Den, der lever offentligt / Wer öffentlich lebt – Leonora Christina Skov: Den, der lever stille (2018)

Cover Leonora Christina Skow "Den, der lever stille"In Dänemark ist Leonora Christina Skov, wie man so schön sagt, weltberühmt. Sie hat bislang fünf Romane geschrieben, ist aber auch als Rezensentin, als LGBT-Aktivistin, Feuilletonistin und Herausgeberin aktiv; auf Instagram begleitet sie ihre Aktivitäten medial durch eine Fülle von Fotos. Schon allein durch ihre Medienpräsenz hat sie einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht, der durch ihr neues autobiographisches Buch noch einmal gesteigert wird. Die Rezensenten bemühen Worte wie »hjertskærende, vidunderlig, rørende, bevægende, fantastisk, gribende« (herzzerreißend, wunderbar, rührend, bewegend, phantastisch, ergreifend) und Superlative wie »En stærk læseoplevelse af den ypperligste slags« (ein starkes Leseerlebnis der besten Art; alle auf der Werbeseite des Gyldendal Verlags).

Schon allein die Resonanz, die dieses Erinnerungsbuch in der dänischen Öffentlichkeit ausgelöst hat, fordert eine Beschäftigung damit heraus. Was hat dieses Buch zu bieten und worin besteht seine Faszinationskraft? Etwas grundsätzlich Neues stellt es nämlich nicht dar: Es ist ein Erinnerungs- und Bekenntnisbuch, eine Selbstfindungsgeschichte, eine Auseinandersetzung mit dem Herkunftsmilieu. All das haben wir in Autobiographien schon hundertfach gelesen und um eine Autobiographie handelt es sich, auch wenn »Roman« auf dem Titelblatt steht. Doch zum Genre später mehr.

Das Buch handelt von der Verwandlung der Christina Skov in Leonora Skov. Nach einer zwar gutsituierten, aber freudlosen Kindheit, in der sie sich nicht akzeptiert und besonders von der egozentrischen Mutter nicht geliebt fühlt, beginnt mit der Studienzeit in Kopenhagen die Selbst(er)findung als Lesbe und Schriftstellerin. Dieser Prozess geht einher mit der Namensänderung, dem Studium der Literaturwissenschaft, Lektüre- und Schreiberlebnissen, Liebesbeziehungen zu Frauen und der Entdeckung von farbenfroher Mode, Makeup und Lippenstiften. Das coming out hat den Verstoß aus dem Elternhaus zur Folge – was angesichts der Tatsache, dass er sich im Dänemark der 1990er Jahre abspielt, einigermaßen überraschend ist. Zur Erinnerung: Dänemark war das erste Land der Welt, das bereits am 26. Mai 1989 ein Gesetz zur Registrierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften eingeführt hat. Doch das Buch führt uns in ein Milieu, das offenbar weit entfernt ist von der gesetzgeberischen Liberalität.

Der Text setzt ein mit der Sterbeszene der Mutter, die zwölf Jahre lang an einer Krebskrankheit gelitten hat. Schonungslos wird nicht nur das Sterben, sondern auch die Entfremdung und Kälte zwischen Mutter und Tochter geschildert, die durch Rückblicke in die Kindheit intensiviert werden. Das Aufwachsen der Ich-Erzählerin war geprägt durch die Lieblosigkeit einer Mutter, die selbstbezogen, möglicherweise sogar psychisch krank, auf jeden Fall aber ohne Empathie für ihr Kind war. Immer standen ihre eigenen Gefühle im Zentrum, das Kind muss sich stets in Relation zur Mutter verhalten. Zudem herrschten im Elternhaus strenge Regeln: Geschlafen wird im eigenen Bett und im Dunkeln, Süßigkeiten sind verboten, das Haar wir streng zurückgekämmt, gute Noten sind selbstverständlich. Jegliches Zuwiderhandeln wurde nicht nur bestraft, sondern immer als Auflehnung gegen die Mutter interpretiert. Eine solche Erziehung produziert permanente Schuldgefühle des Kindes, die nur durch Fluchten in Fantasiewelten erträglich werden. Insofern wird eine extreme Kindheitserfahrung beschrieben. Anderseits enthält das Porträt der Mutter durchaus etwas Geschlechtstypisches: Der Roman entwirft das Bild einer sich zwanghaft über die Mutterschaft definierenden Frau, für deren fehlende Eigenständigkeit die Tochter verantwortlich gemacht und bestraft wird.

Die Ablehnung durch die Mutter erreicht ihren Höhepunkt, als die Tochter, nachdem sie zum Studium nach Kopenhagen gezogen ist, ihr coming out als Lesbe hat. Auch das wird in Relation zur Mutter und zum Elterhaus verstanden und als absolut inakzeptabel bewertet. Die Tochter verstößt damit nicht nur gegen die heteronormativen Vorstellungen der Eltern, sondern auch gegen eine der Grundregeln des Elternhauses, die da lautet »Den, der lever stille, lever godt« (Wer still lebt, lebt gut). Es dürfte auf eine große Anzahl von Mädchen zutrfeffen, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren erzogen wurden, dass sie die Maxime des »Was sollen denn die Leute denken« zu beherrschen hatten. Die streng normierte Mädchenerziehung, die als Berufswunsch höchstens Krankenschwester oder Kindergärtnerin akzeptierte, die Schminke und schicke Kleider als unmoralisch abwertete und die jede Widerrede als Liebesentzug gegenüber der Mutter bewertete, war sicher kein Einzelfall und könnte sozialhistorisch und -psychologisch hergeleitet werden. Die extreme Form der empathielosen Erziehung, die dieses Buch beschreibt, verlangt aber eher nach einer individual- oder tiefenpsychologischen Erklärung. Beides bleibt in diesem Text jedoch aus, er steht ganz im Zeichen des Selbstfindungsverlaufs.

