemand dort gewesen wäre.)

Die dreidimensionale Papierarbeit und die vorstädtische Architektur bieten sich in einer Verschmelzung dar, die eröffnend wie eine Heterotopie wirkt. In dem ambivalenten Verhältnis von Leere, Transparenz oder Räumlichkeiten, deren Bedeutungsaufladung noch unklar ist, kommt das ästhetische Potential der Vorortlandschaft zum Ausdruck, in einer mehrdeutigen Papier-Architektur, die wegen der genannten Steuerformulare auch auf die bürokratischen Schattenseiten oder die berüchtigte soziale Ingenieurskunst in der sog. Bevormundungsgesellschaft anspielt. Der Ich-Erzähler metaphorisiert Räume des Wohnens und des Lebens, zugleich werden die geometrischen Wandausschmückungen an öffentlichen Bauten (muralmåleri) zitiert, die für die Gestaltung von Gebäudekomplexen aus den 1950er und 1960er Jahren typisch sind. Der künstlerische Entwurf des Vaters repräsentiert utopische Offenheit und Fortschrittsoptimismus – gemessen am Handlungszeitpunkt eigentlich auf eine erstaunlich anachronistische Weise, die möglicherweise gerade als generationsspezifisch herausgearbeitet werden soll.

Der Debütroman ABC-staden widmete sich den formative years des jungen Mannes, der nach Vällingby gezogen war, um dort zu jobben und zu schreiben. Der zentrale Aspekt besteht in der Wahrnehmungsschule der Suburbia, das heißt der Entwicklung von sprachlichen und ästhetischen Sensorien. Dies ist insofern ein dankbares Thema, als Vällingby (1954 eingeweiht) ein stadtplanerisches Museumsobjekt und einen offiziellen Erinnerungsort darstellt. Die ABC-Formel steht symbolisch für die Anfänge des dichterischen Werdegangs und die wechselseitige Bedeutungsaufladung von Stadtteil und Ich-Erzähler während des Schreibprozesses. Stadthistorisch steht die Abkürzung für ARBETE, BOSTAD, CENTRUM, womit die Eigenständigkeit Vällingbys hervorgehoben werden sollte: Dieses stadtplanerische Konzept sollte Arbeitsplätze, Wohnraum, Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten sowie soziale Institutionen bereitstellen und das negative Image eines langweiligen Pendler-Refugiums widerlegen. Während also der Protagonist sein Debüt in der selbstbewussten Satellitenstadt verortet, begibt er sich in Människor i Solna in seine frühe Kindheit zurück. Indem er sich weiter in die Vergangenheit zurückversetzt, scheint die atmosphärische Intensität diesmal noch mehr über die zeitliche Nostalgie als über die stimmungsmäßige Aufladung des Ortes selbst angestrebt. Die als umständlich dargebotene, verlangsamte Wahrnehmung aus Kinderperspektive sorgt dabei für einige Redundanzen.

Die markanten Unterschiede zwischen den beiden Romanen sind darüber hinaus im Erscheinungsbild der beiden dargestellten Vororte begründet: Im Gegensatz zur emblematischen Inszenierung von Vällingby, die sich in der Stadtgeschichte bereits über mehrere Jahrzehnte tradiert hat, stellt Solna topographisch nämlich ein umfassenderes und äußerst heterogenes Areal dar. Dies erklärt sich dadurch, dass das Gebiet sowohl durch Eingemeindungen entstand als auch neu konzipiert und bebaut wurde. Auf eine erste Vorstadtphase in den 1940ern und 1950ern folgte der soziale Wohnungsbau in den 1960er und 1970er Jahren (das sog. Millionenprogramm) – daraus entwickelte sich eine Konglomeratkommune, die 1943 Stadtrecht erhielt. Es handelt sich um einen Stadtteil mit vielen lauten Durchgangsstraßen, Zugtrassen, Asphaltwegen für Radfahrer und Fußgänger, Unterführungen, Laternenreihen – und Inseln älterer Bebauung, niedrigen Mehrfamilienhäusern oder Grünflächen.

