Spielt den Text noch einmal

Zu Jon Fosses Ein Leuchten (Kvitleik 2023), Tief im schwarzen Wald (I svarte skogen inne 2023) und „Leike leiken“ (Spielen spielen 2023)

Die Aufregung über den Literaturnobelpreis an Jon Fosse 2023 hat sich inzwischen gelegt. Mittlerweile sind viele Lesende vielleicht schon neugierig auf die nächste Preisverkündung im Oktober 2024. Trotzdem lohnt es sich, einige jüngst erschienene Texte des Autors, die bisher wenig beachtet wurden, näher zu betrachten und ein wenig über das Schreiben und das ‚Text-Erleben‘ nach dem Nobelpreis zu spekulieren: Im Hinblick auf mediale Umsetzungen und Adaptionen zeichnet sich nämlich ein vielversprechender Trend für die Formate der szenischen Lesung und des Hörspiels ab, auch wenn die Neu- oder Re-Inszenierungen von Fosses Arbeiten an den europäischen Bühnen insgesamt noch eher zäh anlaufen.

Aktiv in mindestens drei Genres

Die Auszeichnung wurde von der Schwedischen Akademie damit begründet, dass Fosses „Neuland betretende Dramatik und Prosa dem Unsagbaren eine Stimme gibt“ („för att hans nyskapande dramatik och prosa som ger röst åt det osägbara“ (https://nobelprizemuseum.se/litteraturpriset-2023).

Dem „Unsagbaren eine Stimme zu geben“ ist eine gewagte Metaphorik, etwas raunend oder bewusst vage gehalten, wie um die religiöse Thematik mit einzubeziehen. Die vom Komitee in der Begründungsformel pointierte Stimme bezieht sich dabei weniger auf die Stimme einer Figur oder auf Erzählperspektiven, sondern auf eine sich manifestierende Kraft, die etwas Verborgenes freilegt und es der Wahrnehmung zumindest ansatzweise zugänglich macht. Eine solche Erschließung kann nur im Vollzug, d.h. während der Lektüre oder während einer Theateraufführung stattfinden, wenn sich nämlich die Texte ereignen. Doch selbst wenn für die Dauer der Rezeption assoziative Bedeutungen freigesetzt werden, die Fosse-Interessierte ‚musikalisch‘ ansprechen oder atmosphärisch in ihren Bann ziehen, kommt meistens kein Pathos auf. Zentrale Themen und Motive, Figuren oder Requisiten sind im Laufe der Zeit in Fosses Werk so oft wiederholt, abgewandelt und neu arrangiert worden, dass sie sich gleichsam abgeschliffen haben und sogar zitathaft wirken können.

Der historische Erfolg der Dramen wird mit dieser Formel hervorgehoben, ebenso der Meilenstein in Gestalt der Heptalogie, eines siebenteiligen Künstler- bzw. Bildungsromans (2019-23), der zeitlich nah am Jahr der Auszeichnung liegt. Während das Nobelkomitee Fosses Rang als Dramatiker und Prosaist betont und mit dem ‚Vernehmbar-Machen‘ des Unsagbaren auch die einkreisenden Verfahren von Wiederholungen und Pausen berücksichtigt, bleibt das lyrische Werk in der Begründung ausgespart. Dies ist verwunderlich, denn Fosses poetische Produktion reicht von den Lyrics in der Initialphase als Rockmusiker bis zu seinem mitunter explizit mit religiösen Fragen befassten ‚Alterswerk‘, in dem hin und wieder Anleihen bei der Kirchenlieddichtung genommen werden. Angesichts der Schlüsselfunktion von Rhythmus und Klang in Drama und Prosa wäre es gerechtfertigt, von einer Art lyrischem Substrat in Fosses Gesamtwerk auszugehen. Oft kommt in allen drei Genres eine inszenierte Mündlichkeit zum Einsatz, die den gedruckten Text als dürres Ausgangsmaterial erscheinen lässt, das ohnehin erst beim Vorlesen, im szenischen Spiel oder auf der Theaterbühne zum Leben erweckt wird. Ein solches tastendes, aus sich selbst Hervorschreiben führt die Lyrik seit jeher plastisch vor, unabhängig davon, wie sich die Lesenden das lyrische Ich im Einzelnen vorstellen.

Für den Trend zum Ohrentheater spricht beispielsweise, dass in den Wochen direkt nach der Preisverleihung häufig Hörbücher oder Hörspiele zugänglich waren, während viele ältere Werk erst wieder neu aufgelegt oder nachgedruckt werden mussten. Der Deutschlandfunk Kultur stellte beispielsweise die Hörspielfassung von Eg er vinden (Ich bin der Wind; https://www.hoerspielundfeature.de/ich-bin-der-wind-102.html) bereit, des letzten Dramas ‚der ersten Staffel‘, d.h. vor der biographischen Zäsur 2011/12 und vor dem Prosa-Durchbruch mit Trilogien (Trilogie 2015) verfasst, mit dem Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet, ein gemessen an der Heptalogie schmaler Prosaband. Im schwedischen Buchhandel war im Herbst 2023, extrem willkürlich, lediglich das Hörbuch Hundmanuskripten (Hundemanuskripta 1-3) für Kinder erhältlich, dies ein eher schwächeres Auftragswerk, dessen norwegische Einzelbandtitel aber gut zur Pointe über den grundsätzlichen poetischen Performativitäts-Appell bei Fosse passen: Nei å nei, Du å du, Fy å fy (1995-97).

Die drei Genres bedingen einander, und die entstehenden Genrekombinationen regen intermediale Umsetzungen gerade an, wie ich in dieser Sammelrezension erläutern werde.

Vom Groove getragen

Die von Uwe Englert herausgegebene Anthologie Das Gras hinter dem letzten Haus. Neue Literatur aus Norwegen (2019) enthält sechs Fosse-Gedichte, und die zweisprachige Sammlung Diese unerklärliche Stille (Denne uforklarlege stille 2016, Kleinheinrich Verlag Münster) präsentiert eine umfassende Auswahl, jeweils übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, der im deutschsprachigen Raum beinahe zu Fosses Ko-Autor avanciert ist. Fosse zu Unrecht wenig beachtete Lyrik etabliert ein konzentriertes Repertoire an Schlüsselbegriffen, wie etwa bestimmte Szenographien, Stimmungen oder Farben, deren Bedeutungsspektrum in der kleinen Form variabel und beweglich bleibt.  

Zugespitzt formuliert: Poetische Verfahren sind konstituierend für Dramen und Erzähltexte, womöglich ein allgemeiner konzeptueller Ausgangspunkt. Wie Englert anmerkt, ist die Formulierung der schwedischen Autorin Kristina Lugn „Die Lyrik ist sowohl Haupteingang als auch Bühneneingang für seine Dramatik“ („Poesin är både huvudentré och sceningång till hans dramatik“, 2007) an Anschaulichkeit nicht zu übertreffen.

In der Presse wurde der „Fosse-Sound“ erwähnt, der beim Lesen einen Sog, eine Art Begleitspannung zu den oft ereignisarmen Erzählungen entwickelt. Da ein vorantreibender alternierender  Grundrhythmus entsteht, ist der Begriff „Groove“ von Klaus Müller-Wille noch passender (Podcast vom 6.10.2023: https://www.srf.ch/audio/kontext/kultur-talk-der-norwegische-schriftsteller-jon-fosse-erhaelt-den-nobelpreis?id=12459879). Solche Intonations- oder Phrasierungsmuster vermitteln sich beim Hör- oder Bühnenerlebnis so intensiv, dass dieser Effekt auch auf die sog. stille Lektüre übergreift. Hat sich die sprachliche Materialität der Texte erst einmal ‚Gehör verschafft‘, erkennen die Lesenden den auf- und abwogenden Rhythmus wahrscheinlich wieder.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jon_Fosse_Nobelpriset_i_litteratur_2023.png

Sich in die Verirrung bringen, um wieder hinauszufinden – ein schlichtes Drama

Betrachtet man Ein Leuchten (Kvitleik. Forteljing 2023) und Tief im schwarzen Wald (I svarte skogen inne. Skodespel 2023) in der Zusammenschau, zeigt sich unmittelbar eine Gattungsverschmelzung, die einen erzählerisch-szenischen Doppeltext zum Resultat hat. Das Drama ruft eingangs ein Samuel Beckett-Bühnenbild auf, das ein absurd-humoristisches Setting vorgibt: Ein mehr oder weniger ausgeleuchteter Wald. Ein Stein, auf dem man sitzen kann. Einbrechende Dämmerung, dann Dunkelheit. Schneetreiben, dichter werdend.