Als Schritt heraus aus dem repressiven Elternhaus erfolgt im Handlungsgang des Textes nun »En ny begyndelse« (Ein Neuanfang), wie eines der elf, sehr unterschiedlich langen Kapitel heißt, das genau in der Mitte des Buches platziert ist. Ab diesem Zeitpunkt ändert sich der Charakter des Textes, es folgt eine lebhafte Schilderung des Daseins in der neuen großstädtischen Umgebung und Porträts neuer Freundinnen sowie zahlreicher Liebhaberinnen. Auch das Studium der Literaturwissenschaft und die Liebe zur Literatur, die schon seit frühester Kindheit auch das eigene Schreiben umfasst hatte, gehört zu dieser neuen Identität, beschränkt sich jedoch auf name-dropping und erhält in der Darstellung weit weniger Gewicht als die Veranschaulichung von Kleidern und Lippenstiften, Möbeln und Bars. Die vielen Beschreibungen von »røde glimmersko med plateau […] og min pinupkjole [med] leopardkanter« (314; roten Glitzerschuhen mit Plateausohlen […] und mein[em] Pinup-Kleid [mit] Leopardenkanten) erinnern an Mode-Blogs und sind oft geprägt von Klischees. Will man wirklich wissen, welches Parfum und welche Lippenstiftfarbe die Ich-Erzählerin jeweils bevorzugt? Und will man – als Leser*in – alle die Ingrids, Kikis, Marias, Jannis, Ellinors, Louisas, Pias, Dortes, Julies usw. wirklich kennenlernen? In dem (viel zu) langen Mittelteil verliert die Autorin die im Anfangsteil eröffnete Thematik der Beziehung zur Mutter aus den Augen und ergeht sich wortreich in Beschreibungen ihres Kopenhagener Milieus. Hätte sie sich doch an den Dialog mit der Verlegerin ihres ersten Romans erinnert, die sie ermahnt hat, ihren Text nicht zu überladen und zu erkennen, »at det handlede lige så meget om at holde igen« (296; dass es ebenso darum ging, sich zu beschränken). Diesen Rat hat sie leider in ihrem autobiographischen Werk nicht befolgt. Es gerät diesem Text nicht zum Vorteil, dass die Autorin sich auf 2000 Seiten Tagebuchaufzeichnungen stützen konnte, wie sie selbst angibt. Weniger wäre mehr gewesen.

Gegen Ende kehrt das Buch zu der sterbenden Mutter und der Mutter-Tochter-Beziehung zurück. Jetzt scheint sich das Verhältnis gebessert zu haben; psychologisch ist der harte Kontrast von dem schonungslosen Anfang zum eher versöhnlichen Ende nicht ganz nachvollziehbar, der Bogen über den munteren Mittelteil hinweg wird nicht wirklich überzeugend gespannt. Was vor allem verwundert, ist in Zeiten von Autofiktion und Selbstreflexivität die fast völlig fehlende Genrereflexion des Textes. Die Autorin ist immerhin ausgebildete Literaturwissenschaftlerin (mit einer Examensarbeit und eigenen Texten im Genre »gothic fiction«), doch die Gattung der Autobiographie hat ihr offenbar wenig Kopfzerbrechen bereitet. Dabei wurde das alte Genre von Anfang an von Überlegungen über Wahrheitsansprüche, Erinnerungsvermögen, Selektionsverfahren, Selbstwahrnehmung und Re-konstruktion begleitet. Autobiographie ist nicht nur auto und bios, sondern auch graphein, die Überformung durch Schrift. Im vorliegenden Fall stimmt der Inhalt des Buches in allen Details – bis auf ein paar geänderte Namen – mit den zahlreich vorhandenen Selbstaussagen in journalistischen Texten, Interviews und den sozialen Medien überein. Die angebliche Fiktionaliserung, die die Gattungsbezeichnung Roman erwarten lässt, wird nicht erkennbar; als Ausdrucksform genutzt und markiert ist sie zumindest nicht.

Nach einem formal vielversprechenden Textbeginn, der mit den autobiographietypischen zwei Zeitebenen von ›Damals‹ und ›Jetzt‹ operiert und provokativ den Tod – einen Endpunkt – initial setzt, von dem aus Rückblicke auf Kindheitsepisoden eingeflochten werden, verliert sich zunehmend diese autobiographische Doppelbödigkeit. Zunächst wird auch der Entstehungprozess des Textes selbstreflexiv eingebracht: »Jeg vil skrive om min mor og vores forhold« (S. 44; Ich will über meine Mutter und unser Verhältnis schreiben). Im Dialog mit der Lebenspartnerin Annette wird nicht nur dieses Vorhaben, sondern es werden auch die anfänglich damit verbundenen Schwierigkeiten entfaltet, wobei es allerdings nicht um Darstellungsprobleme geht, sondern eher um ethische Fragen (Auslieferung der dargestellten Personen) und um die eigene Befindlichkeit beim Schreiben. Leider fällt auch dieser selbstreflexive Strang der Erinnerungsfülle des mittleren Teils mit all seinen high heels und Lippenstiftfarben zum Opfer. Eine kleine Passage in diesem bunten Teil enthält dann doch wieder ein wenig Selbstreflexion in einem witzigen Seitenhieb auf die minimalistische »forfatterskole«-Literatur: »Louisa skrev kort-prosa om tomme, hvide lejligheder« (241; Louisa schrieb Kurzprosa über leere weiße Wohnungen) und ihr Leben sieht genauso aus: »Hvide rum og ganske få ting [….] På den halvtomme reol stod der et par dusin bøger, en lille stak cd´er og en enkelt blyant i et glas« (243; Weiße Räume und ganz wenige Dinge […] Auf dem halbleeren Regal standen ein paar Dutzend Bücher, ein kleiner Stapel CDs und ein einzelner Bleistift in einem Glas). Mit wenigen Worten entwirft Skov hier nicht nur eine ironische Charakteristik einer Poetik und einer Lebensweise, sondern nimmt auch eine Abgrenzung dazu vor – sie trennt sich von Louisa und ihrem einsamen Bleistift. Eine solche Passage zeigt gleichzeitig den Wert und die Aussagekraft der sparsam gesetzten Worte, der Andeutungen, die das Buch ansonsten über weite Strecken vermissen lässt.