Dass der große und der kleine Maßstab in der gebauten Welt nebeneinander existieren, kann sich der Roman bei der Darstellung der frühen Sozialisation des Protagonisten zu Nutze machen. Aus dieser kindlichen Perspektive gibt es sogar einen eigenen Wald, ein Niemandsland und eine Badebucht, wie die luftige spielbrettartige Karte von Solna auf der Innenseite des Einbandes unterstreicht. Dennoch dominieren die Einflüsse der Institutionen, die sowohl Territorien als auch Lebensphasen klar voneinander abgrenzen: So ist beispielsweise die Grundschule biographisch, räumlich und symbolisch markant vom Kindergarten abgerückt, weshalb die temporäre Nutzung von Räumen des Kindergartens durch die Schüler als deren soziale Degradierung erlebt wird. Jede Lebensphase bietet somit bestimmte soziale Identifikationsangebote, die sich stets auch räumlich manifestieren. Eine Heterotopie, die auf die widerspruchsvolle Pubertät vorausweist, ist das Einkaufszentrum Solna Centrum, das vom Protagonisten Måns Wadensjö in den 1990er Jahren noch als spektakulär wahrgenommen wird. Hier wird das ‚Herumhängen‘ geübt, obwohl die Jungen keine klare Vorstellung haben, was dies eigentlich genau bedeuten soll. Mit der leitmotivischen Thematisierung des Altersheimes wird der standardisierte Volksheim-Lebenslauf einer längst vergangenen Ära heraufbeschworen, was den Ich-Erzähler zu einem verspäteten Nostalgiker der Enkelgeneration werden lässt: Sich von der Wiege bis zur Bahre in staatliche Obhut zu begeben, gehört mittlerweile zu den überholten Stereotypen schwedischer Lebensführung.

Die soziale Dimension des Romans scheint weniger politisch geprägt, als Håkan Forsell, Professor für Stadtgeschichte an Stockholms Universität, behauptet. In seinem Artikel über die neuesten literarischen Erkundungen der Peripherie („Älskade tristress – litteraturen vågar sig utanför tullarna“, Svenska Dagbladet, 14.8.2016) bezeichnet er die Verschärfung der sozialen Distinktionen durch kommunale Privatisierungen und einen deregulierten ‚Finanzurbanismus‘ als Schlüsselmerkmale der 1980er und 1990er Jahre und meint, eine entsprechende pointierte Kritik bei Wadensjö ausmachen zu können. Dabei lässt sich der Forscher vermutlich weniger vom Roman als vom aktuellen Erscheinungsbild der Großbaustelle Solna leiten. Für ihn treten im Roman die Nostalgie und der Realismus des Wiedererkennens in den Hintergrund, während Wadensjös Solna zum Exempel für sämtliche Vororte im Post-Wohlfahrtsstaat-Schweden wird. Diese Gemeinsamkeiten in der literarischen Profilierung von Vororten und Vorstädten kristallisieren sich jedoch auch deshalb immer deutlicher heraus, weil die Texte zur Suburbia mittlerweile einen eigenen Kanon ausgebildet haben.

Nicht zuletzt ist Forsells Einschätzung, dass die Darstellung des kollektiven Stadtalltags in Människor i Solna immer anonymer werde, zu widersprechen: Die Interview-Anteile nehmen im Verlauf der Handlung größeren Raum ein, so dass sich parallel zum individuellen Erinnerungsstrang sogar mehrere parallele Handlungsstränge und wiederkehrende Nebenfiguren konstituieren. Bei Wadensjö wird der guten Nachbarschaft und der lokalen Gemeinschaft gehuldigt (vgl. S. 474) – und dies nicht selten mit dem Gestus einer antizipierten Nostalgie. Erhalten die stadtsoziologische, dokumentarische Untersuchung dabei viel Gewicht, ist dies kein Indiz dafür, dass die Autobiographie aus dem Blick geriete. Vielmehr ist festzustellen, dass eine Variante des Kollektivromans geschaffen wird, um ‚Stadt als soziale Größe‘ herauszuarbeiten. In einem Vorort scheint das urbane Kollektiv eben immer noch ein wenig überschaubarer als in der City, und sei es auch im großen Solna.

