Jesper Wung Sung ist ein anerkannter dänischer Autor, der seit seinem Debüt im Jahr 1998 ein vielseitiges Werk vorgelegt hat: etliche Romane und Erzählbände, Theaterstücke, Filmmanuskripte und eine große Anzahl an Jugendbüchern. Einige seiner Texte sind ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt worden. Besonders für seine Kinder- und Jugendbücher ist er bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Für seinen jüngsten, sehr umfangreichen Roman En anden gren (Ein anderer Zweig; 534 Seiten) erhielt er den begehrten Preis „De gyldne Laurbær” (Die goldenen Lorbeeren) des dänischen Buchhandels.
Es ist ein bemerkenswerter Roman, der die Geschichte des ungleichen Ehepaares Ingeborg Danielsen und San Wung Sung erzählt, die sich im Jahr 1902 in Kopenhagen kenngelernt haben. Die Namengleichheit zwischen dem Autor und dem männlichen Protagonisten deutet an, dass wir es mit einer Familiengeschichte zu tun haben, der Geschichte von Jesper Wung Sungs Urgroßvater. Eine im Buch abgedruckte Fotografie bezeugt die Authentizität der Romanpersonen. Doch der Roman leistet weit mehr als eine persönlich motivierte Spurensuche; er enthält – neben der familiären Thematik – mindestens vier weitere Verständnisebenen: ein Zeit- und Ortsbild der Jahre 1902 bis 1926, konzentriert vor allem auf Kopenhagen und Berlin, eine postkolonialistisch inspirierte Kritik an Diskriminierung und Rassismus, ein psychologisches Porträt zweier Liebender sowie eine Studie in Fremdheit. Diese Aspekte sind natürlich miteinander verschränkt und erhellen einander. Sie machen aus der Geschichte von San und Ingeborg einen reichen und trotz seiner ungewöhnlichen Geschichte repräsentativen Roman.
Sein erzählerischer Kern besteht in dem Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten im Kopenhagener Tivoli, wo die Bäckereiverkäuferin Ingeborg eine Ausstellung des sogenannten chinesischen Dorfes besucht, dort auf San trifft und sich sofort in ihn verliebt. Beide sind zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt. Zusammen mit einer Gruppe von 33 Landsleuten war San in seiner Heimatstadt Canton angeheuert worden, um als Ausstellungsobjekt dem dänischen Publikum chinesische Menschen, Traditionen und Alltagstätigkeiten vorzuführen, als ein »totaloplevelse af eksotisk virak. Se dér, og dér og dér« (S. 77; Totalerlebnis von exotischem Theater. Sieh dort, und dort und dort). Nach zunächst heimlichen Treffen beschließen die beiden zusammenzubleiben. Er kehrt nicht mit seiner Gruppe nach China zurück und sie nicht in ihr Elternhaus und ihre Bäckerei, aus denen sie wegen der ›Rassenschande‹ verstoßen wird. Es beginnen Jahre der Armut und der Anfeindungen in Abbruchhäusern und mit Gelegenheitsarbeiten, bis sie 1906 die Chance erhalten, nach Frederikshavn zu ziehen, wo San als Kellner eine Arbeit bekommt. Als sie bereits zwei Kinder haben, erhält Ingeborg endlich die Genehmigung ihres Vaters zur Eheschließung, verliert dadurch aber gleichzeitig ihre Staatsbürgerschaft:
»Du er en kvinde« [sagt der Standesbeamte zu ihr] »Du bestemmer ikke noget. Du har som sådan ingen rettigheder, men du har en nationalitet. Du ved, at hvis du gifter dig med en kineser, mister du dit statsborgerskab? […] Du er, hvad din mand er – og han er ingenting.«
(Du bist eine Frau. Du bestimmst nichts. Du hast als solche keine Rechte, aber du hast eine Nationalität. Du weißt, dass du deine Staatsbürgerschaft verlierst, wenn du einen Chinesen heiratest? […] Du bist, was dein Mann ist – und er ist nichts.)
Doch die beiden heiraten, und als sich Sans Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert, ziehen sie um in ein milderes Klima. Im neuen Wohnort Berlin kommen sie erstmals zu bescheidenem Wohlstand, indem San seinen Traum von einem Restaurant verwirklichen kann. Der Traum nimmt ein jähes Ende, als der erste Weltkrieg ausbricht und der Fremdenhass in Deutschland gefährlich für die Familie wird, so dass sie zurück nach Dänemark fliehen. Die letzten zehn Jahre von Sans Leben verbringt die Familie mit vier von ursprünglich sechs Kindern – zwei sind in Berlin gestorben – dann wieder in der dänischen Hauptstadt. Als San im Jahr 1926 an Tuberkulose stirbt, bietet die Perspektive des Sohnes Herbert (der der Großvater des Autors ist) einen kurzen Ausblick auf die nachfolgende Generation. Den Plot des Romans stellt also zunächst einmal eine ungewöhnliche und große Liebesgeschichte dar, die entgegen allen Widrigkeiten Bestand hat.