Es wird kein Zweifel am Wahrheitsgehalt gesät und schon gar nicht an der Bedeutung der vielen Episoden, Menschen, Orte und Songtitel für das erzählte Ich, doch die Relevanz für den Text (und die Leser*innen) ist in vielen Fällen unklar oder nicht gegeben. Die Identitätskonstruktion, die die Autobiographie aufbaut, verläuft bruchlos von einer problematischen Ausgangssituation hin zu einer Selbstfindung – mit Schriftstellererfolg und Liebeglück (mit Annette). Das zweite Anliegen des Textes, das initial gesetzte Rätsel, das das Verhalten der Mutter ihrer Tochter gegenüber aufgibt, wird nicht aufgelöst, auf einen diesbezüglichen Brief am Ende des Textes (der die Gattungskonvention der Gothic Fiction aufnimmt) gibt es keine Antwort. Die Lebenshaltung des »Den, der lever stille« (Wer still lebt) wird nicht wirklich erkundet oder begründet. Statt dessen ergibt sich als der überwiegende Einruck des Buches ein »Den, der lever offentligt« (Wer öffentlich lebt), eine Selbstinszenierung der Erfolgsautorin Leonora Christina Skov, der LGBT-Aktivistin, der Instagram-Selbstdarstellerin. Dem dänischen Lesepublikum hat dieses Programm offenbar gefallen: Die Gewährung voyeuristischer Einblicke in die Lebensgeschichte einer öffentlichen Person lässt sich wohl als modernes Märchen lesen.

Leonora Christina Skov: Den, der lever stille. Roman. Kopenhagen: Politikens forlag, 2018
(Annegret Heitmann, München)

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Poetische Fremdheitsstudie – Jesper Wung Sung: En anden gren (2017)

Jesper Wung Sung ist ein anerkannter dänischer Autor, der seit seinem Debüt im Jahr 1998 ein vielseitiges Werk vorgelegt hat: etliche Romane und Erzählbände, Theaterstücke, Filmmanuskripte und eine große Anzahl an Jugendbüchern. Einige seiner Texte sind ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt worden. Besonders für seine Kinder- und Jugendbücher ist er bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Für seinen jüngsten, sehr umfangreichen Roman En anden gren (Ein anderer Zweig; 534 Seiten) erhielt er den begehrten Preis „De gyldne Laurbær” (Die goldenen Lorbeeren) des dänischen Buchhandels.

Es ist ein bemerkenswerter Roman, der die Geschichte des ungleichen Ehepaares Ingeborg Danielsen und San Wung Sung erzählt, die sich im Jahr 1902 in Kopenhagen kenngelernt haben. Die Namengleichheit zwischen dem Autor und dem männlichen Protagonisten deutet an, dass wir es mit einer Familiengeschichte zu tun haben, der Geschichte von Jesper Wung Sungs Urgroßvater. Eine im Buch abgedruckte Fotografie bezeugt die Authentizität der Romanpersonen. Doch der Roman leistet weit mehr als eine persönlich motivierte Spurensuche; er enthält – neben der familiären Thematik – mindestens vier weitere Verständnisebenen: ein Zeit- und Ortsbild der Jahre 1902 bis 1926, konzentriert vor allem auf Kopenhagen und Berlin, eine postkolonialistisch inspirierte Kritik an Diskriminierung und Rassismus, ein psychologisches Porträt zweier Liebender sowie eine Studie in Fremdheit. Diese Aspekte sind natürlich miteinander verschränkt und erhellen einander. Sie machen aus der Geschichte von San und Ingeborg einen reichen und trotz seiner ungewöhnlichen Geschichte repräsentativen Roman.

Sein erzählerischer Kern besteht in dem Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten im Kopenhagener Tivoli, wo die Bäckereiverkäuferin Ingeborg eine Ausstellung des sogenannten chinesischen Dorfes besucht, dort auf San trifft und sich sofort in ihn verliebt. Beide sind zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt. Zusammen mit einer Gruppe von 33 Landsleuten war San in seiner Heimatstadt Canton angeheuert worden, um als Ausstellungsobjekt dem dänischen Publikum chinesische Menschen, Traditionen und Alltagstätigkeiten vorzuführen, als ein »totaloplevelse af eksotisk virak. Se dér, og dér og dér« (S. 77; Totalerlebnis von exotischem Theater. Sieh dort, und dort und dort). Nach zunächst heimlichen Treffen beschließen die beiden zusammenzubleiben. Er kehrt nicht mit seiner Gruppe nach China zurück und sie nicht in ihr Elternhaus und ihre Bäckerei, aus denen sie wegen der ›Rassenschande‹ verstoßen wird. Es beginnen Jahre der Armut und der Anfeindungen in Abbruchhäusern und mit Gelegenheitsarbeiten, bis sie 1906 die Chance erhalten, nach Frederikshavn zu ziehen, wo San als Kellner eine Arbeit bekommt. Als sie bereits zwei Kinder haben, erhält Ingeborg endlich die Genehmigung ihres Vaters zur Eheschließung, verliert dadurch aber gleichzeitig ihre Staatsbürgerschaft:

»Du er en kvinde« [sagt der Standesbeamte zu ihr] »Du bestemmer ikke noget. Du har som sådan ingen rettigheder, men du har en nationalitet. Du ved, at hvis du gifter dig med en kineser, mister du dit statsborgerskab? […] Du er, hvad din mand er – og han er ingenting.«

(Du bist eine Frau. Du bestimmst nichts. Du hast als solche keine Rechte, aber du hast eine Nationalität. Du weißt, dass du deine Staatsbürgerschaft verlierst, wenn du einen Chinesen heiratest? […] Du bist, was dein Mann ist – und er ist nichts.)

Doch die beiden heiraten, und als sich Sans Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert, ziehen sie um in ein milderes Klima. Im neuen Wohnort Berlin kommen sie erstmals zu bescheidenem Wohlstand, indem San seinen Traum von einem Restaurant verwirklichen kann. Der Traum nimmt ein jähes Ende, als der erste Weltkrieg ausbricht und der Fremdenhass in Deutschland gefährlich für die Familie wird, so dass sie zurück nach Dänemark fliehen. Die letzten zehn Jahre von Sans Leben verbringt die Familie mit vier von ursprünglich sechs Kindern – zwei sind in Berlin gestorben – dann wieder in der dänischen Hauptstadt. Als San im Jahr 1926 an Tuberkulose stirbt, bietet die Perspektive des Sohnes Herbert (der der Großvater des Autors ist) einen kurzen Ausblick auf die nachfolgende Generation. Den Plot des Romans stellt also zunächst einmal eine ungewöhnliche und große Liebesgeschichte dar, die entgegen allen Widrigkeiten Bestand hat.