Måns Wadensjö: Människor i Solna, Stockholm: Bonniers, 2016.
(Antje Wischmann, Uppsala)

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”Schweigekunst”. Linda Boström Knausgård: Välkommen till Amerika (2016)

bostrom_knausgard_valkommen_till_amerika_omslag_inb_0Välkommen till Amerika von Linda Boström Knausgård ist eine Novelle, deren unerhörte Begebenheit in dem selbstgewählten Verstummen eines Mädchens besteht. Die Autorin knüpft an die Kindheitsschilderung ihres ersten Romans Helioskatastrofen (Die Helioskatastrophe 2013) an, die mythologisch vorstrukturiert war. Auch ihrem zweiten Prosawerk geht es um eine produktive Krise. Diesmal richtet sich der Fokus jedoch weder auf psychotische Ausnahmezustände oder Klinikaufenthalte noch die Geburt der Athene aus dem Kopf ihres Vaters, sondern auf ein willentlich erzeugtes Außenseitertum, das ein Kind im Spannungsfeld einer grotesk dysfunktionalen Kernfamilie erprobt.

Ellen verstummt mit elf Jahren für längere Zeit und zieht sich in ihr Zimmer zurück, das mal als Krankenzimmer, mit sich selbst in Bewegung versetzenden Wänden, und mal als „room for one’s own“ fungiert. Die weitgehende Konzentration auf das Interieur macht die Novelle zu einem bedrückenden Kammerspiel, das an die bittersten Strindberg-Dramen erinnert. Die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin wird oft als stream-of-consciousness dargeboten, in einer assoziativen Folge kurzer Sätze, gehäuft auftretenden Ketten von Fragen – intensiviert durch die Ansprache eines Du sowie gelegentliche Tempuswechsel. Das Staccato ruft in Verbindung mit der inszenierten Mündlichkeit den Eindruck eines widerwilligen, verzögerten Sprechens hervor, was auf die zentralen Themen des Schweigens und des Schreibens zu übertragen ist. Ellens extrovertierte Mutter hat ihrer Tochter ein Schreibheft gegeben, um ihr zu ermöglichen, das fehlende Sprechen zu kompensieren. Eine allein therapeutische Instrumentalisierung, wie etwa im Sinne der Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung, steht für Ellen jedoch nicht an erster Stelle. Mehr als der Selbstverständigung dient das Schreiben der sozialen Kommunikation, da Ellen sich eines Tages der Mutter, einer erfolgreichen Schauspielerin, mitteilen möchte, und als Mittel zur Erlangung von Autonomie. Das Schweigen als purer Ausdruck des Willens kann sowohl die suizidale Gefährdung als auch die dämonischen Kräfte des Bruders und Vaters bannen, die der Dunkelheit zugeordnet sind: „Jag hade släppt lös min vilja. Nu kunde vad som helst hända.“ (Ich hatte meinen Willen freigesetzt. Jetzt schien alles möglich. S. 57). Der Bruder hat die Tür zu seinem Zimmer zugenagelt, variiert also die Geste der Isolation.

Eingangs wird die Verweigerung zu sprechen als ein Projekt umschrieben, das am Anfang steht und noch keine nähere Bestimmung hat: „sedan det där med talet“ (das mit dem Sprechen, S. 6). Die Macht von Rede und schriftlicher Äußerung wird erkundet und mit dem biographischen Entwicklungsprozess verknüpft, umrissen in der vagen Formulierung „det där med växandet“ (das mit dem Wachsen/ der Entwicklung, S. 7). Durch die sprachliche Schlichtheit wird wohl auch ein Hineinversetzen in die kindliche Perspektive angedeutet, das konventionelle Substantiv „uppväxt“ (Aufwachsen) wird bezeichnenderweise vermieden. Mit zunehmender Deutlichkeit schält sich allmählich heraus, dass es sich um eine ‚Künstlerinnennovelle‘ handelt, die sich der Legitimierung der Autorschaft widmet. In einigen resümierenden Wendungen kommt zusätzlich die Rückschau einer erwachsenen Person zum Tragen, besonders markant am Ende des Textes: „Det var det här med växandet. Vissa saker hör till vissa åldrar.“ (So war es mit dem Wachsen. Bestimmte Dinge gehören zu einem bestimmten Alter. S. 90).