Das Personenverzeichnis legt nahe, dass gar nicht alle Figuren auf einer Bühne im Sinne eines Schauspiels aufzutreten bräuchten. Entweder ist überhaupt nur die Hauptfigur, der „jüngere“ Autofahrer anwesend, der seinen Monolog spricht, oder es kommen vier Stimmen zum Einsatz: die des jüngeren und die des älteren Paares, während die fünfte Figur, der ‚Mann im schwarzen Anzug‘ zumindest über visuelle Zeichen repräsentiert sein müsste, da sie gestisch kommuniziert. Der Anzugmann bewegt sich auf die genannten Figuren zu oder wieder von ihnen weg und leitet abschließend eine Art Totentanz-Szene an. Für die beiden Paare gibt es eine gewisse Abstufung des Präsenzbedarfs, denn die jüngere Frau trägt ein weißes langes Kleid, d.h. eine durchgehende stimmliche Repräsentation dieser Figur wäre insofern nicht möglich, als sie für Licht und Weiße einsteht („kvitleik“ – wörtlich „Weiß-heit“).

Wichtig sind die Gesten des jüngeren Mannes („yngre mann/ yngre mannsrøyst“), der sich mit seinem Auto im Wald festgefahren hat und während des Einakters im Kreis herumirrt, -denkt und -spricht. Auch die den inneren Monolog begleitete Mimik und die Tonalität des Sprechens bedeuten für die Schauspielenden Freiheit und Herausforderung zugleich. Der orientierungslose Autofahrer im Wald zeigt nämlich nach rechts und links bzw. in drei verschiedene Richtungen, dreht sich um sich selbst, um sein bewusst herbeigeführtes Verirren und sein Absuchen des Waldes zu veranschaulichen. Wie konkret er im Kreis läuft, zeigt sich am ‚Zeitmesser-Requisit‘ des großen Steins, den er zwei Mal passiert. Die Eltern des jüngeren Mannes könnten dagegen in einer rein akustischen Domäne verbleiben, hier wird die bloße Stimme als präferierte Alternative angeführt (z.B. „Stimme der älteren Frau/ ältere Frau“; „eldre kvinnerøyst/ eldre kvinne“). Die Sichtverhältnisse im Wald erschweren eine Begegnung, wie in den Repliken angegeben wird, und die Stimmen der besorgt suchenden Eltern sind mal lauter, mal leiser.

Dass wohl ein Mann im schwarzen Anzug auf der Bühne repräsentiert sein sollte, heißt aber noch nicht, dass die Todesthematik alle anderen Facetten dominiert. Auch würde zu kurz greifen, die Weißgekleidete erst als rettende Engelsgestalt und dann als Alliierte des Anzugmannes zu verstehen. Ohnehin wird im Stück erwähnt, dass es sich bei der Wendung I svarte skogen inne um eine Redensart handelt; selbst ‚in der tiefsten Finsternis‘ bleibt sich das Stück als Text bewusst. Die Figuren sind stilisiert, beispielsweise in ihrer überdeutlichen Komplementarität und in ihren markanten Gemeinsamkeiten: Sowohl der Anzugmann als auch die Weißgekleidete treten barfuß auf, sie bewegen sich außerdem gegenläufig (vgl. S. 31). Es sind Gestalt gewordene ikonographische Einheiten oder papierene Personifikationen, die jegliche Tragik abfedern, das Absurde jedoch umso mehr herausstellen.

Der jüngere Mann hat sich selbst in die verfahrene Lage gebracht; seine Hakenschläge beim Befahren der Waldwege, bis sich das Auto festfährt, lassen sich als Versuch verstehen, eine Neuorientierung herbeizuzwingen. Seine Fahrt ist nicht einer Todessehnsucht geschuldet. Im inneren Monolog werden mögliche Hintergründe des eigenen Verhaltens, Risiken oder auch zuversichtlichere Szenarien durchgeprobt, wobei das Sprechen selbst ermutigt: „rickel, rickel, ruckel/ recht kurze Pause/ rickel, rackel, ruckel/ kurz Pause, fast begeistert/ aber vielleicht/ ja wenn ich einfach weitergehe/ ja weiter in den Wald hinein/ dann muss ich doch jemanden treffen/“ („rikk/ rikk/ rikka/ ganske kort pause/ rikk, rakk, rikka/ kort pause, litt entusiastisk/ men kanskje/ ja om ej berre går vidare/ ja vidare in i skogen/ så må ej jo koma til nokon/“ S. 14ꟷ15). Die erste andere Stimme, die nach 20 Seiten zu hören ist, ist die der Mutter, die dem Vater Vorhaltungen macht, der sich nur widerwillig am Gespräch beteiligt. Die Eltern schwanken in ihrer Einschätzung, wie ihr Sohn bisher durchs Leben gekommen ist: War er nicht schon immer etwas sonderbar? Oder war er nicht eigentlich doch ganz lebensfroh und vor allem ein souveräner Autofahrer? Es bleibt unklar, ob der Protagonist die Eltern anfangs überhaupt hören oder sehen kann, denn er reagiert erst nur auf die jüngere Frau, die sich vor ihn hinstellt, die er aber nicht zu kennen scheint. Auf seine Frage nach ihrem Namen, bleibt diese ihm die Antwort schuldig, sie kann ihm auch den Weg nicht zeigen (vgl. S. 32ꟷ34), schickt ihn aber nach Hause und mahnt: „Du kannst gerade nicht klar denken“ („No tenkjer du ikkje klårt.“ S. 37). Die Stimmen der besorgten Eltern treten hinzu, so dass sich die Dialoge der beiden Paare überkreuzen. Die Hauptfigur schlägt der Weißgekleideten vor, sich im Auto aufzuwärmen und die Scheinwerfer anzuschalten, ein haltloser Versuch, da niemand den Rückweg kennt. In beiden Paaren haben die weiblichen Figuren die Führung übernommen, ein Charakteristikum in vielen genderspezifischen Konstellationen bei Fosse, um nicht zu sagen, eine typische Arbeitsteilung der Geschlechter.

Die jüngere Frau entdeckt nun das ältere Paar im Wald und macht den jüngeren Mann auf die beiden Alten aufmerksam, obwohl er sie zu ignorieren versucht. Der skizzierte psychologische Konflikt, die Scham des Sohns über sein Scheitern und das gestörte Verhältnis der Mutter zum Sohn, steht mit der selbstreflexiven Monologführung im Widerspruch, was die Kohärenz des Dramas verringert, wie ohnehin jede Aufführung als ‚Figuren-Schauspiel‘ in Anbetracht von Fosses Gesamtwerk beinahe anachronistisch erscheint. Kurz vor der davonschwebenden Schlussszene weist der jüngere Mann die Weißgekleidete auf den inzwischen zugeschneiten Stein hin, damit sie kurz ausruhen kann. Vorher wurden die beiden unterschiedlichen ‚Erlösungslandschaften‘ des Mannes und der weißen Frau im Vergleich vorgestellt: Für ihn ist es die unendliche kompakte Weiße einer geschlossenen Schneedecke, für die weiße Frau dagegen ein leuchtender Sonnenaufgang über dem Meer oder ein abendlicher Sonnenuntergang – beides intertextuell anspielungsreiche Szenographien und allegorisch übercodiert (vgl. S. 64).