Erzählt wird die Geschichte in oft poetischer Sprache aus wechselnden Perspektiven. Fokalisierungsinstanz der personalen Perspektive sind abwechselnd San und Ingeborg. Als Leser nehmen wir einerseits an ihrem jeweiligen Blick auf die Welt teil, in der sich beide auf ihre je eigene Art fremd und als Außenseiter fühlen. Andererseits bewirkt die Poetisierung, dass wir zwar die Sinnlichkeit dieser Liebe nachempfinden können, und doch immer eine Distanz zu den Personen bewahren. Gefühle werden vor allem durch die Handlungen der beiden Liebenden, durch Ingeborgs entschlossene Tatkraft und durch Sans unerschütterliche Ruhe umgesetzt. Beider Blick auf das Leben und aufeinander bleibt von einer Fremdheit bestimmt, der zeigt, dass Nähe und Liebe trotz eines Andersseins möglich sind. So gibt es vieles, was die beiden Liebenden trotz ihres bedingungslosen Vertrauens zueinander nicht verstehen oder offenbaren, wie z.B. Sans Hang zum Glücksspiel oder seine ewigen Wanderungen durch die Stadt, für die keine Erklärung geliefert wird.

Es ist diese Vermittlung von Alterität, die die erkenntnistheoretische Ebene des Romans ausmacht. Die Akzeptanz des Anderen verändert den eigenen Blick: »Hun ser byen som hun tror han ser den, og det kaster et nyt lys over gader og stræder« (224: Sie sieht die Stadt so wie sie glaubt, dass er sie sieht, und das wirft ein neues Licht auf die Straßen und Gassen). Die Ruhe des alles erduldenden San bleibt selbst für die Frau, die ihn sein Leben lang liebt und begleitet, ein Enigma, das die Erzählung zu bewahren sucht, ebenso wie auch ihre Suche nach einem anderen Leben und ihre Tapferkeit sich aus einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit ergibt, das die Erzählstimme attestiert und respektiert. Fremdheit, so scheint der Roman wie Georg Simmel zeigen zu wollen, ist »permanent und potenziell« vorhanden. In der globalisierten Welt ist der Fremde nicht »der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern […] der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde«.[1] Und als buchstäblicher, unermüdlicher Wanderer in den Städten veranschaulicht San Wung Sung die ethische Herausforderung, die das Fremsein für die ›anderen‹ mit sich bringt.

Darüber hinaus hat der Text, schon durch seinen Authentizitätsanspruch, natürliche eine historisch-politische Ebene. Sie betrifft zum einen die detaillierten Zeitbilder des städtischen Lebens in Kopenhagen, das im Zeichen des gründerzeitlichen Aufbruchs steht, und in Berlin, das von einer weltoffenen Metropole in kürzester Zeit zu einer Hochburg des Nationalismus wird. Die Stadtschilderungen warten mit großer Detailfülle auf, die anschaulich den Umbruch zeigen, den die rapide Entwicklung von Gebäuden, Straßenzügen und Verkehrsmitteln mit sich bringt. Unterkunft und Schutz findet das Paar zunächst in diversen Kellern und Abbruchhäusern, die ein letztes Überbleibsel des alten Kopenhagen vor der Modernisierung ausmachen. Vor allem aber betrifft das Zeitbild die Mentalität der Menschen, die in dieser Welt des Übergangs leben.

Hier zeigen sich am Schicksal des als fremd empfundenen Chinesen und seiner aus der Gesellschaft ausgestoßenen Ehefrau der Chauvinismus, die Engstirnigkeit und der Rassismus gegenüber jeglicher Form der Alterität. Die Diskriminierung reicht vom Exotismus, der das Fremde als Objekt der Neugier behandelt, über Demütigungen bis hin zur offenen Gewalt, die den Fremden buchstäblich mit Füßen tritt und anspuckt. Kopenhagen, dessen Elite sich ungefähr gleichzeitig für die Kultur des fernen Ostens begeisterte – was sich nicht zuletzt populärkulturell in der Architektur des Tivoli niederschlug – tritt als eine fremdenfeindliche, engstirnige Gesellschaft hervor, in der Chauvinismus und Frauenfeindlichkeit ineinandergreifen. Einen einzigen friedfertigen Chinesen konnte diese Gesellschaft nicht tolerieren, ebenso wenig wie eine Frau, die sich dem vorgezeichneten Weg entzieht. Von ihrer eigenen Familie wird sie als eine Art Hexe verstoßen (Kap. 73). In dem zunächst kosmopolitisch scheinenden Berlin gab es Rückhalt durch eine kleine Gruppe chinesischer Landsleute, der aber nicht von Dauer sein konnte, weil durch die Kriegshetze gegen alles Fremde – insbesondere nach Eintritt Japans in den Krieg – der Aufenthalt für die dort lebenden Asiaten lebensgefährlich wurde. Alles Nicht-Deutsche wurde als Feind und alles Asiatische als Japanisch eingestuft.