Die Urszene des Schreibens findet in der Kommunikation mit der Mutter statt: „Jag tog fram skrivboken och en penna. Jag darrade på handen när jag skrev: Skolen brann i dag. Jag gick ut i köket och lade skrivboken på matbordet. Tog tag i mammas arm och pekade på bordet. Hon grät. Mamma grät. Hon tittade på mig med tårarna rinnande utför ansiktet. Kinderna som blev svarta av mascaran som rann i tunna streck. Tack, sa hon och kramade om mig. Jag stod blickstilla inuti omfamningen. Vad hade jag gjort?” (Ich nahm das Schreibheft und den Stift. Meine Hand zitterte als ich den Satz schrieb: Die Schule hat heute gebrannt. Ich ging in die Küche und legte das Schreibheft auf den Esstisch. Ich fasste Mama am Arm und zeigte auf den Tisch. Sie weinte. Mama weinte. Sie sah mich an, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Die Wangen wurde von der Wimperntusche schwarz, die in dünnen Streifen herablief. Danke, sagte sie und nahm mich in den Arm. In der Umarmung stand ich regungslos. Was hatte ich getan?, S. 63). Durch ihre schriftsprachliche Handlung hat Ellen nun doch noch in die Welt eingegriffen.

Mit ihrem verstorbenen Vater, der sich unangenehmerweise in ihr Zimmer geschlichen hat, kommuniziert Ellen ebenfalls schriftlich: „Han måste ut ur rummet. Jag tänkte i några sekunder sedan tog jag skrivboken och skrev: Du är död. Du får inte komma hit. Jag lade skrivboken i hans knä och såg honom läsa. Jaså det är vad du tror. Han skrattade. Eftersom du ber så snällt. Han var borta.” (Er muss aus dem Zimmer heraus. Ich überlegte einige Sekunden, nahm das Schreibheft und schrieb: Du bist tot. Du darfst nicht hierherkommen. Ich legte das Schreibheft auf seinen Schoß und sah wie er las. Aha, das glaubst Du also. Er lachte. Wenn du so nett darum bittest. Er war verschwunden., S. 74)

Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der Werktitel, denn beide Eltern verwenden die Begrüßungsformel, beinahe so, als würden sie Ellens Vorhaben absegnen und als wollten sie vorausschauend dazu beitragen, ihrer Ausnahmetochter den Weg in die Welt (dafür steht „Amerika“) zu ebnen. Wieder ist es zuerst die Mutter, die auf der Bühne von Dramaten das verheißungsvoll unkartierte Gelände Amerikas anpreist: Als derangierte Freiheitsgöttin leuchtet sie den Schutz suchenden Migranten entgegen, obgleich sie ihre Fackel verloren hat (vgl. S. 8). Der Willkommensruf wird vom Vater in einer Traumsequenz wiederholt, als beide Charaktere plötzlich verschmelzen, denn beide sind glatzköpfig, und eine Spiegelscherbe ist in ihre Stirn gedrückt, so dass eine Mutter-Vater-Einheit entworfen wird (vgl. S. 64). Die motivische Anspielung auf die Spaltung von Zeus‘ Schädel, den Geburtsmoment der Athena, wird auf diese Weise auf beide Elternteile ausgeweitet. (Der Vergleich mit Sara Lidmans Athena-Roman Oskuldens minut (Minute der Unschuld 1999) über eine weibliche Erzählbegabung, die sich zuerst als ein freier, nicht korporierter „Wille in der Welt“ manifestiert, der sich Herkunft und Eltern erst noch suchen muss, böte sich an.)

