Christina Hesselholdt: Vivian (2016)

Buchcover Christina Hesselholdt VivianEin Interesse für Fotografie war schon in Christina Hesselholdts Debütwerk Køkkenet, gravkammeret & landskabet (1991) erkennbar, das sie zusammen mit den beiden Folgetexten der sog. Marlon-Trilogie zu einer der führenden Minimalistinnen der 1990er Jahre machte. Es überrascht daher nicht, dass sie in ihrem jüngsten Werk Vivian zur Fotografie zurückkehrt und dieser jetzt eine tragende Rolle gibt. Doch nicht nur in Bezug auf diese Thematik, sondern auch stilistisch und strukturell stellt dieser Text eine konsequente Fortsetzung von Hesselholdts bisherigem literarischem Projekt dar: Wiederum spielt die Erkundung der Kindheit und der Psyche eine große Rolle, wiederum sind ihre Figuren von Stummheit umgeben. Auch die ästhetischen Mittel sind in ihren vorhergehenden Werken bereits erprobt worden: Die fragmentarische Form und der mosaikartige Aufbau charakterisierten u.a. das autobiographische Buch Hovedstolen (1998), das Dialogische bestimmte die Struktur von Eks (1995) und ihrer jüngsten Serie über Camilla (2008-2012). Eine völlig neue Dimension bekommen die charakteristischen Mittel Hesselholdts, die bislang überwiegend autobiographisch fundiert waren, aber durch ihre Anwendung auf eine reale Biographie: die Lebensgeschichte Vivians Maiers.

»Vivian er en roman om den amerikanske gadefotograf Vivian Maier (1926-2009)« (Vivian ist ein Roman über die amerikanische Straßenfotografin Vivian Maier (1926-2009)), lautet der lakonische Klappentext auf der Rückseite des Buches. Der durch ihre Lebensgeschichte vorgegebene Stoff ist mehr als einen Roman wert: Allein der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über Maier enthält 7500 Wörter und 80 Fußnoten und bietet neben vielen Fakten auch Rätsel und Kontroversen bezüglich des Lebens und des Werks von Maier. Sie war die Tochter einer französischen Mutter und eines aus Österreich stammenden Vaters und wuchs in New York auf; einige Jahre ihrer Jugend verbrachte sie in Südfrankreich, im späteren Leben wohnte sie überwiegend in Chicago. Die Familienverhältnisse waren schwierig und von Armut geprägt, der Vater war Alkoholiker und verließ die Familie, als Vivian noch ein kleines Kind war; ihr jüngerer Bruder hatte zeitlebens mit psychischer Krankheit und Drogenproblemen zu kämpfen. In den 1940er Jahren begann Vivian Maier zu fotografieren, und bis zu ihrem Tod entstanden – so schätzt man heute – ungefähr 150.000 Fotografien, die vor allem das städtische Leben in New York und Chicago dokumentieren: Menschen, Gebäude, Alltagsszenen, spielende Kinder und auch eine Vielzahl ausdrucksvoller Selbstporträts. Als bedeutende Vertreterin der sog. street photography wurde Maier jedoch erst nach ihrem Tod entdeckt, vorher hatte niemand ihre Bilder zu Gesicht bekommen. Ein sehr großer Teil der enormen Zahl ihrer Fotos war nicht einmal entwickelt worden: Bei einer Zwangsversteigerung im Jahre 2007 wurden die bislang unbekannten Filmrollen entdeckt und 2008 erstmals zugänglich gemacht. Seitdem hat es etliche Werkausstellungen gegeben, eine rege Maier-Forschung, aber auch umfassende Rechtsstreitigkeiten über den Nachlass und künstlerische wie finanzielle Kontroversen über die Vermarktung des Werks.

Der letztgenannte Aspekt liegt außerhalb des Fokus von Hesselholdts Darstellung. Sie interessiert sich auch kaum für die technischen Seiten der Fotografie, Maiers Kameras, ihre ästhetische Entwicklung (während der überwiegend Teile ihrer Bild Schwarz-Weiß- Fotografien sind, arbeitete sie in späteren Jahren auch mit Farbe) oder ihre Experimente mit Licht, Spiegeln oder Bildbegrenzungen. Ihr Interesse liegt eindeutig auf der biographischen Darstellung, die aus einem Mosaik von Stimmen hervorgeht, in dem neben der Hauptfigur Vivian u.a. ihre Mutter, eine Tante, die Fotografin Jeanne Bertrand, bei der Mutter und Tochter zeitweise gewohnt haben, eine Rolle spielen. Durch die Zersplitterung der Annäherung entsteht ein Bild von Maiers Leben, das das Vielschichtige und Enigmatische ihrer Persönlichkeit mit den vielen Namen (Viv, Vivian, Kiki, Miss Maier, V. Smith) zu bewahren versucht. Großen Raum in dem mehrstimmigen Szenario erhält die fiktive Familie Rice (Peter, Sarah und die Tochter Ellen), die für eine der Familien steht, bei denen die reale Vivian Maier als Kindermädchen arbeitete. Über viele Jahre hinweg bestritt die Einzelgängerin so ihren Lebensunterhalt: Mit geringem Einkommen, aber in gutsituierten Familien lebend, verbrachte sie ihre Tage mit deren Kindern, was ihr erlaubte, die Stadt zu durchstreifen und unablässig zu fotografieren. So sammelte sie Gesichter, Situationen, Porträts, Stadtbilder und Armutsszenen, aber sie sammelte auch alte Zeitungen, Quittungen, Koffer, Schachteln, Nippes und Gerümpel, sie war offenbar, wie man heute sagen würde, ein Messi und umgab sich mit einer Fülle von Gegenständen, unter denen eben auch ihre Bilder und unzähligen Filmrollen waren.