Der Authentizitätsanspruch des Romans wird nicht durch Quellenangaben untermauert. Nur einmal wird kurz ein Tagebuch Ingeborgs erwähnt und anzitiert, doch wir müssen annehmen, dass eher mündliche Überlieferungen innerhalb der Familie dem sorgfältig recherchierten Gerüst an Fakten und Daten zugrunde liegen. Schließlich ist die Protagonistin Ingeborg Wung Sung erst 1962 gestorben, neun Jahre vor der Geburt des Autors, der seine Informationen von seinem Großvater Herbert haben dürfte. Doch der Roman will sicher kein Geschichtsbuch sein; es sind die Empfindungen – sowohl der Liebe als auch der Alterität – , die im Vordergrund der Poetik stehen. Nicht nur die Traumsequenzen und Sprachbilder, sondern auch intertextuelle Anspielungen schreiben den dokumentarischen Fall in die dänische Literatur ein. Natürlich kommt H.C. Andersens Märchen von der Nachtigall vor – gegen Ende tritt San Wung Sung sogar in einer Ballettaufführung des Märchens im Königlichen Theater auf (Kap. 96). Er trifft auf Johannes V. Jensen (Kap. 25), der – wie wir wissen – sich für das und die Fremde interessiert hat und gerade seine Weltreise plante. Vor allem aber gibt es Szenen, die man als Reminiszenzen an Karen Blixen verstehen kann, eine andere Dänin, die Fremdheit literarisch erkundet hat. Ingeborgs Vorstellung, nicht das Kind ihrer Eltern zu sein, ruft Blixens »Det drømmende Barn« in Erinnerung (z.B. S. 292). Der schlaflose Mann, der durch Sklavenhandel reich geworden ist (Kap. 51), lässt an den reichen Kaufmann in »Den udødelige Historie«/»The immortal Story« (oder den Vater von Lincoln Forsner in «Drømmerne«) denken, und Sans Lebensleitbild vom Kranich (Kap. 23) kann man mit Blixens Storch aus Den afrikanske Farm vergleichen. Auch wenn es sich nicht um bewusste Anspielungen handeln sollte, zeigen die Szenen, welche Geschichten und Bilder Jesper Wung Sung schafft, um der Erzählung von seiner Familie eine verallgemeinernde und sinnlich nachvollziehbare Bedeutungsebene zu geben.

Auch der Titel des Romans vereint die poetische und die politische Dimension des Textes: »en anden gren« (ein anderer Zweig) ist einerseits ein Naturbild, das bereits die dominante Thematik der Alterität aufruft. Andererseits spielt es an auf Ingeborgs Lektüre in der Königlichen Bibliothek, die sie aufsucht, um etwas über die Nationalität des Mannes zu erfahren, in den sie sich verliebt hat. Sie findet dort Bücher über Rassenkunde, die Stammbäume abbilden, in denen die Arier an der Spitze stehen, während der Abstand »til den gren længere nede [… ] hvor der står: Kinesere« (S. 117; zu dem Zweig weiter unten […], auf dem Chinesen steht) groß zu sein scheint. Dieser Roman zeigt, wie falsch dieses Bild vom Stammbaum ist, weil es impliziert, dass es nur einen Stamm gäbe, dem die Zeige untergeordnet wären. Hier wird der Blick auf Zweige gerichtet, die unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Die ethische Herausforderung des Fremdseins, von der Theoretiker wie Bernhard Waldenfels oder Anthony Appia schreiben,[2] inszeniert dieser Roman am eindringlichen Beispiel einer dänisch-chinesischen Liebes- und Familiengeschichte. Sie ist realistisch und poetisch zugleich, vielschichtig und anrührend, und sie weckt Empörung und Bewunderung gleichermaßen.

Jesper Wung Sung: En anden gren. Rosinante: Kopenhagen, 2017.
(Annegret Heitmann, München)

[1] Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, hrsg. Von Rammstedt/Ottheim, Frankfurt a.M., 1992, S. 43.

[2] Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a.M., 1997; Kwame Anthony Appiah: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, London, 2006.

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Repräsentanz einer Minderheitensprache – Thom Lundberg: För vad sorg och smärta (2016)

Wird Literatur einer identitätspolitischen Agenda zugeordnet, kann man mitunter den Eindruck gewinnen, diese Werke seien über jegliche Literaturkritik erhaben. Der politische Appell, sich gegen Diskriminierung und soziale Ungleichheit zu wenden, findet in den schwedischen literarischen Institutionen stets Gehör. Das Erstlingswerk För vad sorg och smärta von Thom Lundberg (geb. 1978) bietet grelles Provokationspotential − durch seinen archaisierenden Legendenstil, die vielen Einschübe in Romanes (d.h. der Sprache der Roma) und die holzschnittartigen Gewaltschilderungen, die an die Inhalte und Illustrationen historischer Bänkelsänge erinnern. Die Kritik setzte sich bisher aber fast ausschließlich mit der im Roman thematisierten Traumabearbeitung und dem folkhem-Rassismus auseinander. Das Gespräch, das der etablierte Schriftsteller Ola Larsmo auf der Buchmesse in Göteborg mit dem Autor führte (2.9.2016, https://urplay.se/program/200164-for-vad-sorg-och-smarta), veranschaulicht den Respekt, mit dem man Lundbergs Debütwerk begegnete. Tatsächlich ist festzustellen, dass Lundberg einer Minoritätsgruppe ermöglicht, in der literarischen Repräsentation anzukommen.

Die Handlung des Romans besteht aus der tragischen bis melodramatischen Geschichte der Familie Klosterman, die mit pogromähnlichen antiziganistischen Ausschreitungen in Jönköping 1948 konfrontiert ist und diese zum Anlass für ihre fluchtähnliche Übersiedlung nach Halland nimmt. Der Vater Amandus, ehemaliges Roma-Waisenkind, wurde einst von einem Schweden als Pflegekind aufgenommen. Wegen seiner uneindeutigen Herkunft kämpft er gegen eine ethnische Skepsis innerhalb der Familie. Sein wenig erfolgreicher Verkauf von Metallwaren auf ländlichen Marktfesten und sein Alkoholismus führen dazu, dass seine Frau Severina und seine drei Kinder Olof, Valentin und Syster in bitterer Armut leben müssen. Für den anpassungsbereiten Olof und den impulsiven Valentin ist der gesellschaftliche Abstieg des Vaters quälend. Die patrilineare Tradierung ist am Ende des Romans völlig zerstört: Unterdrückung und Exklusion der Romagruppen entfachen gewalttätige Konflikte zwischen den Familien, aber auch mit der abweisenden Lokalbevölkerung. Die Diskriminierung führt wörtlich und metaphorisch zu Deformationen und entfesselt im Falle Valentins unbändige Aggression, auch gegen sich selbst. Die Messerstechereien zielen auf Rache gegenüber den Peinigern ab und zeichnen ein groteskes Bild eines Ehrenkodex. Die jeweiligen Unterdrücker bzw. zu feindlichen Repräsentanten erkorenen Personen werden in ihrer konkreten Handlungsmacht ‚kastriert‘, wobei das Abtrennen von Fingern hier die konkrete Ausdrucksform eines vererbten familiären Traumas bildet: Amandus wurde einst gezwungen, eine solche Verstümmelung vorzunehmen, und er setzt seinen Sohn Olof eines Tages unter Druck, diese Tat ebenfalls zu begehen, was zu dessen Traumatisierung führt.