Quelle: Wikimedia

Augenfleckiger Steinbutt Quelle: Wikimedia

Die genealogische Herleitung bleibt jedoch nicht widerspruchslos: Die rückschauende Perspektive und das Wissen im Nachhinein entfalten sich nämlich in einer überraschenden Volte am Schluss, indem das zuvor favorisierte Narrativ, das der mütterlichen Lichtgestalt zugeordnet wurde, radikal in Frage gestellt erscheint: „Jag brukade stanna vid ögonblicken i båten. Tänkte att så skulle det vara för alltid. Pappas leende när min bror förde in ännu en fisk i båten med håven. […] Mamma, alltid rätt klädd för varje tillfälle. Kanske spelade hon alltid teater? Iklädd en sportjakka med håret i en perfekt hästsvans med leendet riktad som mot en osynlig kamera. Hela familjen på utflykt. Kanske var det den där döda piggvaren som låg på ytan, som min bror absolut ville ta in i båten, för att den såg ut som om den levde, som var det första tecknet på att allt inte stod rätt till? Den stinkande fisken som sjöfåglarna ätit av och som vi inte visste vad vi skulle göra med när vi väl fått den ombord på båten. […] Vad skulle vi göra nu? Vad skulle vi göra med varandra? ” (Immer wieder blieben meine Gedanken an dem besonderen Moment auf der Bootsfahrt hängen. Dachte daran, dass es für immer so sein sollte. Pappas Lächeln, als mein Bruder noch einen Fisch mit dem Kescher ins Boot holte. […] Mamma, wie immer der Situation entsprechend angezogen. Vielleicht spielte sie immer Theater? In einem Anorak, mit einer perfekten Pferdeschwanz-Frisur und einem Lächeln, wie auf eine unsichtbare Kamera hin ausgerichtet. Die ganze Familie auf einem Ausflug. War vielleicht der tote Steinbutt, der an Deck lag und den mein Bruder unbedingt ins Boot bekommen wollte, weil er lebendig wirkte, das erste Anzeichen dafür gewesen, dass etwas nicht stimmte? Der stinkende Fisch, von den Seevögeln angefressen, mit dem wir nichts anzufangen wussten, nachdem wir ihn an Bord geholt hatten? […] Was sollten wir nun machen? Was sollten wir miteinander machen? S. 91f.)

Das klaustrophobische Interieur wird mit dieser Erinnerungsszene an frühere Urlaube zu viert aufgebrochen, und das schicksalshafte Störungsmoment außerhalb der familiären Konstellation verortet. Der deformierte Fisch entfaltet sich wie ein Fluch, während Ellens Mutter sogleich alle Kräfte der Verdrängung mobilisiert (vgl. S. 92). Das Aussehen des Fisches, seine dunklere, mit Tarnungsmuster versehene Oberseite und seine helle Unterseite machen ihn zu einem Symbol, das auf die familiären Antinomien genau abgestimmt ist. Der Ring schließt sich in der Novelle gerade nicht, sondern es wird eine Umwertung der geschilderten Ereignisse erzwungen.

Mit Autofiktion hat dieser streng komponierte Text wenig zu tun, und doch strahlen Gattungsmerkmale aus dem sechsbändigen Min kamp-Zyklus (2009-11) von Karl Ove Knausgård herüber. Das Titelbild-Foto zeigt eine jüngere Frau mit einem stabähnlichen Gebilde in der linken Hand, wenn man den unscharfen Vordergrund des Bildes genauer betrachtet, als Selfie-Stick identifizierbar. Dennoch hat die Person ihr Gesicht komplett abgewandt. In dieser paradoxen Bewegung bestätigt sich die autofiktionale Selbstbespiegelung, dementiert sie aber auch zugleich – vielleicht als ein visuelles Pendant zum Schreiben unter Beibehaltung des Schweigens.

Die Spiegelscherbe, die in Välkommen till Amerika die kahlen Schädel beider Elternfiguren spaltet, spielt in Min kamp eine Rolle für die selbstzerstörerischen Seiten des jungen Karl Ove, der sich Schnittverletzungen im Gesicht zufügt. Jenseits der überraschend verwendeten mythologischen oder symbolischen Querverweise ist auf alle Fälle die in beiden Werken wiederholt genannte Blaubeer-Dickmilch hervorzuheben, die die Knausgård-Kinder in Min kamp beinahe zwanghaft zum Frühstück verlangen.

Es liegt zwar nahe, die Werke des Ehepaars aufeinander zu beziehen; eine polyloge Vernetzung ergibt sich jedoch nicht, stehen sich doch mythische Muster und konzentrierte Verdichtung auf der einen Seite und Essay, Flow, ausufernder Text sowie die Montage heterogener Materialen auf der anderen gegenüber.

Eine gewichtigere thematische Gemeinsamkeit besteht allerdings in der Auseinandersetzung mit dem depressiven und alkoholisierten Vater. Die Ich-Erzählerin bei Boström Knausgård stellt ihr Außenseitertum explizit als Erbe ihres Vaters dar (vgl. S. 5), womit Künstlerschaft und bipolares Syndrom eine unauflösliche Einheit bilden. Für den direkten Vergleich erschiene indessen Beate Grimsruds Roman En dåre fri (Verrückt und frei, 2011) viel ergiebiger, denn diese Autorin verlängert ihre Selbstvergewisserung als Autorin ebenfalls bis in die Krankheitsgeschichte von Kindheit und Jugend zurück. Grimsruds Text legt aber größeren Wert auf die Herausarbeitung des Konstruktionsprozesses und die Erinnerungsakte. Bei Boström Knausgård verrät die fein austarierte Gesamtkomposition, wie die Elemente autobiographischer Erinnerung während des Schreibprozesses fortlaufend auf die zukünftige Autorschaft hin ausgerichtet werden.