Vivian Maier tritt als eine schwierige Persönlichkeit hervor, die sicher kein ideales Kindermädchen, keine Mary Poppins war (S. 30). Ihr Leben wird nicht chronologisch dargestellt, es gibt immer wieder Vor- und Rückgriffe. Ein Schwerpunkt des in drei Teile gegliederten Romans liegt auf der Kindheit der Porträtierten. Der weitaus längste erste Teil verwebt Stimmen aus der Kindheit mit der Zeit als Kindermädchen der Familie Rice. Manche der Stimmen, z.B. die von Sarah Rice, werden so ausführlich repräsentiert, dass auch ihr Leben beleuchtet wird. Im zweiten Teil wird die Fotografin Jeanne Bertrand eingeführt und die Zeit der Kinderjahre in Frankreich fokussiert. Im kurzen letzten Teil des Buches tritt dann die Erzählerin in den Vordergrund, die einen Dialog mit Vivian führt. Sie stellt eine der vielen Stimmen des Romans dar, die manchmal kommentiert, Hintergründe erklärt und Bruchstücke zusammenfügt: »Og nu et mægtigt spring frem til 1968.« (S. 13; Und jetzt ein mächtiger Sprung vorwärts in das Jahr 1968). Sie ergänzt Informationen zur politischen und sozialen Situation in den USA, rückt einzelne Äußerungen der anderen Stimmen zurecht und greift gelegentlich auch ironisierend ein.

Die Erzählerstimme macht auch die Motivation für das Romanprojekt insgesamt deutlich, sie fügt also dem Text eine selbstreflexive Dimension hinzu. Deutlich wird der Anlass für das Interesse an Maier durch eine Ausstellung in Dunkers Kulturhus in Helsingborg motiviert, die im Frühjahr 2016 stattfand und das fotografische Werk erstmals in Skandinavien präsentierte. Während die Erzählstimme erklärt, sie sei nicht an der fotografischen Technik interessiert (»forvent ikke ord som eksponeringstid mørkekammer kontaktark fra min mund«, 38; erwarte keine Wörter wie Belichtungszeit Dunkelkammer Kontaktabzug aus meinem Mund), ist das von Roland Barthes inspirierte »det-har-været-følelse« (126; so-ist-es-gewesen-Gefühl) ein sie antreibender Ausgangspunkt. Skeptisch gegenüber der Statik des Objekts, die das Medium zur Darstellung bringt, und gegenüber der Endlichkeitserfahrung, die von der Fotografie ausgeht, nähert sie sich dieser Fotografin und ihrem Werk an. Viele ihrer Bilder werden ekphrastisch aufgerufen, sie lassen sich bei Kenntnis des Werks problemlos wiedererkennen (vgl. eine Auswahl der Bilder auf www.vivianmaier.com), d.h. die verbale Repräsentation evoziert nachvollziehend den Gegenstand des Fotos, doch der künstlerische Gehalt des fotografischen Werks wird dabei vernachlässigt.

Der Dialog zwischen Viv und der Erzählerin im letzten Teil des Romans ruft den alten Wettstreit der Künste wieder wach, den die Erzählerin zugunsten der Sprache entscheiden möchte: »et fotografi kan ikke gribe hele den menneskelige Tilstandsform, men det kan skrift« (128; eine Fotografie kann nicht die gesamte Zustandsform des Menschen ergreifen, aber das kann Schrift). Dem Bildmedium fehle die zeitliche Dimension, so die Erzählerin von Hesselholdts Roman, die allerdings auf Vivians Frage, warum sie überhaupt nicht über die Komposition der Bilder spreche, keine rechte Antwort weiß (187). Ihre Meinung ist: »Kun det der fortæller kan få en til at forstå den omskiftelighed som er liv« (129; Nur das, was erzählt, kann einen dazu bringen, die Veränderlichkeit zu verstehen, die das Leben ausmacht). So ist es kein Wunder, dass der ästhetische Wettstreit im letzten Teil des Buches dann wieder einmündet in die dominante psychologische Ebene, der Hesselholdts Interesse vorrangig gilt – der Roman schließt mit einem imaginären Treffen von Vivian und ihrem in einer psychiatrischen Anstalt lebenden Bruder. Weder der soziale Kommentar der street photography noch – das vermag zu erstaunen – die vielen bedeutsamen Selbstporträts der Fotografin haben die Autorin herausgefordert, diesen Roman zu schreiben, sondern für sie ist Vivian Maiers rätselhaftes Leben und Werk Ausdruck der unergründlichen menschlichen Psyche, die in der Kindheit angelegt wird. Doch läuft nicht die Ästhetik der Vielstimmigkeit, die gewählt wurde, um das Enigmatische des Lebens zu bewahren, der von der Erzählerin favorisierten narrativen und zeitlich ausgedehnten Repräsentation des Lebens gerade entgegen? Der Erzählverlauf besteht eher aus Schnappschüssen und gleicht damit der Fotografie, über die dieses Buch zu wenig Neues aussagt.