Nachdem Severinas Bruder dem unwürdigen Amandus einen kunst-geschmiedeten Familienschrein gestohlen hat, der symbolisch für den sorgfältig gepflegten Erinnerungsschatz an Legenden, Erzählungen, Liedern und Balladen steht, eskaliert die Spirale der Gewalt. Olof, zusätzlich von Valentin in einer Schlägerei öffentlich gedemütigt, reagiert sich an seinem Onkel ab und fügt ihm Schnitte im Gesicht zu. Die wiederholt verwendete Formel „Din hand är allas hand“ („Deine Hand ist unser aller Hand“) erscheint absurd konterkariert, denn nun attackieren sich sogar die Mitglieder der Gemeinschaft gegenseitig bis auf den Tod („På mitt liv och min kniv“, S. 27; ungefähr: „auf mein Leben und mein Messer“). Valentin, der nicht wie Olof einer Phase sozialer Mobilität erlebt, sondern nach kurzer Kindheit routinemäßig Händel sucht und dem unerreichbaren Traum von einem Autokauf nachhängt, nimmt am Ende des Romans die Gelegenheit wahr, sich an einem Mobbingtäter aus der Kindheit zu rächen. Olof kann nicht verhindern, dass Valentin auch dessen Hand verstümmelt. Die letzte Szene des Romans stellt dar, wie Olof sich entscheidet, das Verbrechen auf sich zu nehmen und sich zu stellen, damit Valentin fliehen und ein neues Leben beginnen kann. Während Sturm aufzieht und der dunkelblaue Himmel sich – wie so oft im Roman – schwarz färbt, wartet Olof am Strand auf seine Häscher. Ob er mit dem Leben davonkommt und ob Valentins Flucht gelingt, bleibt dabei offen.

Die Mutter Severina stammt aus einer norwegischen Romafamilie, die vom sagenumwobenen Großvater Fingal und der Großmutter mit dem sprechenden Namen Eufrosyne (Pseudonym der schwedischen Dichterin Juliana Nyberg 1785-1845) angeführt wird. Severina ist Urheberin des titelgebenden Lieds mit zahlreichen Strophen, das sie mehrmals anstimmt, aber nie abschließt. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde sie von der schwedischen Sozialbehörde für unmündig erklärt und zwangssterilisiert, ihre Tochter Syster wurde einer schwedischen Pflegefamilie übergeben. Der Pflegevater, ein Pfarrer, sowie der sozialdemokratisch profilierte Arzt, der Olofs Verletzungen behandelt, werden als wohlmeinende Vertreter des folkhem gezeichnet, so dass auch die besten Absichten der schwedischen Modernisierer Berücksichtigung finden.

Olof bekommt vom Arzt Onkel Toms Hütte geschenkt und stellt bei der Lektüre fest, dass es in diesem Werk doch eigentlich um Roma ginge (vgl. S. 260). Amandus wiederum macht durch die Begegnung mit einem lesenden Nachbarn aus dem Lumpenproletariat indirekt die Bekanntschaft mit dem Statare-Genre und fragt sich gemeinsam mit Severina, ob in diesen Texten eigentlich auch „romanoa“ (eine Selbstbezeichnung für Romagruppen) als literarische Figuren vertreten seien (vgl. S. 146). Olof hätte die Chance gehabt, durch Bildung oder die Verlobung mit der Arzttochter bis ins Kleinbürgertum aufzusteigen. Armut und unregelmäßiger Schulbesuch, aber auch die Dekadenz des Vaters und die psychische Krankheit der Mutter verhindern dies.

Severina stirbt früh an Tuberkulose, aber die matrilineare Tradierung von Liedtexten und Gesängen wirkt noch über ihren Tod hinaus weiter. Gemeinsam mit Olof hat sie eine letzte Strophe für das titelgebende Lied erfunden, so dass Olof als Identifikationsfigur des Autors erscheint. Die metaphorische Umschreibung des Sterbens im Schwedischen, dass man ‚den letzten Vers singe‘, bestätigt trotz der sagenhaften Überlebensfähigkeit der Erzählungen zugleich eine Verabschiedung von einer prämodernen Lebensweise.

För vad sorg och smärta verfolgt auch eine Revitalisierung von Romanes bzw. „romani chib“ – die Selbst- und Fremdbezeichnungen der Varietäten sind bekanntlich umstritten, wobei die Nationalsprachen Schwedisch (für die väterliche Linie) und Norwegisch (für die mütterliche Linie) im Roman als Koordinaten aus den Majoritätssprachen herangezogen werden. „Romani chib“ zählt zu den fünf offiziellen schwedischen Minoritätssprachen (siehe http://www.sprakochfolkminnen.se/sprak/minoritetssprak/romska.html). Lundberg bindet Romanes-Wörter und Wendungen in den schwedischen Text ein und entwickelt eine ethnographisch fundierte Kunstsprache, verzichtet jedoch auf ein Glossar oder Fußnoten. Überwiegend wird kurz vor oder gleich nach einer solchen mehrsprachigen Einheit ein schwedisches Synonym geliefert oder eine klärende Kontextualisierung gewählt. Die Lesenden stehen anfangs vor einer gewissen Herausforderung, machen aber bei der Lektüre rasch Fortschritte, da in bestimmten Passagen einige Begriffe gehäuft auftauchen oder sich semantische Felder erschließen lassen. Hat man die ersten beiden der insgesamt sieben Teile einigermaßen sorgfältig gelesen, werden Herleitungen möglich. Auch haben sich bestimmte Schlüsselbegriffe während der Lektüre durch ihre hohe Frequenz eingeprägt, wie etwa tjavo (junger Mann), nukko (Junge), dikkla (besticktes Tuch der Frauen), tjuring (Messer der Männer), drom (Landstraße in der Nähe der Siedlung), honka (sein; scheinen), rakkla (sich unterhalten), penna (verstehen; sagen, erklären), tradra (gehen), bengalo (betrunken; verrückt) sowie der Ausruf des Erstaunens „Develska dad!“.