Erzählt wird die Geschichte in oft poetischer Sprache aus wechselnden Perspektiven. Fokalisierungsinstanz der personalen Perspektive sind abwechselnd San und Ingeborg. Als Leser nehmen wir einerseits an ihrem jeweiligen Blick auf die Welt teil, in der sich beide auf ihre je eigene Art fremd und als Außenseiter fühlen. Andererseits bewirkt die Poetisierung, dass wir zwar die Sinnlichkeit dieser Liebe nachempfinden können, und doch immer eine Distanz zu den Personen bewahren. Gefühle werden vor allem durch die Handlungen der beiden Liebenden, durch Ingeborgs entschlossene Tatkraft und durch Sans unerschütterliche Ruhe umgesetzt. Beider Blick auf das Leben und aufeinander bleibt von einer Fremdheit bestimmt, der zeigt, dass Nähe und Liebe trotz eines Andersseins möglich sind. So gibt es vieles, was die beiden Liebenden trotz ihres bedingungslosen Vertrauens zueinander nicht verstehen oder offenbaren, wie z.B. Sans Hang zum Glücksspiel oder seine ewigen Wanderungen durch die Stadt, für die keine Erklärung geliefert wird.
Es ist diese Vermittlung von Alterität, die die erkenntnistheoretische Ebene des Romans ausmacht. Die Akzeptanz des Anderen verändert den eigenen Blick: »Hun ser byen som hun tror han ser den, og det kaster et nyt lys over gader og stræder« (224: Sie sieht die Stadt so wie sie glaubt, dass er sie sieht, und das wirft ein neues Licht auf die Straßen und Gassen). Die Ruhe des alles erduldenden San bleibt selbst für die Frau, die ihn sein Leben lang liebt und begleitet, ein Enigma, das die Erzählung zu bewahren sucht, ebenso wie auch ihre Suche nach einem anderen Leben und ihre Tapferkeit sich aus einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit ergibt, das die Erzählstimme attestiert und respektiert. Fremdheit, so scheint der Roman wie Georg Simmel zeigen zu wollen, ist »permanent und potenziell« vorhanden. In der globalisierten Welt ist der Fremde nicht »der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern […] der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde«.[1] Und als buchstäblicher, unermüdlicher Wanderer in den Städten veranschaulicht San Wung Sung die ethische Herausforderung, die das Fremsein für die ›anderen‹ mit sich bringt.
Darüber hinaus hat der Text, schon durch seinen Authentizitätsanspruch, natürliche eine historisch-politische Ebene. Sie betrifft zum einen die detaillierten Zeitbilder des städtischen Lebens in Kopenhagen, das im Zeichen des gründerzeitlichen Aufbruchs steht, und in Berlin, das von einer weltoffenen Metropole in kürzester Zeit zu einer Hochburg des Nationalismus wird. Die Stadtschilderungen warten mit großer Detailfülle auf, die anschaulich den Umbruch zeigen, den die rapide Entwicklung von Gebäuden, Straßenzügen und Verkehrsmitteln mit sich bringt. Unterkunft und Schutz findet das Paar zunächst in diversen Kellern und Abbruchhäusern, die ein letztes Überbleibsel des alten Kopenhagen vor der Modernisierung ausmachen. Vor allem aber betrifft das Zeitbild die Mentalität der Menschen, die in dieser Welt des Übergangs leben.
Hier zeigen sich am Schicksal des als fremd empfundenen Chinesen und seiner aus der Gesellschaft ausgestoßenen Ehefrau der Chauvinismus, die Engstirnigkeit und der Rassismus gegenüber jeglicher Form der Alterität. Die Diskriminierung reicht vom Exotismus, der das Fremde als Objekt der Neugier behandelt, über Demütigungen bis hin zur offenen Gewalt, die den Fremden buchstäblich mit Füßen tritt und anspuckt. Kopenhagen, dessen Elite sich ungefähr gleichzeitig für die Kultur des fernen Ostens begeisterte – was sich nicht zuletzt populärkulturell in der Architektur des Tivoli niederschlug – tritt als eine fremdenfeindliche, engstirnige Gesellschaft hervor, in der Chauvinismus und Frauenfeindlichkeit ineinandergreifen. Einen einzigen friedfertigen Chinesen konnte diese Gesellschaft nicht tolerieren, ebenso wenig wie eine Frau, die sich dem vorgezeichneten Weg entzieht. Von ihrer eigenen Familie wird sie als eine Art Hexe verstoßen (Kap. 73). In dem zunächst kosmopolitisch scheinenden Berlin gab es Rückhalt durch eine kleine Gruppe chinesischer Landsleute, der aber nicht von Dauer sein konnte, weil durch die Kriegshetze gegen alles Fremde – insbesondere nach Eintritt Japans in den Krieg – der Aufenthalt für die dort lebenden Asiaten lebensgefährlich wurde. Alles Nicht-Deutsche wurde als Feind und alles Asiatische als Japanisch eingestuft.