Wenn überhaupt, verursachen Scham und Verdrängung die große Krise der Hauptfigur, nicht aber das Selbstexperiment der arrangierten Verirrung. „Einfach hier stehen/ ja an diesem Punkt/ ja an diesem Punkt stehen und daran denken/ unterbricht sich, recht kurze Pause/ ja daran, dass es ja auch ein Ausgangspunkt ist/ recht kurze Pause/ Punkt Ausgangspunkt“ („Berre stå her/ ja på dette punktet/ ganske kort pause/ punkt punkt punkt/ ja stå her på dette punktet og tenkja på/ bryt seg av, ganske kort pause/ ja på att dette er jo òg eit utgangspunkt/ ganske kort pause/ punkt utgangspunkt/“ S. 21) Vielleicht folgt diese Figur eher den anderen, als dass sie den Neuanfang auf einem weißen Blatt, from scratch, oder aber das Verlassen der Welt herbeisehnen würde. Vielleicht kommt es aber auch vor allem auf die Retrospektive an, wie die elterliche Profilierung des aus der Bahn geratenen Sohnes veranschaulicht. Klaffen nicht oft die (auto)biographischen Erzählungen und die Geschichten der anderen über Erfolge und Scheitern eines Mitmenschen, den sie zu kennen meinen, weit auseinander? „[E]r fuhr immer so gerne Auto“ („han likte så godt å køyra bil“, S. 80), gibt der Vater zu bedenken.

Im dichten Blocksatz eingekreist

Liest man nach der Lektüre des Dramas I svarte skogen inne das Prosa-Pendant Kvitleik,liegt nahe, dass der Autofahrer seiner Verirrung vielleicht nicht gewachsen war. Im Prosatext werden die sowohl kreisenden als auch abschweifenden Gedanken des Sohnes vertieft, beispielsweise über die spärliche Bevölkerung der entvölkerten Gegend, wer hier wohl einen Führerschein habe oder über die Renovierung eines verfallenen Hauses. Markant ist das positive Verständnis der herbeigeführten Irrfahrt im ersten Satz der Erzählung: „Ich habe mich verfahren. Das tut gut. Die Bewegung tat gut.“ („Eg køyrde av garde. Det gjorde godt. Rørsla gjorde godt.“ S. 7).

Die Figurengalerien der Erzählung Kvitleik und des Dramas I svarte skogen inne weichen voneinander ab. In der Langerzählung tritt außer der Mutter des Protagonisten keine weibliche Figur auf, obwohl die weiß leuchtende Gestalt, hier als ‚weißer Umriß‘ bestimmt, vom Protagonisten zunächst für eine Frau gehalten wird, dann jedoch weniger menschlich-konkret erscheint als die weißgekleidete Frau im Stück.

Die Fülle an Details verstärkt natürlich die Option einer Psychologisierung des einsamen männlichen Charakters („mutterseelenallein“/ „mutters aleine“, S. 53), der sich vor allem über sein Sohnsein definieren musste. Anders als im Drama bleibt der festgefahrene Autofahrer eine ganze Weile im beheizten Wagen sitzen, bevor er meint, aufbrechen und Hilfe holen zu müssen. Dass er Helfende ausgerechnet im Waldesdunkel sucht und dass er sich überhaupt so unüberlegt auf diese Irrfahrt eingelassen hat, verwundert ihn mehrfach. Nach dem ersten Auftritt der weißen Erscheinung in der Waldfinsternis, „ich bin, der ich bin“ („eg er den eg er“ S. 40), scheint es noch die Chance zu geben, einen Ausweg zu ersinnen. Die fragile Balance gerät erst nach dem Erscheinen der Eltern, insbesondere der fürsorglich-vorwurfsvollen Mutter ins Wanken. Am Ende scheint die Familie gemeinsam ins ‚Dort‘, auf die ‚andere Seite‘ aufzubrechen. Statt um Scham und Verdrängung (wie im Drama) geht der psychologische Konflikt in Kvitleik um das initiativlose und schweigende Verhalten von sowohl Sohn als auch Vater, das im Umgang mit der Mutter zu einem lähmenden Muster geworden ist. Wie im Drama hatte die Mutter darauf gesetzt, dass auch der Vater das Gespräch mit dem Sohn suchen würde, um die elterlichen Ermahnungen vorzubringen. Ebenso war sie fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es ein väterliches Wissen um den richtigen Weg (nicht nur aus dem Wald) gebe.

Natürlich ist auch der schwarze Anzug-Mann wieder mit von der Partie. Die schematische Anlage des Weiß-Schwarz-Antagonismus führt zu einer Verfremdung durch den Verbund von Prosa und Drama; Kvitleik bietet sich mithin als umgeschriebenes und im Detail ausgestaltetes Drama in epischer Form dar. Entsprechend sind einige der Bühnenbild- und Regieanweisungen in die Erzählung integriert worden: „Jau, ein großer, runder Stein mitten im Wald, ein Stein wie gemacht dafür sich draufzusetzen“ („Jau ein stor og rund stein der midt inne i skogen, ein stein som laga for å sitja på“ S. 21).

Abweichend vom Stück werden Naturelemente eingesetzt, interessanterweise theatral und kulissenhaft, das wechselnde Mondlicht und der Sternenhimmel, wobei deren jeweilige Beleuchtungsintensität mit der Deutlichkeit und Lautstärke der elterlichen Stimmen bzw. mit der Entfernung/Nähe dieser beiden Figuren korrespondiert. Die dichte, absatzlosen Blocksatz-Darbietung dieser Erzählung, die mit „Weiße“ (vgl. S. 72) endet, während das Drama die Farbe Schwarz als Schlusspunkt setzt, signalisiert zugleich durchgehend eine modernistisch-sprachbewusste Eigengesetzlichkeit.

An mehreren Stellen bricht Komik hervor, mal übermütig, mal eher makaber. Der Stein, der wiederholt als Ruhesitz angesteuert wird, ist etwa als Requisit – und nicht als Findling – tatsächlich dafür gemacht, als Sitzplatz verwendet zu werden (s.o.). Oder die Verfremdung des spirituellen Leuchteffekts wird grell übersteuert, indem der verirrte Mann auf die „ich bin, der ich bin“-Formel in seinem Monolog erwidert: „und ich denke, dass ich diese Antwort schon einmal gehört habe, aber ich kann mich nicht erinnern, wo das war, vielleicht habe ich es auch irgendwo gelesen“ („og eg tenkjer at det svaret har eg høyrt før, men eg kan ikkje hugse kvar eg høyrde det, eller kanske las eg det einkvan staden“ S. 40). Auf die weiße Gestalt, die im letzten Abschnitt beim Auftauchen des Anzugmannes wieder aktiv wird, reagiert der Protagonist selbst fast mit einem überwältigten Lachen:

„Ich verstehe es nicht. Es übersteigt meinen Verstand, wie man sagt. Redensarten, eine Redensart. Aber überhaupt in dieser Lage von Verstand zu sprechen, das wirkt nicht sinnvoll, nein jetzt muss ich aber wirklich gleich lachen.“

„Eg skjønar ikkje dette. Det overgår min forstand, som det heiter. Talemåte, ein talemåte. Men å snakke med forstand i det heile, ja slik eg no har det, ja det kjennest ikkje rimeleg, nei no er det rett før eg byrjar le, ja det òg.“ S. 62-63)

Sogar das Todestanzmotiv wird relativiert durch eine Geste, die angesichts des übermäßigen gemeinsamen Einflusses der Eltern gleichermaßen sowohl an Brechts V-Effekt als auch an das Victory-Zeichen erinnert: „[M]eine Mutter und mein Vater, jetzt stehen sie dort Hand in Hand. Ihre herabhängenden Arme bilden ein V zwischen ihnen.“ („mor mi og far min, no står dei der og held einannan i handa. Armane deira heng ned som ein v imellom dei.“ S. 65). Dennoch schwebt die Familie, nun in ein Grau gehüllt, gemeinsam auf die ‚andere Seite‘, wobei der Styx in Richtung auf ein weißes Licht hin passiert wird (vgl. S. 71).