Christina Hesselholdt: Vivian. Roman. København: Rosinante, 2016.
(Annegret Heitmann, München)

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Nicht-nivellierte Vororte. Måns Wadensjö: Människor i Solna (2016)

manniskorisolnaWer mit Ende Zwanzig autobiographische Aufzeichnungen verfasst, hat mit zu gleichen Teilen skeptischen wie erwartungsvollen Reaktionen zu rechnen. Der Autor und Journalist Måns Wadensjö (geb. 1988) verknüpft in seinen beiden Vorstadtromanen von 2011 und 2016 autobiographische Episoden mit der historisch-atmosphärischen Aufarbeitung zweier Stockholmer Vororte, die aus seiner Perspektive für die alltäglichen Wahrnehmungen der Städter und für die soziale Interaktion einstehen. Die Sichtbarmachung von Vällingby im Roman ABC-staden (Die ABC-Stadt) und jetzt von Solna in Människor i Solna (Menschen in Solna) bezieht sich einerseits auf die eher unscheinbare Peripherie, deren heutiger intensiver Austausch mit der innerstädtischen Zirkulation den Status eines Außerhalb inzwischen aufgehoben hat. Andererseits wird auch ein Debütant sichtbar, geht es doch auch um die Selbstermächtigung zur Autorschaft kraft der Stockholmer Stadt(teil)geschichte.

Die wechselseitige Erhellung von Autobiographie und Geschichte der Suburbia scheint insgesamt bisher von Erfolg gekrönt. Wadensjö erhielt wohlwollendes Feedback auf seine Vällingby-Erkundung, während die Reaktionen auf seine Kindheitsschilderung mit Solna-Bezug etwas reservierter ausfielen. Fast könnte man meinen, dass sich der Topos vom schwächeren zweiten Werk nach dem erfolgreichen Durchbruch bewahrheitet hätte. Möglicherweise hängen die Vorbehalte mit dem gewählten Verfahren einer doppelten Authentizitätsvergewisserung zusammen, die den Band auf 474 Seiten haben anschwellen lassen. Dabei werden alternierend mit den autobiographischen Episoden fingierte Interview-Äußerungen von Solna-Bewohnern präsentiert, die unterschiedlichen Generationen und sozialen Schichten angehören. Nur so kann das soziale Spektrum weiter aufgefächert werden, um der beschworenen urbanen Vielfalt das Gewicht gelebter Erfahrung zu verleihen. Auch die historischen Exkurse eines wie aus der Zeit gefallenen Lehrers namens Magister Karlsson, der mit Vorliebe bis zur schwedischen Landhebung und in die Eiszeit ausholt, dienen der Annexion von Geschichte, ebenso die Philosophievorträge des Schachlehrers Backlund, die humoristisch als nicht altersgemäß für die jugendlichen Spieler entlarvt werden. Ihre Berichte überschreiten ostentativ den temporären Horizont der Gegenwart und scheinen damit die populäre Unterstellung, dass sich Vororte durch Geschichtslosigkeit auszeichneten, zu dementieren.

Ein weiteres wirkungsvolles und ästhetisch überzeugenderes Verfahren besteht in der Wiederverwendung bewährter, teilweise dezidiert modernistischer städtischer Darstellungsmuster: Dazu gehören das Spielbrett, das Kreuzworträtsel mit seinen Planquadraten und den sich ineinander schreibenden Wörtern, aber auch die Kästchen von Formularen, die ein Netz bilden, als der Vater des Ich-Erzählers seine Unterlagen für die Steuererklärung auf dem Fußboden ausbreitet. Als der kleine Junge Måns eines Tages das Arbeitszimmer des Vaters betritt, findet er eine eigenartige, geometrische Elemente variierende Stadt-Collage vor, die ihn zunächst an ein Formular erinnert:

„Golvet var klätt i brunt papper, väggarna i plast och däremellan löpte långa bitar av svart tejp. Ljuset föll kallt och klart, starkare än från taklampan, in genom fönstret, och över hela det bruna pappersgolvet och en del av plastväggarna bredde ett oändligt, oförutsägbart mönster med tusen olika färger ut sig i arabesker, blixtlinjer och plötsliga gytter. Först trodde jag att det var deklarationen, som hade flyttat in hit och börjat färglägga, men det var bara medan jag var så upptagen av att stå och stirra på golvet. Det dröjde en stund innan jag riktade blicken uppåt och såg det som fanns fasttejpat på väggarna: Överallt runtomkring mig bredde andra rum, som liknade det här men ändå var någonting helt annat, ut sig i korridorer, hallar och stora salar. I vissa av dem var väggarna klädda av randiga tapeter, i andra var de blanka och vita, i vissa stod det möbler som såg ut att vänta att någon skulle komma och slå sig ned på dem medan åter andra rum var tomma och kala som om ingen någonsin hade varit där.” (S. 106)
(Der Fußboden war mit braunem Papier verkleidet, und die Wände mit Plastikfolie, dazwischen verliefen lange Streifen aus schwarzem Klebeband. Das Licht fiel kalt und gleißend durch das Fenster herein, heller als von der Deckenlampe, und über den gesamten Papierboden und einen Teil der Plastikwände breitete sich ein unendliches, unvorhersehbares Muster aus, in tausend verschiedenen Farben, in Arabesken, Blitzlinien und plötzlichen Verdichtungen. Erst glaubte ich, dass es die Steuererklärung sei, die hier Einzug erhalten und alles eingefärbt hätte, aber das lag nur daran, dass ich mich völlig vom Muster des Fußbodens hatte fesseln lassen. Es dauerte eine Weile, bis ich den Blick nach oben richtete und entdeckte, was an den Wänden festgeklebt war: Überall eröffneten sich neue Räume, die dem vorhandenen hier ähnelten, aber doch etwas ganz anderes waren und sie erweiterten sich zu Korridoren, Fluren und großen Sälen. Einige von ihnen waren mit gestreiften Tapeten versehen, in anderen waren die Wände leer und weiß, in wieder anderen standen Möbel so, als warteten sie darauf, dass jemand sich hinsetzte, während andere Räume kahl und leer waren, als ob nie jemand dort gewesen wäre.)

Die dreidimensionale Papierarbeit und die vorstädtische Architektur bieten sich in einer Verschmelzung dar, die eröffnend wie eine Heterotopie wirkt. In dem ambivalenten Verhältnis von Leere, Transparenz oder Räumlichkeiten, deren Bedeutungsaufladung noch unklar ist, kommt das ästhetische Potential der Vorortlandschaft zum Ausdruck, in einer mehrdeutigen Papier-Architektur, die wegen der genannten Steuerformulare auch auf die bürokratischen Schattenseiten oder die berüchtigte soziale Ingenieurskunst in der sog. Bevormundungsgesellschaft anspielt. Der Ich-Erzähler metaphorisiert Räume des Wohnens und des Lebens, zugleich werden die geometrischen Wandausschmückungen an öffentlichen Bauten (muralmåleri) zitiert, die für die Gestaltung von Gebäudekomplexen aus den 1950er und 1960er Jahren typisch sind. Der künstlerische Entwurf des Vaters repräsentiert utopische Offenheit und Fortschrittsoptimismus – gemessen am Handlungszeitpunkt eigentlich auf eine erstaunlich anachronistische Weise, die möglicherweise gerade als generationsspezifisch herausgearbeitet werden soll.

Der Debütroman ABC-staden widmete sich den formative years des jungen Mannes, der nach Vällingby gezogen war, um dort zu jobben und zu schreiben. Der zentrale Aspekt besteht in der Wahrnehmungsschule der Suburbia, das heißt der Entwicklung von sprachlichen und ästhetischen Sensorien. Dies ist insofern ein dankbares Thema, als Vällingby (1954 eingeweiht) ein stadtplanerisches Museumsobjekt und einen offiziellen Erinnerungsort darstellt. Die ABC-Formel steht symbolisch für die Anfänge des dichterischen Werdegangs und die wechselseitige Bedeutungsaufladung von Stadtteil und Ich-Erzähler während des Schreibprozesses. Stadthistorisch steht die Abkürzung für ARBETE, BOSTAD, CENTRUM, womit die Eigenständigkeit Vällingbys hervorgehoben werden sollte: Dieses stadtplanerische Konzept sollte Arbeitsplätze, Wohnraum, Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten sowie soziale Institutionen bereitstellen und das negative Image eines langweiligen Pendler-Refugiums widerlegen. Während also der Protagonist sein Debüt in der selbstbewussten Satellitenstadt verortet, begibt er sich in Människor i Solna in seine frühe Kindheit zurück. Indem er sich weiter in die Vergangenheit zurückversetzt, scheint die atmosphärische Intensität diesmal noch mehr über die zeitliche Nostalgie als über die stimmungsmäßige Aufladung des Ortes selbst angestrebt. Die als umständlich dargebotene, verlangsamte Wahrnehmung aus Kinderperspektive sorgt dabei für einige Redundanzen.