Während wir beim Lesen in ein Universum aus Viehmärkten, Pferdegespannen, Taschenuhren und Schnurrbärten versetzt werden, verfolgt der Autor das Anliegen, sowohl verschiedene – meist regional, landschaftlich oder über Helden mythischen Formats bestimmte – Romagruppen, Romanes-Varietäten als auch unterschiedliche Grade der Sprachbeherrschung und den individuellen Alltagsgebrauch zu repräsentieren. Da die Absicht der Repräsentation markiert bleibt, erscheint bei Lundberg die dargestellte Heteroglossie weniger der Mimesis verpflichtet, als es gemeinhin minoritätssprachlichen Passagen in literarischen Werken nachgesagt wird, die in Majoritätssprachen verfasst sind. Die kompositorische Grundstruktur als Klagegesang oder kolportierte Legende mit den Erzählmustern von Steigerung und Überbietung, die literarischen Kleinformen entlehnt sind, unterläuft die klassische Authentizitätsvergewisserung und das Anliegen einer Dokumentation historischen Sprachgebrauchs.

För vad sorg och smärta ist ein Pionierwerk, das erklärtermaßen einen Standard für eine schriftliche Varietät von Schwedisch-Romanes festlegen will (vgl. Nachwort, S. 364) und damit nicht weniger als eine Literatursprache Romanes erprobt. Vermutlich ist dem Werk daher in der Tat ein Platz in der schwedischen und vielleicht auch in der transkulturellen Literatur sicher.

„Carl och Maximilian rakklade på övervägande romani. Detta honkade Olof tji van vid, för i hans uppväxt hade han mest hört svenska med romaniinslag, men nästan aldrig romani med inslag av svenska. Och aldrig ren romani.

Maximilian pennade till Carl: „Glaneske nukkon avar, tjakkes mandrom mostula bescha nevroa daxa prej hakket.“

„Develske dad! Honkar diro romni pari?“ frågade Carl.

„Ashi, miro phral! Li ashar nevreske-pari.“

„Vorsnos nukkoar ashar vorsnos sass“, pennade Carl.

„Dolle honkar sosti vorsnos sastot tradrar prej romano-dromen“, pennade Maximilian.

Olof försökte följa med i samtalet. Kanske om han nickade på något ställe? Eller såg intresserad ut när Maximilian rakklade. Han hade lärt sig hur Carls ansikte såg ut precis innan han kom till slutklämmen på en rolig historia och på detta vis förstod han när han skulla skratta. Snart övergick samtalet till övervägande svenska, för både Maximilian och Carl kände sig tryggare att rakkla på detta mål.“ (S. 234)

[Carl und Maximilian unterhielten sich fast durchgehend in Romanes. Dies war Olof offensichtlich nicht gewohnt, denn während seiner Kindheit hatte er meistens Schwedisch mit Romanes-Einschlag gehört, aber fast nie Romanes mit schwedischem Einschlag. Reines Romanes kannte er gar nicht.

Maximilian erklärte Carl: „Glaneske nukkon avar, tjakkes mandrom mostula bescha nevroa daxa prej hakket.“

„Develske dad! Honkar diro romni pari?“ fragte Carl.

„Ashi, miro phral! Li ashar nevreske-pari.“

„Vorsnos nukkoar ashar vorsnos sass“, erklärte Carl.

„Dolle honkar sosti vorsnos sastot tradra prej romano-dromen“, erklärte Maximilian.

Olof versuchte dem Gespräch zu folgen. Vielleicht sollte er ab und zu nicken? Oder interessiert schauen, wenn Maximilian erzählte. Er hatte schon gelernt, wie Carls Gesicht aussah, wenn er bei der Pointe einer lustigen Geschichte angekommen war, und daher war ihm klar, wann er lachen musste. Bald ging das Gespräch mehr und mehr ins Schwedische über, denn sowohl Maximilian als auch Carl fühlten sich sicherer, wenn sie in dieser Sprache redeten.]

Mittels dieser Passage werden nicht nur Nuancierungen eingeführt, die anschaulich von monolingualen Kategorisierungen wegführen, sondern auch eine ironisch anmutende Distanzierung ermöglicht: Ein durchgehender Dialog auf Romanes wird als Imponiergehabe von Halbstarken relativiert und das Konstrukt „reines Romanes“ vorausschauend in Frage gestellt, beinahe wie um Analogien zu Nationalsprachen oder naive Sprachutopien im Vorfeld auszuschließen, die sich im Zuge einer Romanes-Revitalisierung womöglich ergeben könnten. Indem eingeräumt wird, dass mehrere Varietäten bereits um 1950 selten verwendet wurden, verbinden sich die Geschichte vom Verfall einer Familie mit der Beobachtung eines Sprachverlusts in der Diaspora. Die historische Rückverlegung der Handlung täuscht allerdings über den Domänenverlust der Varietäten hinweg und klammert damit das Thema der Sprachentwicklung im Zeichen gesellschaftlicher und technisch-medialer Modernisierung aus.

Das Kalkül einer angemessenen Progression beim Spracherwerb während der Lektüre geht also fast vollständig auf, nur wenige Zeilen bleiben unverständlich. Die Formen der Deklination und Konjugation sind interessanterweise analog zum Schwedischen gebildet (tjuringen, nukkoar oder rakklade), auch die Syntax wird beibehalten, womit der Autor ein bewährtes Verfahren aus mehrsprachigen Werken einsetzt und die exotischen Elemente auf den Wortschatz (Lexik) konzentriert. Im Internet lassen sich nur wenige Wendungen finden, der erste Treffer ist ohnehin meist die Google-Book-Version des Romans – nicht weiter verwunderlich, da Lundberg einige Schreibformen mündlicher Ausdrücke tatsächlich erst neu eingeführt hat. Bezeichnenderweise leiten die eingegebenen Wörter aber auch zu Homepages von Interessengruppen oder Privatpersonen, die sich der släktforskning (Familienforschung) widmen, auf die auch Lundberg bei seinen Vorarbeiten zurückgegriffen hat.