Die Rezensentin Sigrid Löffler hat auf die deutsche Übersetzung von Kvitleik, den Band Ein Leuchten (2023) beinahe empört reagiert, so als habe sich der Nobelpreisträger einen Flop erlaubt. Im Artikel „Der ganze Fosse auf 80 Seiten“ (Süddeutsche Zeitung 11.12.2023) scheint Löffler davon auszugehen, dass es sich um ungeschickt formulierte religiöse Literatur handle, die aufgrund von „Ausdrucksdürftigkeit und Variationsarmut“ in die Banalität umzukippen drohe. Der Umgang mit Fosses Repertoire scheint jedoch Löffler wenig geläufig, wodurch ihr die intratextuelle Komik und die Beckett-Offerten entgehen. Darauf lässt zumindest ihr grimmiger Kommentar schließen: „Der erste Verdacht, hier würden die Nahtod-Bücher der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross satirisch verulkt, erübrigt sich, denn Jon Fosse hat keinen Humor.“ (Löffler, wie oben).

Vor diesem Hintergrund halte ich auch die Markierung „Ein kleines Meisterwerk über den Tod“ („et lite mesterverk om døden“) auf dem Einband von Kvitleik, für die sich der norwegische Verlag Samlaget entschieden hat, für etwas missverständlich. Eine bewährte Rezeptionstradition scheint beschworen, nicht zuletzt das Wiederaufleben der „seelischen Landschaften“ um 1900 und damit auch einiger Schablonen der deutschsprachigen Fosse-Rezeption (vgl. Suzanne Bordemann, 2013). Was dereinst als ‚Todessehnsucht‘ und ‚Weltschmerz‘ wertgeschätzt wurde, sollte heutige Perspektiven nicht vereinseitigen und so auch nicht länger dazu beitragen, dass Lesende von der Melancholie in Fosses Werk gänzlich überwältigt werden.

Spiel wirklich mit mir oder: Aufbruch in die akustische Werkstatt

Das Miniatur-Stück für die Stimme einer erwachsenen Person und eines Kindes „Leike leiken. Lydspel for to røyster“ (2023, 13 Seiten) ist von einem Hörspiel kaum mehr zu unterscheiden. Selbst wenn das Stück mit verteilten Rollen vorgelesen wird, kann sich sein Charme entfalten. Die Regieanweisung sieht nämlich eine leere Bühne vor, und das Spiel setzt mit dem Einschalten der Beleuchtung und einer Pause ein. Fast könnte man die Einfachheit des Stücks als Aufforderung verstehen, sich an einer Improvisation zu versuchen. Der Einakter kann niedrigschwellig und recht humoristisch gespielt werden oder mit einer starken Betonung der reflektierenden oder meta-theatralen Passagen.

Vorausgesetzt ꟷ und für die noch ausstehende deutsche Übersetzung äußerst schwierig ꟷ ist die Unterscheidung von „leik“ als freiem, auch schauspielerndem Spiel und „spel“ als regelgeleiteten, auf antizipierenden Vereinbarungen basierendem Spiel, wie bei Gesellschaftsspielen oder Sportwettbewerben. Der Titel selbst ruft dieses Spannungsverhältnis auf. Das Kind und die erwachsene Begleitperson (letztere in einigen Beschreibungen des Stücks auch als „han“ bestimmt, vgl. https://tv24.se/p/jon-fosse-ord-for-ord-sasong-1-avsnitt-42-rragwe) haben erwartungsgemäß unterschiedliche Erwartungen an das Spielen. Der erwachsene Mensch scheint einschätzen zu wollen, was zu erwarten ist: Welche Fertigkeiten sind gefragt? Wie lange wird es dauern? Was scheint lockend daran? Das Kind in der ‚akustischen Szene‘ besteht auf einem freien Spiel mit offenem Ausgang, bei dem es Anweisungen jeweils für bestimmte Handlungsabschnitte geben möchte. Schon der erste Auftrag an die erwachsene Person, sich in die Mitte der Bühne (bzw. eines imaginären Platzes, der ‚auf dem Heimweg‘ passiert wird) zu stellen, bereitet der Begleitung Schwierigkeiten. Das Einnehmen einer bestimmten Pose muss ebenfalls durch das Kind nachkorrigiert werden, und die Aufgabe, auf der Stelle zu hüpfen, wird schlechtweg auf eine Weise verweigert, die dem Kind klar macht, dass es den Schwierigkeitsgrad senken muss, damit das Spiel(en) überhaupt läuft. Die Spielfreude ist auf beiden Seiten bereits etwas getrübt, aber das Kind beruhigt, das Hüpfen sähe gar nicht verrückt („toske“, S. 22) aus, da es doch innerhalb eines Spiels geschähe; es schlägt dann kompromissbereit vor, dass seine erwachsene Begleitung anstelle der Hüpfbewegung etwas sagen könnte. Dabei wird die Replik „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“ („Eg veit ikkje kva eg skal seia“, S. 26) großzügig gelobt, und das Kind ermuntert zum Weitersprechen, bis der erwachsene Mensch nun gar nicht mehr weiterweiß.

STIMME DES ERWACHSENEN/ Du hast ein Spiel erfunden/ Und jetzt spielen wir wohl dieses Spiel/ STIMME DES KINDES/ Ja/ ja jetzt spielen wir das Spiel/ ganz genau/ STIMME DES ERWACHSENEN/ Und mein Kopf ist völlig leer/ Mir fällt nicht ein, was ich sagen könnte/ STIMME DES KINDES/ Ja/ ja so läuft das Spiel/ Kurze Pause/ Und dann hüpfst du

VAKSENRØYST/ Du har funne på ein leik/ Og no leiker vi visstnok leiken/ BARNERØYST/ Ja/ Ja no leiker vi leiken/ Heilt rett/ VAKSENRØYST/ Og nu er heilt tomt i hovudet mitt/ Og kjem ikkje på meir å seia/ BARNERØYST/ Ja/ Ja slik er leiken/ Kort pause/ Og så hopper du/

Beim zweiten Versuch, zum Hüpfen zu animieren, beschwichtigt das Kind, dass doch niemand die Sprungversuche sehen könnte, womit der meta-theatrale Bezug auf das freie und zugleich geregelte Spiel der Theaterinszenierung explizit hervortritt. Das Spiel im Spiel verwandelt sich zu einem kleinen Stimmen-Spiel über das Spielen.

Obwohl das Kind kritisiert, dass seine erwachsene Begleitung das Spiel eigentlich nicht verstanden habe und die ‚freie Schöpferkraft‘ des Kindes nicht akzeptiere, begnügt es sich; immerhin wurde doch eine Variante des anfangs vom Kind ersehnten Spiels verwirklicht. Diejenigen, die Fosses Dramatik eigenmächtig übertragen, umformen oder medial und multimodal in Bewegung versetzen, dürfen sich also bestärkt sehen.

Bei der Reaktualisierung von Fosses Werken werden zukünftig aller Voraussicht nach szenische Lesungen am Theater sowie Hörspiele, Hörbücher und vielfältige intermediale Kombinationsformate im Zeichen zunehmender Medienkonvergenz erfolgreich sein. Dies dürfte sich auf neue Inszenierungen und Adaptionen ‚frei nach Fosse‘ auswirken und interessante Wechselwirkungen entfalten. Dabei wäre durchaus möglich, dass der Autor selbst die Effekte von Gattungskombinationen und unterschiedliche intermedialen Alternativen bereits in der Konzeptionsphase bedenkt.

Für anregende Gespräche über u.a. Ein Leuchten und I svarte skogen inne danke ich den Teilnehmenden des Podiumsgesprächs „Die drei Genres des Jon Fosse“ an der Universität Wien/ Abteilung Skandinavistik am 24. April 2024 sehr herzlich: Suzanne Bordemann, Uwe Englert, Andreas Karlaganis, Dörte Lyssewksi und Arild Vange.

  • Jon Fosse: Kvitleik. Forteljing. Oslo: Samlaget, 2023.
  • Jon Fosse: I svarte skogen inne. Skodespel. Oslo: Samlaget, 2023.
  • Jon Fosse. „Leike leiken. Lydspel för to røyster“, in: Syn og Segn, Nr. 4, 2023, S. 19-32.