Die markanten Unterschiede zwischen den beiden Romanen sind darüber hinaus im Erscheinungsbild der beiden dargestellten Vororte begründet: Im Gegensatz zur emblematischen Inszenierung von Vällingby, die sich in der Stadtgeschichte bereits über mehrere Jahrzehnte tradiert hat, stellt Solna topographisch nämlich ein umfassenderes und äußerst heterogenes Areal dar. Dies erklärt sich dadurch, dass das Gebiet sowohl durch Eingemeindungen entstand als auch neu konzipiert und bebaut wurde. Auf eine erste Vorstadtphase in den 1940ern und 1950ern folgte der soziale Wohnungsbau in den 1960er und 1970er Jahren (das sog. Millionenprogramm) – daraus entwickelte sich eine Konglomeratkommune, die 1943 Stadtrecht erhielt. Es handelt sich um einen Stadtteil mit vielen lauten Durchgangsstraßen, Zugtrassen, Asphaltwegen für Radfahrer und Fußgänger, Unterführungen, Laternenreihen – und Inseln älterer Bebauung, niedrigen Mehrfamilienhäusern oder Grünflächen.

Dass der große und der kleine Maßstab in der gebauten Welt nebeneinander existieren, kann sich der Roman bei der Darstellung der frühen Sozialisation des Protagonisten zu Nutze machen. Aus dieser kindlichen Perspektive gibt es sogar einen eigenen Wald, ein Niemandsland und eine Badebucht, wie die luftige spielbrettartige Karte von Solna auf der Innenseite des Einbandes unterstreicht. Dennoch dominieren die Einflüsse der Institutionen, die sowohl Territorien als auch Lebensphasen klar voneinander abgrenzen: So ist beispielsweise die Grundschule biographisch, räumlich und symbolisch markant vom Kindergarten abgerückt, weshalb die temporäre Nutzung von Räumen des Kindergartens durch die Schüler als deren soziale Degradierung erlebt wird. Jede Lebensphase bietet somit bestimmte soziale Identifikationsangebote, die sich stets auch räumlich manifestieren. Eine Heterotopie, die auf die widerspruchsvolle Pubertät vorausweist, ist das Einkaufszentrum Solna Centrum, das vom Protagonisten Måns Wadensjö in den 1990er Jahren noch als spektakulär wahrgenommen wird. Hier wird das ‚Herumhängen‘ geübt, obwohl die Jungen keine klare Vorstellung haben, was dies eigentlich genau bedeuten soll. Mit der leitmotivischen Thematisierung des Altersheimes wird der standardisierte Volksheim-Lebenslauf einer längst vergangenen Ära heraufbeschworen, was den Ich-Erzähler zu einem verspäteten Nostalgiker der Enkelgeneration werden lässt: Sich von der Wiege bis zur Bahre in staatliche Obhut zu begeben, gehört mittlerweile zu den überholten Stereotypen schwedischer Lebensführung.

Die soziale Dimension des Romans scheint weniger politisch geprägt, als Håkan Forsell, Professor für Stadtgeschichte an Stockholms Universität, behauptet. In seinem Artikel über die neuesten literarischen Erkundungen der Peripherie („Älskade tristress – litteraturen vågar sig utanför tullarna“, Svenska Dagbladet, 14.8.2016) bezeichnet er die Verschärfung der sozialen Distinktionen durch kommunale Privatisierungen und einen deregulierten ‚Finanzurbanismus‘ als Schlüsselmerkmale der 1980er und 1990er Jahre und meint, eine entsprechende pointierte Kritik bei Wadensjö ausmachen zu können. Dabei lässt sich der Forscher vermutlich weniger vom Roman als vom aktuellen Erscheinungsbild der Großbaustelle Solna leiten. Für ihn treten im Roman die Nostalgie und der Realismus des Wiedererkennens in den Hintergrund, während Wadensjös Solna zum Exempel für sämtliche Vororte im Post-Wohlfahrtsstaat-Schweden wird. Diese Gemeinsamkeiten in der literarischen Profilierung von Vororten und Vorstädten kristallisieren sich jedoch auch deshalb immer deutlicher heraus, weil die Texte zur Suburbia mittlerweile einen eigenen Kanon ausgebildet haben.