Der Authentizitätsanspruch des Romans wird nicht durch Quellenangaben untermauert. Nur einmal wird kurz ein Tagebuch Ingeborgs erwähnt und anzitiert, doch wir müssen annehmen, dass eher mündliche Überlieferungen innerhalb der Familie dem sorgfältig recherchierten Gerüst an Fakten und Daten zugrunde liegen. Schließlich ist die Protagonistin Ingeborg Wung Sung erst 1962 gestorben, neun Jahre vor der Geburt des Autors, der seine Informationen von seinem Großvater Herbert haben dürfte. Doch der Roman will sicher kein Geschichtsbuch sein; es sind die Empfindungen – sowohl der Liebe als auch der Alterität – , die im Vordergrund der Poetik stehen. Nicht nur die Traumsequenzen und Sprachbilder, sondern auch intertextuelle Anspielungen schreiben den dokumentarischen Fall in die dänische Literatur ein. Natürlich kommt H.C. Andersens Märchen von der Nachtigall vor – gegen Ende tritt San Wung Sung sogar in einer Ballettaufführung des Märchens im Königlichen Theater auf (Kap. 96). Er trifft auf Johannes V. Jensen (Kap. 25), der – wie wir wissen – sich für das und die Fremde interessiert hat und gerade seine Weltreise plante. Vor allem aber gibt es Szenen, die man als Reminiszenzen an Karen Blixen verstehen kann, eine andere Dänin, die Fremdheit literarisch erkundet hat. Ingeborgs Vorstellung, nicht das Kind ihrer Eltern zu sein, ruft Blixens »Det drømmende Barn« in Erinnerung (z.B. S. 292). Der schlaflose Mann, der durch Sklavenhandel reich geworden ist (Kap. 51), lässt an den reichen Kaufmann in »Den udødelige Historie«/»The immortal Story« (oder den Vater von Lincoln Forsner in «Drømmerne«) denken, und Sans Lebensleitbild vom Kranich (Kap. 23) kann man mit Blixens Storch aus Den afrikanske Farm vergleichen. Auch wenn es sich nicht um bewusste Anspielungen handeln sollte, zeigen die Szenen, welche Geschichten und Bilder Jesper Wung Sung schafft, um der Erzählung von seiner Familie eine verallgemeinernde und sinnlich nachvollziehbare Bedeutungsebene zu geben.
Auch der Titel des Romans vereint die poetische und die politische Dimension des Textes: »en anden gren« (ein anderer Zweig) ist einerseits ein Naturbild, das bereits die dominante Thematik der Alterität aufruft. Andererseits spielt es an auf Ingeborgs Lektüre in der Königlichen Bibliothek, die sie aufsucht, um etwas über die Nationalität des Mannes zu erfahren, in den sie sich verliebt hat. Sie findet dort Bücher über Rassenkunde, die Stammbäume abbilden, in denen die Arier an der Spitze stehen, während der Abstand »til den gren længere nede [… ] hvor der står: Kinesere« (S. 117; zu dem Zweig weiter unten […], auf dem Chinesen steht) groß zu sein scheint. Dieser Roman zeigt, wie falsch dieses Bild vom Stammbaum ist, weil es impliziert, dass es nur einen Stamm gäbe, dem die Zeige untergeordnet wären. Hier wird der Blick auf Zweige gerichtet, die unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Die ethische Herausforderung des Fremdseins, von der Theoretiker wie Bernhard Waldenfels oder Anthony Appia schreiben,[2] inszeniert dieser Roman am eindringlichen Beispiel einer dänisch-chinesischen Liebes- und Familiengeschichte. Sie ist realistisch und poetisch zugleich, vielschichtig und anrührend, und sie weckt Empörung und Bewunderung gleichermaßen.
Jesper Wung Sung: En anden gren. Rosinante: Kopenhagen, 2017.
(Annegret Heitmann, München)
[1] Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, hrsg. Von Rammstedt/Ottheim, Frankfurt a.M., 1992, S. 43.
[2] Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a.M., 1997; Kwame Anthony Appiah: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, London, 2006.