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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Landwirtschaft im Fadenkreuz gesellschaftlicher Entwicklungen

Die Zeit der Bauernromane schien vorbei zu sein in unserer globalisierten High-Tech Welt. Nachdem in der skandinavischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts die Landwirtschaft nicht nur ein wichtiges Thema gewesen war, sondern Autoren wie Knut Hamsun oder Martin Andersen Nexø diesem Sujet die Ambivalenzen der Moderne eingeschrieben hatten, war das Landleben in der zweiten Jahrhunderthälfte eher der Idylle vorbehalten. In jüngerer Zeit aber ist im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten um Ökologie, Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit und gesunde Ernährung ein neues Interesse für das Lokale, das Landleben und die Landwirtschaft entstanden. Und da Dänemark traditionell ein Agrarstaat war, ist es nicht verwunderlich, dass hier die Landwirtschaft erneut zum Thema auch der Literatur wird.

Der seit langem etablierte dänische Autor Jens Smærup Sørensen (geb. 1946) hatte schon mit seinem Erfolgsroman Mærkedage (Gedenktage) aus dem Jahr 2007 die Aufmerksamkeit auf die agrikulturelle Entwicklung in Dänemark gelegt. Nun folgt mit Evigt i tiden (Ewig in der Zeit) ein formal sehr interessanter Roman. Wenn auch einzelne Kritiker der Konstruktion des Textes verständnislos gegenüberstehen (Jakob Genz in Berlingske Tidende, 13.8.2023), wird der Roman im dänischen Feuilleton überwiegend gelobt, vor allem wegen seiner sprachlichen Qualitäten. Lars Bukdahl schreibt, Jens Smærup Sørensen sei ”i højt stilistisk humør” (Weekendavisen, 15.9.2023; guter stilistischer Laune), und Erik Skyum Nielsen erfreut sich an „Jens Smærup Sørensens mesterskab […] i evnen til at skildre personer dybt indefra og forestille sig fortidens og fremtidens følelser” (Information, 8.9.2023; Jens Smærup Sørensens meisterlicher Fähigkeit, das tiefe Innere von Personen zu zeigen und sich vergangene und zukünftige Gefühle vorzustellen). Und Martin Gregersen nennt den Roman treffend: ”på én gang herligt traditionel og vildt moderne” (Kristeligt Dagblad, 9.9.2023; gleichzeitig herrlich traditionell und aufregend modern).

Ein Ort – vier Zeiten

Der Ort der Handlung ist das fiktive Dorf Skovby, das sich auf die Gegend zwischen Nibe und Løgstør in Himmerland lokalisieren lässt und den Fixpunkt der weit gespannten Erzählung bietet. Denn die Handlungszeit umfasst markante Stationen einer mehr als 250-jährigen Geschichte. Sie spielt sich auf vier Ebenen ab und gliedert den Roman in drei große historische Kapitel und eine in der nahen Zukunft angesiedelte Rahmenhandlung, die zwischen die Großkapitel geschaltet ist sowie den Roman eröffnet und beschließt. So entfaltet sich ein historischer Bogen, der wichtige Phasen der dänischen Landwirtschaftsgeschichte beleuchtet, die gleichzeitig markante Epochenschwellen dänischer Geschichte ausmachen: die bedeutenden Landreformen in den 1790er Jahren, als im Zuge einer Flurbereinigung die Dorfgemeinschaften zugunsten von individualisierter und neu gegliederter Bodennutzung aufgelöst wurden, die Zeit der Genossenschafts- und Volkshochschulbewegungen und der Produktivitätssteigerung Ende des 19. Jahrhunderts sowie die gegenwärtige Transformation des Agrarsektors, wobei sich eine industrielle und eine ökologisch ausgerichtete Richtung unversöhnlich gegenüberstehen. Durch die Rahmenhandlung, die nach einer nicht definierten (und den handelnden Personen unerklärlichen) Katastrophe spielt und einen zögernden Neubeginn nach Jahren der Dunkelheit, der Verödung des Landes, des Hungers, vieler Todesfälle und zusammengebrochener Kommunikation andeutet, bleibt es offen, ob die gezeigte Entwicklung ein Fortschritts- oder ein Niedergangsmodell abbildet. Die fortschreitende Effizienz- und Ertragssteigerung, die Erhöhung des Wohlstands und die Verbesserung der Lebensbedingungen stehen der zunehmenden Technologisierung und Entfremdung von der Arbeit, der (für Mensch und Tier) ungesunden Massentierhaltung, der Umweltbelastung durch Pestizide, Düngemittel und Gestank sowie dem Beitrag der Agrarwirtschaft zur Klimaerwärmung gegenüber. Wenn auch die Sympathien auf der Seite der nunmehr ökologisch wirtschaftenden Protagonisten liegen, bleibt dennoch unentschieden, welches der aktuell vorherrschenden Landwirtschaftsmodelle sich durchsetzen wird, ebenso wie unklar bleibt, was die offensichtlich globale Katastrophe ausgelöst hat.

Geschichte als Geschichten erzählen

Dieser Ambivalenz wird nicht nur durch die Struktur des Romans Ausdruck gegeben, sondern auch durch die narrative Präsentation. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Familie von Lone und Jakob Gojesen, erzählt wird aber auch von ihren vier Kindern, ihren Bediensteten und ihren Nachbarn sowie diversen anderen Familien aus Skovby. So entsteht ein polyphoner Roman, in dem eine Vielzahl von Stimmen und Meinungen ohne Wertung nebeneinander montiert ist. Eine übergeordnete Erzählebene ist kaum vorhanden, die Narration ist (vor allem im dritten Teil) dialogreich, in erster Linie aber durch wechselnde Fokalisierung auf die Gedankenwelt diverser handelnder Personen charakterisiert. Diese Art der narrativen Präsentation bedeutet auch, dass die historischen Ereignisse nicht aus einer auktorialen Perspektive berichtet werden, sondern nur implizit durch das Figurenbewusstsein gefiltert hervorgehen. Es gibt keine Jahreszahlen oder Nennung von Fakten; die den dänischen Lesenden sicher in groben Zügen bekannten Geschehnisse lassen sich nur aus den Konsequenzen erschließen, die sie für das Leben und Arbeiten der Menschen haben.

Der Clou der Narration ist, dass wir die gleichen (oder dieselben?) Personen auf allen vier Handlungsebenen treffen, wobei sie nur um wenige Jahre gealtert sind: Ein historischer Verlauf von gut 250 Jahren wird mit ca. 30 Jahren im Leben der Menschen analog gesetzt. Damit wird der etwas rätselhafte Romantitel Evigt i tiden auf der Figurenebene umgesetzt: Er deutet auf ein Geschichtsverständnis, das zwar evolutionär, aber nicht teleologisch ausgerichtet ist, das von Veränderung und Entwicklung ausgeht, aber auch Gleichbleibendes annimmt, das menschliches Miteinander sowie familiäre und nachbarschaftliche Konflikte betrifft. Während die Agrarthematik also den Horizont der Handlung ausmacht, sind es Emotionen, Beziehungen und zwischenmenschliche Konflikte, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie entstehen nicht zuletzt, weil die handelnden Personen in ihrer jeweiligen Zeit mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sind, die auf ihr Leben einwirken und die sie bewältigen müssen. Doch Liebe, Stolz, Schuld, Zweifel, Angst und Trauer werden keinesfalls als zeitlos präsentiert, sondern durch die jeweilige historische Situation unterschiedlich kontextualisiert und ausgeprägt. Im 18. Jahrhundert sind es z.B. das lange Leiden und der schwere Tod der alten Mutter, der das Ehepaar Lone und Jakob bewegt, im 19. Jahrhundert ist es die ungewollte Schwangerschaft der Tochter Margrethe, die nicht nur ihrem Vater verborgen bleibt, sondern auch für die Lesenden nie direkt ausgesprochen wird. Auf der Gegenwartsebene dann sind es die sehr unterschiedlichen Lebenswege der vier Kinder, die urbane und globale Milieus in die Handlung integrieren und mit der Tochter Else den Protest gegen die moderne technisierte Landwirtschaft auch politisch artikulieren.