Nicht zuletzt ist Forsells Einschätzung, dass die Darstellung des kollektiven Stadtalltags in Människor i Solna immer anonymer werde, zu widersprechen: Die Interview-Anteile nehmen im Verlauf der Handlung größeren Raum ein, so dass sich parallel zum individuellen Erinnerungsstrang sogar mehrere parallele Handlungsstränge und wiederkehrende Nebenfiguren konstituieren. Bei Wadensjö wird der guten Nachbarschaft und der lokalen Gemeinschaft gehuldigt (vgl. S. 474) – und dies nicht selten mit dem Gestus einer antizipierten Nostalgie. Erhalten die stadtsoziologische, dokumentarische Untersuchung dabei viel Gewicht, ist dies kein Indiz dafür, dass die Autobiographie aus dem Blick geriete. Vielmehr ist festzustellen, dass eine Variante des Kollektivromans geschaffen wird, um ‚Stadt als soziale Größe‘ herauszuarbeiten. In einem Vorort scheint das urbane Kollektiv eben immer noch ein wenig überschaubarer als in der City, und sei es auch im großen Solna.

Måns Wadensjö: Människor i Solna, Stockholm: Bonniers, 2016.
(Antje Wischmann, Uppsala)

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”Schweigekunst”. Linda Boström Knausgård: Välkommen till Amerika (2016)

bostrom_knausgard_valkommen_till_amerika_omslag_inb_0Välkommen till Amerika von Linda Boström Knausgård ist eine Novelle, deren unerhörte Begebenheit in dem selbstgewählten Verstummen eines Mädchens besteht. Die Autorin knüpft an die Kindheitsschilderung ihres ersten Romans Helioskatastrofen (Die Helioskatastrophe 2013) an, die mythologisch vorstrukturiert war. Auch ihrem zweiten Prosawerk geht es um eine produktive Krise. Diesmal richtet sich der Fokus jedoch weder auf psychotische Ausnahmezustände oder Klinikaufenthalte noch die Geburt der Athene aus dem Kopf ihres Vaters, sondern auf ein willentlich erzeugtes Außenseitertum, das ein Kind im Spannungsfeld einer grotesk dysfunktionalen Kernfamilie erprobt.

Ellen verstummt mit elf Jahren für längere Zeit und zieht sich in ihr Zimmer zurück, das mal als Krankenzimmer, mit sich selbst in Bewegung versetzenden Wänden, und mal als „room for one’s own“ fungiert. Die weitgehende Konzentration auf das Interieur macht die Novelle zu einem bedrückenden Kammerspiel, das an die bittersten Strindberg-Dramen erinnert. Die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin wird oft als stream-of-consciousness dargeboten, in einer assoziativen Folge kurzer Sätze, gehäuft auftretenden Ketten von Fragen – intensiviert durch die Ansprache eines Du sowie gelegentliche Tempuswechsel. Das Staccato ruft in Verbindung mit der inszenierten Mündlichkeit den Eindruck eines widerwilligen, verzögerten Sprechens hervor, was auf die zentralen Themen des Schweigens und des Schreibens zu übertragen ist. Ellens extrovertierte Mutter hat ihrer Tochter ein Schreibheft gegeben, um ihr zu ermöglichen, das fehlende Sprechen zu kompensieren. Eine allein therapeutische Instrumentalisierung, wie etwa im Sinne der Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung, steht für Ellen jedoch nicht an erster Stelle. Mehr als der Selbstverständigung dient das Schreiben der sozialen Kommunikation, da Ellen sich eines Tages der Mutter, einer erfolgreichen Schauspielerin, mitteilen möchte, und als Mittel zur Erlangung von Autonomie. Das Schweigen als purer Ausdruck des Willens kann sowohl die suizidale Gefährdung als auch die dämonischen Kräfte des Bruders und Vaters bannen, die der Dunkelheit zugeordnet sind: „Jag hade släppt lös min vilja. Nu kunde vad som helst hända.“ (Ich hatte meinen Willen freigesetzt. Jetzt schien alles möglich. S. 57). Der Bruder hat die Tür zu seinem Zimmer zugenagelt, variiert also die Geste der Isolation.

Eingangs wird die Verweigerung zu sprechen als ein Projekt umschrieben, das am Anfang steht und noch keine nähere Bestimmung hat: „sedan det där med talet“ (das mit dem Sprechen, S. 6). Die Macht von Rede und schriftlicher Äußerung wird erkundet und mit dem biographischen Entwicklungsprozess verknüpft, umrissen in der vagen Formulierung „det där med växandet“ (das mit dem Wachsen/ der Entwicklung, S. 7). Durch die sprachliche Schlichtheit wird wohl auch ein Hineinversetzen in die kindliche Perspektive angedeutet, das konventionelle Substantiv „uppväxt“ (Aufwachsen) wird bezeichnenderweise vermieden. Mit zunehmender Deutlichkeit schält sich allmählich heraus, dass es sich um eine ‚Künstlerinnennovelle‘ handelt, die sich der Legitimierung der Autorschaft widmet. In einigen resümierenden Wendungen kommt zusätzlich die Rückschau einer erwachsenen Person zum Tragen, besonders markant am Ende des Textes: „Det var det här med växandet. Vissa saker hör till vissa åldrar.“ (So war es mit dem Wachsen. Bestimmte Dinge gehören zu einem bestimmten Alter. S. 90).