Maßgebliches Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Romagruppe ist weniger der gemeinschaftsstiftende Sprachgebrauch, sondern eine ethnische Selbstdefinition. Die Rekonstruktion des im Roman leitmotivisch vom Erzähler und den Figuren genannten „ursprung“ wird somit als identitätspolitische Notwendigkeit dargeboten. Die Möglichkeit einer Selbstzuschreibung oder eines Beitritts zur Community, die sich nicht über den Ursprung herleitet, scheint kaum gegeben. Vor diesem Hintergrund betrachtet ist die historische Schwerpunktsetzung des Werks etwas problematisch: Indem der Roman seine Handlung explizit auf einen historischen Zeitraum begrenzt (1949−1955), stellt sich die Frage, ob die zahlreichen Kommentare des meist auktorialen Erzählers zum Recht der Romagruppen auf eine eigene, sowohl biographische als auch gruppenspezifische und kollektive „Erzählung“ zu sehr damaligen Denkfiguren verpflichtet bleiben. Die Einschübe in Romanes und das ornamenthafte Sprechen in Zitaten oder Sprichwörtern führen dazu, dass För vad sorg och smärta inhaltlich und stilistisch Anachronismen pflegt, was beispielsweise die Kritik am Machismo abzuschwächen droht. Der historistische Gestus ist durchaus beabsichtigt, denn im Nachwort teilt Lundberg mit, welche Literatur aus den 1930er und 1940er Jahren er zitiert und paraphrasiert hat (vgl. S. 363), und fügt die aufschlussreiche Bemerkung hinzu, dass sein Roman in eben diesen Jahrzehnten hätte erscheinen sollen. Damit gibt sich das Werk als nachträglich verfasste Emanzipationserzählung, ganz im Sinne eines Pastiches der berühmten Statare-Romane (von u.a. Harry und Moa Martinson, Ivar Lo-Johansson, Eyvind Johnson). Lundberg liefert also einen literaturgeschichtlichen Beitrag nach, der zudem eine Rückverlängerung und Kontinuitätsvergewisserung der Kulturgeschichte skandinavischer Romagruppen leisten soll. Der Erzähler, dessen Legendenüberblicke oft die Kapitel einleiten, verwendet parallel zum historischen Vokabular aber auch neuzeitliche Begriffe wie „Mobilität“ oder „Initiation“, d.h. die Geschichtsrückverlängerung soll im Erscheinungsjahr 2016 einsetzen: „att leva i nuet är att återberätta det förflutna“ („in der Gegenwart zu leben bedeutet, die Vergangenheit zu erzählen“, S. 19). Lundberg setzt dabei auf eine starke Autorschaft. Die historistisch-ethnographische Vorgehensweise bei der schöpferischen Sprachrekonstruktion und der mal feierlichen, mal übermütigen Inszenierung des Erzählschatzes bietet fließende Übergänge zum Folkloristischen. Die Gefahr des Ethnokitsches wird jedoch durch die grotesken Gewaltschilderungen, die hyperbolische Rhetorik und den ironisierten Selbstexotismus einiger Figuren gebannt.

För vad sorg och smärta stellt einen wichtigen Beitrag zum Thema „utanförskap“ (Exklusion) dar, das gerade im Erscheinungsjahr des Romans in der schwedischen Öffentlichkeit breit diskutiert wurde. Die historische Einkapselung durch den recherchebedingten Fokus auf die Jahre um 1950 lässt die Handlung museal erscheinen, auch wenn diese durch die variantenreichen Anekdoten und das eingearbeitete mündliche Literaturkorpus als historistisch ausgewiesen ist. Das Niedergangsnarrativ und der Appell zur minderheitensprachlichen Revitalisierung stehen dabei in einem ungelösten Spannungsverhältnis. Wird Romanes in einer schriftlichen Standardvarietät benötigt, um eine zukunftsweisende Literatursprache für die fortzusetzende, existenziell wichtige Erzählung – auch der zur Repräsentation der „romanoa“ dienenden Erzählungen – zu etablieren? Soll eine Varietät, womöglich die angeblich älteste nordische Romanes-Varietät standardisiert und zum Leitstern dieser Literatursprache werden? Der Status als Kunstsprache müsste von Rezensenten und Forschenden sehr viel stärker herausgestellt werden – hier sollte man von der Debatte lernen, die über Jonas Hassen Khemiris Ett öga rött (Kamel ohne Höcker, 2003) und die angebliche Verwendung des „rinkebysvenska“ geführt wurde (seine Literatursprache wurde irrigerweise als migrantischer Soziolekt eines Stockholmer Vororts eingeordnet). Möglicherweise lösen Werke wie diese, die als literarische Ausdrucksformen der Glokalisierung gelten können, in der ersten Rezeptionsphase das Bedürfnis aus, vergewissernde Re-Territorialisierungen anzuleiten. Indem die Gebiete, in denen die Varietäten von Romanes bzw. romani chib einst verbreitet waren oder es heute noch sind, in För vad sorg och smärta geographisch oder landschaftlich bestimmt werden, entsteht immerhin eine Art Sprachkarte über die betreffenden skandinavischen Regionen.

Lundberg liefert eine Gegenerzählung aus der Perspektive der Subalternen nach. Indem die geschilderten Romagruppen schon in der Anfangszeit des schwedischen folkhem aus der gesellschaftlichen, sozialen, politischen und technischen Modernisierung sowie aus dem Bildungsprojekt – als Schlüssel für den Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten – nachdrücklich ausgeschlossen wurden, schien deren Partizipation für Jahrzehnte verhindert, mit Folgen bis heute. Lundbergs Roman spitzt den Handlungsverlauf auf sechs katastrophale Jahre zu, die deutlich von der Rassenhygiene und dem Holocaust geprägt sind, stellt aber nur in den neuzeitlichen Begriffen der Erzählerkommentare überhaupt einen Bezug zu heutigen Lesenden her. Ist der historische Stoff brisanter als die aktuelle drastische soziale Ungleichheit oder andere, zugegebenermaßen unübersichtlichere Konfliktfelder? Zunächst einmal ist wohl ein wichtiges Teilziel erreicht, die literarische Repräsentation mit der Vision einer politischen Repräsentanz. Lundbergs Experiment, den Handlungsverlauf mit einer Sprach(re)vitalisierung während der Lektüre zu verknüpfen, ist ebenfalls bemerkenswert.

Thom Lundberg: För vad sorg och smärta. Bonniers: Stockholm, 2016.
(Antje Wischmann, Wien)

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