Sprache als Fremdheitsbarriere

Nicht nur strukturell, sondern auch sprachlich gibt sich der Wandel Ausdruck. Denn erzählt wird überwiegend in erlebter Rede und mit ständig wechselnder Fokalisierung aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Menschen des 18., des 19. und des 21. Jahrhunderts sprachlich und gedanklich durch ihre jeweilige Zeit geprägt sind. So wird in den historischen Kapiteln eine ganze Reihe von dialektalen Wörtern verwendet, die aus der Sprache der dänischen Gegenwart verschwunden sind. Entscheidend aber ist, dass nicht jeweils einleitend explizit markiert wird, in wessen erlebte Rede und Gedanken wir als Lesende gerade eintauchen. Dadurch fügt der Roman eine gewisse Fremdheitsbarriere ein, die die historischen Personen in den beiden ersten Großkapiteln auch als solche hervortreten lassen. Eine besonders lustige Passage führt uns in die Gedankenwelt des geisteskranken Königs Christian VII, der zu Besuch nach Skovby kommt und für seine Landreformen verehrt werden will:

„Men så sætter jeg mig. De beder mig så mindeligt, jeg er nådig. Af Guds nåde, det forpligter, hvor meget jeg end foretrækker at vandre. Rundt om bordet, med og mod uret, med henblik på at tjene rigets interesser går jeg af og til ned på knæ. Det er af ikke ringe betydning at anskue dem fra enhver vinkel. Jeg lægger mig på gulvet og betragter deres hvide lægge.” (40)

„Aber ich setze mich. Sie bitten mich so inständig, ich bin gnädig. Von Gottes Gnaden, die verpflichtet, wiewohl ich es auch vorziehe zu wandern. Um den Tisch herum, mit und gegen die Uhr, im Hinblick darauf, den Interessen des Reiches zu dienen, gehe ich ab und zu in die Knie. Es ist von nicht geringer Bedeutung, sie aus jedem Winkel anzuschauen. Ich lege mich auf den Boden und betrachte ihre weißen Beine.“

Meist aber sind es die Protagonisten Jakob und Lone, deren Perspektiven, Gefühle und Überlegungen vermittelt werden. So steht Jakob dem Wunsch seiner Frau, eigenständig ein Stück des Ackers umzupflügen, verständnislos gegenüber, doch sie setzt sich durch und er muss mit ansehen, wie sie sich tapfer quält bei der Urbarmachung der Heide:

„Selvfølgelig havde han ikke tilladt hende at trække af sted med studene. Hun kunne følge med ham hvis hun ikke havde andet at tage sig til. Hvis der ikke var nok at gøre med husholdningen, børnene, med at koge og bage, vaske, salte og sylte, og lappe og hvad hun ellers lavede. Hun kunne få lov til at følge med ham ud på heden. Ja, hun kunne da, hvis det endlig skulle være, også godt få lov til at prøve sig, hvis det virkelig skulle være dét hun var så opsat efter og så forhippet på, og var han bange for det, for noget som helst, nej sgu da, værsgo, ploven er din! Så længe hun orkede. Skulle blive sjovt at se.”

„Selbstverständlich hatte er ihr nicht erlaubt, mit den Ochsen loszuziehen. Sie konnte mit ihm kommen, wenn sie nichts anderes zu tun hatte. Wenn da nicht genug zu tun war mit dem Haushalt, mit den Kindern, mit dem Kochen und Backen, Waschen, Salzen und Einkochen und Flicken und was sie sonst so machte. Sie durfte doch mit ihm zusammen auf die Heide gehen. Ja, sie konnte doch, wenn es unbedingt sein musste, es auch selbst mal versuchen, wenn es wirklich das war, was sie unbedingt wollte und so wild drauf war, und hatte er Angst davor, vor irgendwas, nein verdammt, bitte, der Pflug gehört dir! So lange wie sie es schaffte. Würde lustig aussehen.“

Ein Ehekonflikt über weibliches Emanzipationsstreben im bäuerlichen 18. Jahrhundert zeigt „das Ewige in der Zeit“, wie der Titel des Romans programmatisch ankündigt. Die Figuren sind Repräsentanten ihres Standes und ihrer Zeit, aber auch durch individuelle Schwächen und Konflikte als Charaktere gezeichnet. Diese erzählerischen Mittel und die komplexe Struktur machen einen vielschichtigen Roman aus, der mehr ist als ein ökokritischer Debattenbeitrag: ein Regionalroman mit repräsentativem Anspruch, ein historischer und ein Gegenwartsroman über die gesellschaftliche Bedeutung und die aktuelle Problematik der Landwirtschaft, aber auch ein Roman mit dystopischen Zügen, der vor den Gefahren der aktuellen Entwicklung warnt. Unentschieden bleibt, wie und ob die globale Katastrophe der Rahmenhandlung mit der Entwicklung der Landwirtschaft zusammenhängt. In jedem Fall tragen die erzählerischen Mittel dazu bei, die Landwirtschaft als im Fadenkreuz der gesellschaftlichen Entwicklung stehend hervortreten zu lassen.

Jens Smærup Sørensen: Evigt i tiden. Roman, København: Grif, 2023.

(Annegret Heitmann, LMU München)

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Kleine Ode an die Unwahrscheinlichkeit

Peter Adolphsens Kurzroman Ellepigen Pif & 42, den tavse guru, der im April 2024 erschienen ist, hat viel zu bieten. Dem Text wäre eine Übersetzung ins Deutsche und in weitere Sprachen nur zu wünschen. „Das Elfenmädchen Pif und der schweigende Guru 42“ steht in einem weit gefassten Zusammenhang mit Brummstein (dänisch 2003, deutsch 2005 von Hanns Grössel) und Machine (dänisch 2006, deutsch Das Herz des Urpferds 2008 von Hannes Gröschel).

Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen, an zwei Schauplätzen und zeitlich versetzt: 1) Der erste Handlungsstrang spielt in Aalborg in den 1980er Jahren, wo eine Elfen-Familie mit drei Teenagertöchtern, darunter Pif, und eine menschliche Familie mit dem Sohn Peter leben. Dieser Teil ist mit einem fulminanten Auftakt über das Paralleluniversum versehen, näher bestimmt als „astralplanet, åndeverdenen, det swedenborgske rum“ („Astralplanet, Geisterwelt, Swedenborg’scher Raum“, S. 10), und kommt spielerisch-charmant daher. Die Elfen und andere ‚Unterirdische‘ wohnen in Elektrogeräten und anderen an das Stromnetz angeschlossenen Apparaturen wie Neonreklamen, Ventilatoren, Stromkästen oder Ampelgehäusen. In diesen Quartieren ernähren sie sich von Staubpartikeln, die sie mittels Stromnutzung auch in Übertragungsenergie verwandeln können: Astralwatte und Astralnebel. Dieser Wirkstoff verleiht den Elfen die spezielle Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle ausgewählter Menschen sehr konkret ‚hineinversetzen‘ zu können. In einer Mondscheinnacht invadiert die Elfe Pif die Innenwelt des Jungen Peter und verführt ihn dazu, den Turm von Aalborg zu erklimmen, wo sie für seinen Absturz sorgt. Mit Peters inszeniertem Suizid und dem einseitigen tragischen Liebestod will die psychotisch gewordene Pif ihre eigene Schuld kompensieren, da sie zuvor unwillentlich den tödlichen Unfall ihrer Mutter bei einem Kurzschluss ausgelöst hat.