Die Urszene des Schreibens findet in der Kommunikation mit der Mutter statt: „Jag tog fram skrivboken och en penna. Jag darrade på handen när jag skrev: Skolen brann i dag. Jag gick ut i köket och lade skrivboken på matbordet. Tog tag i mammas arm och pekade på bordet. Hon grät. Mamma grät. Hon tittade på mig med tårarna rinnande utför ansiktet. Kinderna som blev svarta av mascaran som rann i tunna streck. Tack, sa hon och kramade om mig. Jag stod blickstilla inuti omfamningen. Vad hade jag gjort?” (Ich nahm das Schreibheft und den Stift. Meine Hand zitterte als ich den Satz schrieb: Die Schule hat heute gebrannt. Ich ging in die Küche und legte das Schreibheft auf den Esstisch. Ich fasste Mama am Arm und zeigte auf den Tisch. Sie weinte. Mama weinte. Sie sah mich an, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Die Wangen wurde von der Wimperntusche schwarz, die in dünnen Streifen herablief. Danke, sagte sie und nahm mich in den Arm. In der Umarmung stand ich regungslos. Was hatte ich getan?, S. 63). Durch ihre schriftsprachliche Handlung hat Ellen nun doch noch in die Welt eingegriffen.

Mit ihrem verstorbenen Vater, der sich unangenehmerweise in ihr Zimmer geschlichen hat, kommuniziert Ellen ebenfalls schriftlich: „Han måste ut ur rummet. Jag tänkte i några sekunder sedan tog jag skrivboken och skrev: Du är död. Du får inte komma hit. Jag lade skrivboken i hans knä och såg honom läsa. Jaså det är vad du tror. Han skrattade. Eftersom du ber så snällt. Han var borta.” (Er muss aus dem Zimmer heraus. Ich überlegte einige Sekunden, nahm das Schreibheft und schrieb: Du bist tot. Du darfst nicht hierherkommen. Ich legte das Schreibheft auf seinen Schoß und sah wie er las. Aha, das glaubst Du also. Er lachte. Wenn du so nett darum bittest. Er war verschwunden., S. 74)

Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der Werktitel, denn beide Eltern verwenden die Begrüßungsformel, beinahe so, als würden sie Ellens Vorhaben absegnen und als wollten sie vorausschauend dazu beitragen, ihrer Ausnahmetochter den Weg in die Welt (dafür steht „Amerika“) zu ebnen. Wieder ist es zuerst die Mutter, die auf der Bühne von Dramaten das verheißungsvoll unkartierte Gelände Amerikas anpreist: Als derangierte Freiheitsgöttin leuchtet sie den Schutz suchenden Migranten entgegen, obgleich sie ihre Fackel verloren hat (vgl. S. 8). Der Willkommensruf wird vom Vater in einer Traumsequenz wiederholt, als beide Charaktere plötzlich verschmelzen, denn beide sind glatzköpfig, und eine Spiegelscherbe ist in ihre Stirn gedrückt, so dass eine Mutter-Vater-Einheit entworfen wird (vgl. S. 64). Die motivische Anspielung auf die Spaltung von Zeus‘ Schädel, den Geburtsmoment der Athena, wird auf diese Weise auf beide Elternteile ausgeweitet. (Der Vergleich mit Sara Lidmans Athena-Roman Oskuldens minut (Minute der Unschuld 1999) über eine weibliche Erzählbegabung, die sich zuerst als ein freier, nicht korporierter „Wille in der Welt“ manifestiert, der sich Herkunft und Eltern erst noch suchen muss, böte sich an.)

Quelle: Wikimedia

Augenfleckiger Steinbutt Quelle: Wikimedia

Die genealogische Herleitung bleibt jedoch nicht widerspruchslos: Die rückschauende Perspektive und das Wissen im Nachhinein entfalten sich nämlich in einer überraschenden Volte am Schluss, indem das zuvor favorisierte Narrativ, das der mütterlichen Lichtgestalt zugeordnet wurde, radikal in Frage gestellt erscheint: „Jag brukade stanna vid ögonblicken i båten. Tänkte att så skulle det vara för alltid. Pappas leende när min bror förde in ännu en fisk i båten med håven. […] Mamma, alltid rätt klädd för varje tillfälle. Kanske spelade hon alltid teater? Iklädd en sportjakka med håret i en perfekt hästsvans med leendet riktad som mot en osynlig kamera. Hela familjen på utflykt. Kanske var det den där döda piggvaren som låg på ytan, som min bror absolut ville ta in i båten, för att den såg ut som om den levde, som var det första tecknet på att allt inte stod rätt till? Den stinkande fisken som sjöfåglarna ätit av och som vi inte visste vad vi skulle göra med när vi väl fått den ombord på båten. […] Vad skulle vi göra nu? Vad skulle vi göra med varandra? ” (Immer wieder blieben meine Gedanken an dem besonderen Moment auf der Bootsfahrt hängen. Dachte daran, dass es für immer so sein sollte. Pappas Lächeln, als mein Bruder noch einen Fisch mit dem Kescher ins Boot holte. […] Mamma, wie immer der Situation entsprechend angezogen. Vielleicht spielte sie immer Theater? In einem Anorak, mit einer perfekten Pferdeschwanz-Frisur und einem Lächeln, wie auf eine unsichtbare Kamera hin ausgerichtet. Die ganze Familie auf einem Ausflug. War vielleicht der tote Steinbutt, der an Deck lag und den mein Bruder unbedingt ins Boot bekommen wollte, weil er lebendig wirkte, das erste Anzeichen dafür gewesen, dass etwas nicht stimmte? Der stinkende Fisch, von den Seevögeln angefressen, mit dem wir nichts anzufangen wussten, nachdem wir ihn an Bord geholt hatten? […] Was sollten wir nun machen? Was sollten wir miteinander machen? S. 91f.)