Indem die paradoxen und spannungsvollen Gegensätze von Licht und Dunkel (auch Eros und Thanatos) kontinuierlich als planvolle Strukturierungen hervortreten, und indem das Schreiben gewagt und das Schweigen zugleich aufrechterhalten wird, signalisiert Välkommen till Amerika ein Selbstverständnis als modernistische Außenseiterautorin.

Linda Boström Knausgård: Välkommen till Amerika, Stockholm: Modernista, 2016.
(Antje Wischmann, Uppsala)

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Glück und Schuld der ›global tourists‹. Kirsten Hammann: Alene hjemme (2015)

hamman»Sara er forkert, og det er ikke bare en følelse, det er både synligt og målbart, at hun er anderledes i forhold til andre. Hendes skelet er forkert vokset sammen, så det er helt skævt, knoglerne vender den forkerte vej og stikker ud de forkerte steder […] Hun har gået til læge og fysiolog, afspændingspædagog og massage, gymnastik, mensendieck, rolfing, yoga, zoneterapi, body-sds, alexanderteknik, akupunktur, osteopat, homøopat og heilpraktiker, men lige meget hjælper det.« (5)

»Sara ist verkehrt, und das ist nicht nur ein Gefühl, das ist sowohl sichtbar als auch messbar, dass sie anders ist als andere. Ihr Skelett ist verkehrt zusammengewachsen, so dass es ganz schief ist, die Knochen gehen in die falsche Richtung und treten an den falschen Stellen hervor [..] Sie ist zum Arzt und zum Physiologen gegangen, zum Entspannungspädagogen und zur Massage, Gymnastik, Mensendieck, Rolfing, Yoga, Zonentherapie, Körper SDS, Alexandertechnik. Akupunktur, zum Osteopathen, Homöopathen und Heilpraktiker, aber es hilft alles nichts.«

Der Textanfang stellt uns nicht nur die Hauptperson des Romans, sondern auch die nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge im dänischen Wohlfahrtsstaat vor. Die personale Erzählperspektive impliziert eine Ambivalenz von sympathetischer Nähe zur Protagonistin und durch Übertreibung evozierte ironische Distanz. Diese Art des Erzählens ist typisch für Kirsten Hammann, und auch diese Art von Heldin kennt man schon aus ihren früheren Romanen (seit Vera Vinkelvir, 1993), was manche Rezensenten kritisch anmerken. Obwohl Hammann eine der erfolgreichsten und wichtigsten dänischen Gegenwartsautorinnen ist, muss sie für ihr um handlungsunfähige weibliche Protagonisten zentriertes Werk häufig Kritik einstecken. Die Rezensenten sind sich auch in der Bewertung ihres jüngsten Romans nicht einig; schon bei der Frage nach der Gattungsbezeichnung changieren sie zwischen Groteske, Krimi, Chicklit und »samtidsroman der spidder tidsånden« (Kamilla Löfström in: Information 27.2.2015; »Gegenwartsroman, der den Zeitgeist trifft«). Die einen zeigen sich amüsiert über Hammanns frechen Ton (man habe »den største fornøjelse ved at læse Hammann: hendes hedenske humor, det djævelske drilleri« – Lise Garsdal in: Politiken 26.2.2015; »das größte Vergnügen Hammann zu lesen: ihr heidnischer Humor, ihre teuflische Neckerei«), andere beklagen die klischeehafte Übertreibung, die zu offensichtlich und zu langatmig sei, um den Leser wirklich herauszufordern (Morten Kyndrup in: Standart 3.10.2015).