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2) Der zweite Handlungsstrang entfaltet sich auf dem Wüstengrundstück lot 42 an Rackensack Canyon Road in Arizona in den 1960er Jahren. Drei Autoreisende geben sich einem LSD-Rausch hin, woraufhin Denis Bixel, der sich später Phorty Too nennt und unfreiwillig zum Sektenbegründer wird, eine Feengestalt mit den Worten erscheint: „Du sitzt unter einem Schild, das dir die ultimative Wahrheit verrät: 42. Und du sitzt im Garten des Paradieses.“ („Du sidder under skiltet med den ultimative sandhed: 42. Og du sidder i Paradisets Have.“, S. 23) Phortys Oase lockt erst die aus Mexiko geflohene, misshandelte und verstummte Carolina Cabomba an, die Schutz bei Phorty findet, und dann eine Gruppe von Hippies, in der Todd die Führung beansprucht. Allerlei Zahlenmystik wird betrieben, um zu begründen, warum just dieser zufällig angesteuerte Ort ein spirituelles und ökologisches Epiphanie-Erlebnis ermöglicht, so dass alle Elemente in einer höheren Einheit aufgehen. Der Aufstieg und Fall der Sekte „The Cult of 42“, die bis in die Mitte der 1980er Jahre bestand, wird von einer Figur namens Peter Adolphsen aufgearbeitet, die auf einem Roadtrip durch die USA eine Hinweistafel auf die Wüstenkolonie entdeckt. Die Tafel berichtet vom Massenselbstmord der 42 Mitglieder, die als Jünger von Phorty betrachtet werden, im Jahr 1984. Niemand ahnt, dass Phorty noch lebt und dass Carolina den Sektenmitgliedern ein Ende bereitete. Diese drastischen Ereignisse bilden ein Pendant zum tragischen Liebestod des abgestürzten Teenagers Peter.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=CANYON+Arizona&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image

Aalborger Schaltkreise

Es sind nicht nur parallel geführte Ereignisse oder ähnliche Figurencharakteristiken, die beide Romanstränge verbinden, sondern auch die Aalborger Elfen, deren Einfluss bis nach Arizona reicht. Außerdem verschalten Themen und Denkfiguren, die in früheren Romanen Adolphsens durchgespielt worden sind, die Verwicklungen in Jütland und die Entgleisungen in Arizona: Das Verhältnis von romantisierender Naturwahrnehmung zu wissenschaftlicher Kategorisierung, poetische Potenziale einer Wiederverzauberung der technisierten Alltagswelt, die Denkfigur des sich verzweigenden Netzwerks in den Anthropozän-Debatten, zirkuläre Verläufe und mythische Zeitkonzepte ꟷ und vor diesem Hintergrund wiederum die völlig unvorhersehbare oder unwahrscheinliche Verkettung von Ereignissen. Das narrative Setting ermöglicht eine Erweiterung des Fantasy-Genres sowohl hinsichtlich der Elfenthematik als auch hinsichtlich der Science fiction, so dass eine Intellektualisierung dieser beiden überwiegend als populär geltenden Genres stattfindet. Im Unterholz des verdichteten Formats lässt sich aber auch einige Polemik gegen naive Esoterik und gegen gängige psychologische Erklärungsmuster menschlichen Verhaltens unterbringen.

Besonders faszinierend erscheint, wie Ellepigen Pif die Macht des Zufalls nicht nur demonstriert und erzählerisch bis ins kleinste Detail nachvollzieht, sondern Kontingenz und Beliebigkeit satirisch maßlos übertreibt. Einerseits werden kausale Erklärungen sabotiert, andererseits neue intrikate Herleitungen herbeifabuliert, oft in sachlichen Deskriptionen formuliert oder im wissenschaftlichen Duktus gehalten. Diesen Griff verwendet der Autor seit längerer Zeit, versteht es aber, das Verfahren mittels der komplexer gewordenen Genrekombination und durch die Bezugnahme auf digitale Quellen auf verblüffende Weise zu erneuern.

Die Erzählstränge zeichnen sich darüber hinaus durch ein metafiktives Binnenmanöver aus: Die Elfen spielen, dass sie in einem Hofstaat leben (wie u.a. aus H.C. Andersens Märchen bekannt). Indem sie sich in menschliche Innenwelten begeben, suchen sie ein ‚Traumtheater‘ auf. Sie verschaffen sich – invasiv oder auch parasitär wie die Figuren der Pilzmyzelien, die für den zweiten Strang entscheidend sind ­– Zugang zu einem quasi cineastischen Medium (dem Menschen), der ihnen eine eskapistische Auszeit ermöglicht. Diese Rückzugsphase ist sozial orientiert und zugleich doch verinselt, ganz ähnlich wie der protokollierte Fernsehkonsum von Peters Familie, der in einer ethnographisch anmutenden Tabelle mit köstlich absurden Inhaltsangaben zu den Sendungen dargeboten wird: Von der Jugendsendung um 15 Uhr, zu der Peter und sein Bruder eine Scheibe Schwarzbrot mit Makrelensalat verzehren, bis zu den Abschlussnachrichten, bei denen der Familienvater von Rotwein und Zigaretten auf Porterbier und Zigaretten umschaltet (vgl. S. 50-54). Die Familie schaut übrigens ab 19.45 Uhr gemeinsam ein archäologisch-ethnographisches Quiz mit Zuschauerbeteiligung, was natürlich als Kommentierung der Unerklärlichkeiten in Ellepigen Pif & 42, den tavse guru gedeutet werden kann oder soll: „Hvad er det?“ („Was ist das?“, S. 53). Der humoristische Effekt des ethnographischen Blicks auf die Alltagsroutinen wird durch das erzählerische Timing gesteigert, indem der halbe Fernsehtag erst dann präsentiert wird, nachdem die medialen Tricks der Elfen und die Wirkung von LSD eingeführt worden sind. Überhaupt besteht ein großer Teil des Lesevergnügens im Staunen über das Timing bei der wechselseitigen Kommentierung der Stränge. Ebenso vergnüglich ist die inszenierte Mündlichkeit mit ihren Klangeffekten (etwa durch Binnenreime und code mixing). Das modernisierte Märchenspiel flirtet mit realistischen Referenzmöglichkeiten und macht sich gleichzeitig wie nebenbei über eine potenzielle autobiographische Lesart lustig (Adolphsen 1972 geb. in Aalborg), ohne diese Option auszuschließen.

Pif war halb Elektrizitäts-Mädchen und halb Süßwasseralf, weil ihre Mutter, Fafarelle, ursprünglich aus einer Alfenfamilie stammte, die sich die Schwimmhalle in Haraldslund mit den Uurpern geteilt hatte (eine Familie von Bachtrollen), seit der Eröffnung des Bades 1959. Sowohl bei Süßwasseralfen als auch bei Bachtrollen war das Chlorwasser sehr beliebt: Sie fühlten sich die ganze Zeit sauber, und auf paradoxe Weise roch es immer so gut.

Pif var halvt elektricitets-ellepige og halvt ferskvandsalf, fordi hennes mor, Fafarelle, oprindeligt var ud af en alfeslægt, som havde delt svømmehallen Haraldslund med Uurperne (en familie af bæktrolde), siden den blev opført i 1959. For både ferskvandsalfter og bæktrolde var klorvandet eftertragtet: De følte sig rene hele tiden, og det duftede så dejligt på en paradoksal måde.“ (S. 25)

Dieser Blick auf ein provinzielles Hallenbad widerspricht einer Komplett-Rationalisierung der heutigen Lebenswelt. Eine Wiederverzauberung selbst des Unscheinbaren scheint, nicht allein durch Nostalgie, selbst im technisch-medial-digitalen Zeitalter mit fiktionalen Mitteln durchführbar.

Der Pif-Roman ist im Anfangsteil oft leicht und licht wie der ephemere Elfenname in Titel, in seiner dunklen Sektenthematik und in den Gewaltschilderungen wirkt der Roman dagegen schwer und schwarz. Dabei wird der bittere Ton relativiert durch das Spiel im Spiel der Figuren auch in Arizona (sowie durch fiktionsmarkierende intertextuelle Bezüge): Die Gruppe um Phorty zitiert lediglich die Rituale einer Sekte und legitimiert dadurch Todds Machtansprüche. Ohne direkte eigene Mitwirkung wird Phorty die Rolle des Gurus zugewiesen, da er das Sprechen beinahe verlernt hat, in den stillen Jahren der mit Carolina Cabomba geteilten Einsamkeit. Carolina bleibt bis zum Showdown im Kampf mit Todd in ihrem Versteck im Wald verborgen. Die ersten Hippies halten Phorty für einen weisen Eremiten und deuten das Klopfen seines Wanderstabs auf den Boden als Zustimmung oder Ablehnung, sogar als gemeinschaftlich das phrasenreiche Gründungsmanifest für die Sekte „Cult of 42“ verfasst wird, das später im Buchhandel zirkuliert („The 42nd Paradise“ 1978). Natürlich fühlen wir uns durch den markierten Einsatz derartiger Requisiten wie des Stabes sogleich an die Ausstattung des elfischen Hofstaates erinnert: „der Wortmeldungs-Apfel, das Mecker-Zepter und die Ich-darf-bestimmen-Krone („snakke-æblet, brokke-sceptret og bestemme-kronen“ S. 17). Die pseudo-archäologisch inspirierte Suche der Autorfigur nach Hinterlassenschaften der 42-Sekte zwischen Flagstaff und Phoenix ist sowieso schon im Voraus ironisiert.