Das klaustrophobische Interieur wird mit dieser Erinnerungsszene an frühere Urlaube zu viert aufgebrochen, und das schicksalshafte Störungsmoment außerhalb der familiären Konstellation verortet. Der deformierte Fisch entfaltet sich wie ein Fluch, während Ellens Mutter sogleich alle Kräfte der Verdrängung mobilisiert (vgl. S. 92). Das Aussehen des Fisches, seine dunklere, mit Tarnungsmuster versehene Oberseite und seine helle Unterseite machen ihn zu einem Symbol, das auf die familiären Antinomien genau abgestimmt ist. Der Ring schließt sich in der Novelle gerade nicht, sondern es wird eine Umwertung der geschilderten Ereignisse erzwungen.

Mit Autofiktion hat dieser streng komponierte Text wenig zu tun, und doch strahlen Gattungsmerkmale aus dem sechsbändigen Min kamp-Zyklus (2009-11) von Karl Ove Knausgård herüber. Das Titelbild-Foto zeigt eine jüngere Frau mit einem stabähnlichen Gebilde in der linken Hand, wenn man den unscharfen Vordergrund des Bildes genauer betrachtet, als Selfie-Stick identifizierbar. Dennoch hat die Person ihr Gesicht komplett abgewandt. In dieser paradoxen Bewegung bestätigt sich die autofiktionale Selbstbespiegelung, dementiert sie aber auch zugleich – vielleicht als ein visuelles Pendant zum Schreiben unter Beibehaltung des Schweigens.

Die Spiegelscherbe, die in Välkommen till Amerika die kahlen Schädel beider Elternfiguren spaltet, spielt in Min kamp eine Rolle für die selbstzerstörerischen Seiten des jungen Karl Ove, der sich Schnittverletzungen im Gesicht zufügt. Jenseits der überraschend verwendeten mythologischen oder symbolischen Querverweise ist auf alle Fälle die in beiden Werken wiederholt genannte Blaubeer-Dickmilch hervorzuheben, die die Knausgård-Kinder in Min kamp beinahe zwanghaft zum Frühstück verlangen.

Es liegt zwar nahe, die Werke des Ehepaars aufeinander zu beziehen; eine polyloge Vernetzung ergibt sich jedoch nicht, stehen sich doch mythische Muster und konzentrierte Verdichtung auf der einen Seite und Essay, Flow, ausufernder Text sowie die Montage heterogener Materialen auf der anderen gegenüber.

Eine gewichtigere thematische Gemeinsamkeit besteht allerdings in der Auseinandersetzung mit dem depressiven und alkoholisierten Vater. Die Ich-Erzählerin bei Boström Knausgård stellt ihr Außenseitertum explizit als Erbe ihres Vaters dar (vgl. S. 5), womit Künstlerschaft und bipolares Syndrom eine unauflösliche Einheit bilden. Für den direkten Vergleich erschiene indessen Beate Grimsruds Roman En dåre fri (Verrückt und frei, 2011) viel ergiebiger, denn diese Autorin verlängert ihre Selbstvergewisserung als Autorin ebenfalls bis in die Krankheitsgeschichte von Kindheit und Jugend zurück. Grimsruds Text legt aber größeren Wert auf die Herausarbeitung des Konstruktionsprozesses und die Erinnerungsakte. Bei Boström Knausgård verrät die fein austarierte Gesamtkomposition, wie die Elemente autobiographischer Erinnerung während des Schreibprozesses fortlaufend auf die zukünftige Autorschaft hin ausgerichtet werden.

Indem die paradoxen und spannungsvollen Gegensätze von Licht und Dunkel (auch Eros und Thanatos) kontinuierlich als planvolle Strukturierungen hervortreten, und indem das Schreiben gewagt und das Schweigen zugleich aufrechterhalten wird, signalisiert Välkommen till Amerika ein Selbstverständnis als modernistische Außenseiterautorin.

Linda Boström Knausgård: Välkommen till Amerika, Stockholm: Modernista, 2016.
(Antje Wischmann, Uppsala)

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