Die Handlung ist in der Tat schnell erzählt: Es geht um die 38-jährige Sara, ihre Beziehung zu dem in Scheidung lebenden Philip und seinen beiden Töchtern, die jedes zweite Wochenende bei ihnen verbringen, sowie der höchst attraktiven Nachbarin Frederikke, die immer mehr in ihr Dasein eindringt. Obwohl Saras Leben durch einen hohen Lebensstandard, eine schöne Wohnung und eine funktionierende Beziehung ausgefüllt zu sein scheint, zweifelt und verzweifelt sie an allem. Sie findet sich hässlich, langweilt sich, wünscht sich ein eigenes Kind und antizipiert Philips Untreue und das Ende der Beziehung. Ihre Suche nach dem perfekten Glück wird durch ihre ständigen Selbstzweifel verstellt, die sich in einer konstanten Selbstbeobachtung Ausdruck geben: »Hun vakler foroverbøjet ind gennem stuen. ›Jeg vakler foroverbøjet‹ tænker hun og lægger sig på sofaen« (104; »Sie wackelt nach vorne gebeugt durch das Zimmer. ›Ich wackele nach vorne gebeugt‹, denkt sie«). Ihr Leben wird zu einem Rollenspiel, in dem sie immer das Schlimmste annimmt. So kann es kaum verwundern, dass alle ihre Befürchtungen in Bezug auf die Beziehung im Stile einer self-fulfilling prophecy schließlich eintreten: Saras zunächst absurd scheinende Eifersucht erweist sich im Nachhinein als berechtigt – das erwünschte Kind bekommen Philip und Frederikke.

Ihre emotionale Instabilität betrifft jedoch nicht nur den engsten privaten Bereich, sondern erstreckt sich auch auf globale Zusammenhänge: »Sara er bange. Jorden gik ikke under i 2012, som mayaerne mente, men ifølge fremtidsforskeren John L. Petersen havde de ret i, at det blev et vendepunkt« (9; »Sara hat Angst. Die Welt ist 2012 nicht untergegangen, wie die Maya meinten, aber dem Zukunftsforscher John L. Petersen zufolge hatten sie recht damit, dass es ein Wendepunkt war«). Sara sorgt sich also nicht nur um sich selbst, sondern um die Zukunft der Welt; während sie abspült, fühlt sie sich schuldig gegenüber »alle dem, der mangler rent drikkevand« (23; »all denen, die kein sauberes Trinkwasser haben«), und während sie Salat zubereitet, um sich gesund zu ernähren, stellt sie sich den Zusammenbruch der Nahrungsversorgung und des gesamten Wohlfahrtsstaats vor. Während die Lesenden derartige Schuldgefühle durchaus kennen, lassen die Übertreibungen eine ironische Distanz entstehen, die auf die als unangemessen dargestellte Sorge der Wohlfahrtsstaatbürgerin um den Zustand der Welt abzielen soll. Das ist vor allem deswegen der Fall, weil es für sie keinen Unterschied macht, ob sie sich um ihr Aussehen, ihren Kinderwunsch oder um den Klimawandel und globalen Wassermangel Gedanken macht. Der Roman erzielt seine kritische Dimension also aus einer Nivellierung der Problemstellungen, die allesamt in eine egozentrische Perspektive überführt werden. Die vorgebliche Sorge um die Welt wird auf diese Weise als sentimental und »hopelessly private« (vgl. Vivasvan Soni: Mourning Happiness, 2010) entlarvt.

Saras Ängste um die Zukunft, vor allem aber ihre Unzufriedenheit mit dem Leben veranlassen ihren Freund Philip, ihr eine Reise zu schenken, die sie selbstbewusster und glücklicher machen soll. Das von Sara ausgewählte Ziel ist Bhutan, durch die Fernreise bekommt die globale Perspektive nun eine konkrete Verankerung in Saras Leben. Zum Glücklichsein gibt Bhutan in besonderer Weise Anlass. In diesem Land hat man das Messen des Bruttonationalglücks (BNG) eingeführt, das den Lebensstandard in einer neuen, humanistischen Weise definieren sollte. Der Ausdruck wurde 1979 von Jigme Singye Wangchuck, dem damaligen König von Bhutan, geprägt, um dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, einem ausschließlich materiell und ökonomisch bestimmten Maß, einen ganzheitlicheren Bezugsrahmen gegenüberzustellen. In diesem Sinne entwirft Alene hjemme eine triadische Relation von Globalisierung, Schuld und Glück, die gängige Vorstellungen vom aktuellen globalen Tourismus aufgreift: Er enthält ein Glücksversprechen und bringt doch in der Konfrontation mit der Alterität des ›global south‹ Unbehagen und Schuldgefühle der Bessergestellten hervor. Eine ähnliche Problematik wurde übrigens auch in Kirsten Thorups Roman Tilfældets Gud (2011) umgesetzt.