Bitterböse Aussteigerwelt

Bereits im zynischen postapokalyptischen Kurzroman År 9 efter Loopet („9 Jahre nach dem Loop“ 2013) wird Gewalt in exzessiver Weise geschildert, vermittelt durch den misogynen Antihelden Mark, dessen Berserkergang bezeichnenderweise durch die Forscherin Sushmita gestoppt wird, die den Loop mittels ihrer wissenschaftlichen Erfindung rückgängig macht. Sushmita verbindet das Wieder-in-Gang-Setzen der Welt beiläufig mit Marks Exekution, obwohl dieser noch kurz zuvor ihr Liebhaber war. Im Pif-Roman ist die Figur Carolina Cabomba, der Phorty das Leben rettet, nachdem sie auf das Schwerste misshandelt und sexueller Gewalt ausgesetzt worden war, nicht etwa Retterin der Menschheit, sondern planlos agierende exzessive Rachegöttin. Als unheilvolles 43. Mitglied hat sie abseits der Kolonie gelebt. Durch das Zusammenwirken eines Pilzes, einer südamerikanischen Elfenfigur (Alux) bei einem tätlichen Angriff des Oberhippies Todd wird – wie durch einen Kurzschluss – Carolinas Rache für die an ihr begangenen Verbrechen entfesselt. Auf groteske Weise wird damit auch die über die Kolonie hinausgehende, zeittypische patriarchale Machtvollkommenheit gesühnt. Phorty, mit dem Carolina zwei Jahrzehnte in schweigender platonischer Harmonie verbracht hat, hält nach der Mordaktion weiter zu ihr, was zumindest anteilig Aalborger Elfeneinfluss geschuldet ist: Pifs atmosphärische Überreste, die von Aalborg mit dem Jetstream in den Südwesten der USA übertragen werden, nimmt Phorty über eine Schneeflocke auf. Von der romantischen Liebe infiziert, kümmert er sich fürsorglich um die nun hoch gefährliche Carolina, damit sie der Jagd nachgehen und ihre blutrünstigen Aggressionen kompensieren kann. An dieser Stelle könnte der holperige Neustart des Paares im höllenhaften Paradies wieder einsetzen. Aber selbstverständlich kommt es ganz anders: Als Phorty seine Partnerin nach Jahrzehnten stummer Keuschheit zum ersten Mal küsst, löst sich Carolina Cabomba in einen stinkenden Teerklumpen auf. Diese schwarzklebrige Substanz hinterlässt zwei symmetrische Flecken in Phortys Gesicht, die die Konturen eines Rorschachtests haben (vgl. S. 140). Mit dieser Szene wird zum einen das romantische Liebeskonzept zersetzt, zum anderen jeglicher Psychologisierung literarischer Charaktere eine hämische Absage erteilt.

Erkundungen der wechselseitigen Ansteckung von Genres und der digitalen Recherche von literarischem Stoff

Adolphsens Kurzroman feiert die Unvorhersehbarkeit, wobei eine paradoxe Dynamik hervortritt: Obwohl auf Seiten der Lesenden die Erwartung besteht, dass sich Optionen für die wechselseitige Erhellung der Stränge ergeben, werden sie bei fortgesetzter Lektüre möglicherweise erstaunt oder irritiert darauf reagieren, welche Interferenz dann jeweils in Kraft tritt oder dass die angeführte Erklärung wenig plausibel oder haarsträubend sein mag.

Der Themenkomplex ‚Zufall‘ und ‚Konditionen und Prämissen von Wahrscheinlichkeit‘ ist zudem in der intertextuellen Konstellation begründet. Das Figurenverzeichnis zu Beginn, mit seinen 19 Namen, bereitet die Lesenden auf den kruden Genremix vor. H.C. Andersens Märchenwelt trifft auf Thomas Pynchons Crying of the Lot 49 (1965) und Douglas Adams The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy (1984). Die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts und die Folkloristik treffen auf das Genre Graphic Novel, wenn es heißt, dass sich der dunkle hohle Rücken einer Elfenschwester bei den Discotanz-Pirouetten so schnell dreht, dass nur noch ein verwischter schwarzer Strich zu erkennen ist (vgl. S. 18). New Age-Schriften der 1970er und 1980er treffen auf medizinhistorische Miasmentheorien und Corona-Verschwörungsmutmaßungen. Darüber hinaus werden Beiträge zur Erforschung von Pilzmyzelien oder psychoaktiven Substanzen sowie ethnographische Materialien synthetisiert. Das intertextuelle Konstrukt wird vorausweisend veralbert: Anspielungen und Zahlencodes seien „easter eggs“, eigens versteckt, um von den Lesenden gefunden zu werden (vgl. S. 20). Einige der überbordenden Details führen denn auch erwartungsgemäß in die Irre.

Der Pif-Roman tritt als ein Demonstrationsbeispiel für gestaltbare Un-Wahrscheinlichkeiten hervor und weist das Unwahrscheinliche – und im Hinblick auf die Elfen sogar das romantische ‚Wunderbare‘ – als zentrales Kompetenzgebiet von Literatur und Kunst aus. Selbst in einem kompositorisch strengen Konstrukt lässt sich eine Vielfalt der Optionen improvisierend und tastend hervorschreiben. Im Gesamtplot triumphiert das Böse in Form der Pilzmyzelien und der dämonischen Einflüsse übel gesonnener ‚Unterirdischer‘ über die spontanen und kaum reflektierten Handlungen der Aalborger Elfen. In beiden Strängen wird Intentionalität in Frage gestellt, nicht zuletzt weil sich Ereignisketten während des Geschehens grundlegend wandeln oder Einflüsse von außen die Oberhand gewinnen. Ein Initialereignis ist als solches später weder zu identifizieren noch anhand seiner Folgen oder Resultate rekonstruierbar.

Wie die obigen Fotos aus Wikimedia Commons verdeutlichen sollen, ist die Wahl der Schauplätze markiert fiktiv: Geschichten aller Art können heute jederzeit ‚ergoogelt‘ oder von KI zu Text prozessiert und zu Literatur deklariert werden. Komplexere poetische Griffe und eine mehrdimensionale Spracharbeit dürften indessen bis auf weiteres dem Esprit schreibender Personen vorbehalten bleiben. Nichtsdestotrotz macht der Roman selbst auf die Relevanz digitaler Ressourcen aufmerksam, wie auch der Rezensent Alexander Vesterlund verzeichnet (Politiken 23.5.2024): Er beobachtet den Einsatz von ‚Wikipedia-Sprache‘, die er stilistisch als „beladen mit Substantiven und reich an Feststellungen“ („substantivtung og rig på konstateringer“) bestimmt. Dennoch handelt es sich nicht um einen Nominalstil, der in den Bizarrerien des Handlungsverlaufs schwerfällige Bocksprünge unternimmt; vielmehr wird eine assoziativ schwebende und etwas unverbindliche sprachliche Recherchespur hinterlassen, die surfenden Suchbewegungen entsprechen mag. Viele der Lesenden werden nämlich voraussichtlich nicht nur von der Suche der „easter eggs“ und von der Auslotung der Verknüpfungsmöglichkeiten absorbiert sein, sondern fragen sich auch nach der möglichen viralen Verbreitung vergangener und aktueller Mythen und Legenden (siehe beispielsweise https://mexiconewsdaily.com/news/what-is-an-alux-amlo-helps-a-mythical-mayan-elf-go-viral/). Diese Stoffe und Themen bilden gleichsam die Astralwatte für das literarische Schreiben.

Für anregende Gespräche bedanke ich mich bei Hannes Langendörfer.

Peter Adolphsen: Ellepigen Pif & 42, den tavse guru. Roman. Gyldendal, 2024.

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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