Erstaunlich ist nun aber, dass in dem über 300 Seiten langen Roman der Bericht über die Ferien in Bhutan ausgespart bleibt. Während wir am Ende des dritten Kapitels im Detail erfahren, dass sich die Protagonistin für die Reise Sonnenbrille, Rucksack und Wanderschuhe kauft, beginnt das vierte Kapitel mit dem knappen Satz »Fire uger senere« (88; »Vier Wochen später«) – das touristische Erlebnis stellt eine signifikante Leerstelle im Roman dar. Zwar berichten die folgenden Seiten von jetlag und Müdigkeit und reißen auch ein paar Erzählungen an, die allerdings seltsam leer bleiben: »hun siger hele tiden ordet ›fantastisk‹, det var ›fantastisk‹, hun er så glad, og ›eventyr‹, det var et ›eventyr‹« (91; »sie sagte die ganze Zeit das Wort ›phantastisch‹, es war ›phantastisch‹, sie ist so froh, und ›Abenteuer‹, es war ein ›Abenteuer‹«). Der Bericht der Reise selbst reduziert sie auf den passiven Status des typischen package-tourist: »Lander med et bump i Wien, af sted, af sted, […] Kom ind! Gå ud! Næste! Og så spytter Københavns lufthavn hende ud fra bagagebåndet« (88-89; »Landet mit einem Rumms in Wien, weiter, weiter […] Komm rein! Geh raus! Nächster! Und dann spuckt der Kopenhagener Flughafen sie am Gepäckband aus«). Ebenso touristentypisch wie die Passivität der Pauschalreisenden ist das Thema Souvenirs, durch die Sara versucht, ihr Ferienerlebnis zu teilen und zu bewahren, doch die mitgebrachten Gebetstücher mit den bunten Farben Bhutans verblassen buchstäblich in der Waschmaschine. Der Tourismus wird auf diese Weise seiner Glücksverheißung beraubt, das Abenteuer, der Ausstieg aus der Zeit (vgl. Georg Simmel: »Das Abenteuer«, 1911) ist nicht nur sehr kurzfristig, sondern die touristische Reise hat keinerlei Konsequenzen für das Alltagsleben und die Persönlichkeit der Hauptperson. Auch in dieser Beziehung stellt der Tourismus eine Leerstelle dar, die durch die erzählerische Lücke markiert wird. Die Bhutan-Reise besteht lediglich aus unruhiger Vorfreude und erschöpfter Erinnerung. Die Zeitstruktur des Romans erlaubt kein momentbezogenes situationales Glück, es ist immer ins Unbestimmte hin aufgeschoben. Die erzählerische Enthaltsamkeit bedeutet aber auch, dass der Charakter Bhutans als etwas Geheimnisvolles bewahrt bleibt; er wird nicht durch die Augen einer westlich geprägten Erzählerin überformt dargestellt. Die touristische Aneignung wird nicht in die Erzählung überführt, sondern als ohnehin vergeblich markiert. Der Zusammenhang von Tourismus und Glück wird deutlich negiert.

Wie schon in En dråbe i havet (2008) konfrontiert Hammann in dem ihr eigenen witzigen Jargon die überzogenen Selbstzweifel der Wohlfahrtsstaat-Bürgerin mit einer globalen Perspektive, konfrontiert Glücksstreben und Schuldgefühle. Man darf sich also durch den egozentrischen Ton und die pathetischen Beziehungsprobleme des Romans nicht täuschen lassen – er geht durchaus über die gängigen chicklit-Anliegen hinaus. Doch kann man sich fragen, ob die durchgehende Ironisierung nicht auch auf die ernsten Themen zurückwirkt und nicht nur Sara, sondern auch die von ihr aufgerufenen Problemstellungen unfreiwillig relativiert.

Kirsten Hamman: Alene Hjemme,  Kopenhagen: Gyldendal, 2015.
(Annegret Heitmann, München)

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