Von der Liebe in Zeiten der Pest

Eine Hofdame am königlichen Hof wird während eines hitzegesättigten Sommers, in dem die Pest in der Hauptstadt wütet, von ihrem Ehemann zum Arbeiten in das erste Bor­dell am Platz ge­schickt. Soll dies ihrer Unfruchtbarkeit abhelfen (auch wenn „sæd i spande­vis“ [eimerweise Samen] (S. 196) sie nicht schwängern werden)? Oder ist dies die Strafe dafür, dass sie ihren Ehe­mann langweilt „så grumt som en gammel sæk kartofler“ [so grau­sam wie ein Sack Kar­tof­feln] (S. 19)? Oder ist der Ehemann schlicht vom Wahnsinn am Hof angesteckt wor­den, der in diesem Pestsommer „lå på lur i et randområde af ens be­vidsthed som en kobbel af hurtige hunde, sultne og tørstige“ [im Randbereich des Bewusst­seins wie eine Koppel flinker Hunde, hungrig und durstig, auf Lauer lag] (S. 9)?

Im Bordell wird die Hof­dame, die als namenlose Ich-Erzählerin die Geschehnisse des Som­mers berich­tet, vertraut gemacht mit allen Spielarten sexueller Praktiken, mit Gerüchen, Schweiß und Körper­sekreten jeder Art. Betrieben wird das Bordell von der rätselhaften Viola, die sich im Laufe der lange zwei­strän­gig entfalteten Handlung als frühere Geliebte der Frau des Königs zur linken Hand, Sunniva, ent­puppt. Als Bordellmutter versucht Viola, genügend Geld zu­sam­men­zu­bringen, um mit Sunni­va in den Süden fliehen zu können. Doch muss Viola am Ende des Romans alleine des Weges ziehen, weil Sunniva sich in letzter Sekunde ent­scheidet, beim König zu bleiben. Zuvor hatte Sunniva ver­sucht, die Hure Gunhild, die vom König schwan­­­ger geworden ist, umzu­brin­gen. Nach dem Tod von Gunhild als Spätfolge des An­schlags ertränkt die Ich-Erzählerin deren Baby im Moor, bevor sie schließlich am Ende des Sommers von ihrem Mann zurück­geholt wird.

Autofiktionalität und Maskenspiel

Die Autorin dieses Überraschungserfolgs im dänischen Buchsommer 2025 heißt Amalie Langballe. Ausgebildet als Journalistin, ist sie derzeit bei der Wochenzeitung Week­endavisen als Literatur- und Theaterrezensentin tätig. Debütiert hatte Langballe 2019 mit Forsvind­ningsnumre (Nummern des Verschwindens), ein mit dem dänischen Debütant:innenpreis aus­gezeichnetes Buch über die Trauerarbeit einer jungen Frau, nachdem die Mutter nach langer Krankheit an Krebs gestorben war. Langballe machte keinen Hehl aus der Nähe des Stoffes zu ihrer eigenen Biographie. Sie be­harrte indes darauf, dass das Buch Fiktion sei,1 obwohl das dänische Feuilleton es – vor­her­sehbar – im Horizont autofiktionaler Werke situierte.

Mit elskende [Liebende] legt Langballe nun nach sechs langen Jahren ihren zweiten Roman vor, der sich geradezu demonstrativ allen Einordnungsversuchen in das Genre des Auto­fik­tionalen verweigert. Man mag ihn gar, ist er doch von einer aktiven Literaturrezensentin geschrieben, meta­poetolo­gisch als eine Kritik an der Poetik der Autofiktion lesen, die in Dänemark zu­nehmend kritisch reflektiert wird. Erst unlängst warf Lotte Folke, Redakteurin bei der dänischen Tageszeitung Politiken, autofiktionalen Werken Kritik­immunisierung vor: Einerseits werde eingefordert, dass die Kritik sich nicht zum Richter über die persönlichen Wahr­heiten anderer machen dürfe, andererseits werde die Literarizität der Werke in An­spruch genommen, um alles sagen zu können.2

elskende mag bei den dänischen Lesenden mit seinen ausführlichen, in Rezensionen viel­er­wähnten drasti­schen Sex­szenen manche provokativen öffentlichen Einlassungen der Autorin aufrufen. In der überschau­baren dänischen Kulturszene ist Langballe nicht zuletzt für ihr nicht mit Scham be­haftetes Re­den über die eigene Sexualität und Körperlichkeit (einschließlich ihrer Ent­scheidung für eine frühe Sterili­sation), für ihren Ein­spruch gegen slutshaming und für ihr Eintreten für Sex­posi­tivität bekannt. In PR-Bildern lässt sie sich durch­aus auch im Unter­hemd ablich­ten. Eine durch Autofiktiona­li­tät geprägte Erwartungshaltung unterläuft der Roman aber ge­schickt in vielfältiger Weise.

In einer Art metafiktionaler Vorrede wird der Diskurs des Auto­fiktio­nalen zwar indirekt zu Beginn des Romans noch aufgerufen (wenn auch in zeitgenössischer Verkleidung einer Beichte, in der die Hauptperson versucht, sich Rechenschaft über die Geschehnisse des Sommers abzu­leg­en), zugleich aber wird die Fragmentarizität und Fiktionalität des im Folgenden Erzählten nachdrück­lich unterstrichen:

Min historie kommer ikke til at give mening. Uanset hvordan jeg anstrenger min erindring, glider mig noget af hænde, og andet kan jeg ikke få placeret. Jeg kan genkalde mig billeder uden sammenhæng: sort røg, en hests svedige flanker, høstmånen.

Der er ting, jeg ved med sikkerhed, men der er flere ting, jeg ikke ved over­hovedet. Det er muligt, at drøm og virkelighed har vævet sig ind i hinanden. En tråd af virkelighed har mulig­vis lagt sig oven på en tråd af drøm, og selv i optrevlingen kan den ene tråd ikke skelnes fra den anden. (S. 7)

[Meine Geschichte wird keinen Sinn ergeben. Egal, wie sehr ich meine Erinnerung anstrenge, entgeht mir etwas, und anderes kann ich nicht einordnen. Ich kann Bilder ohne Zusammen­hang aufrufen: schwarzer Rauch, die verschwitzten Flanken eines Pferdes, der Herbstmond.

Es gibt Dinge, die ich mit Sicherheit weiß, aber es gibt noch mehr Dinge, die ich über­haupt nicht weiß. Möglicherweise haben sich Traum und Wirklichkeit mit­einander verfloch­ten. Ein Faden der Wirklichkeit hat sich womöglich über einen Faden des Traums gelegt, und selbst beim Entwirren lässt sich der eine Faden nicht vom anderen unterscheiden.]

Im Gewebe des Textes ist etwas Neues, eine fiktive Welt jenseits der Dichotomie von Traum und Wirklichkeit entstanden, etwas, was den Lesenden nur in Fragmentform zugänglich ist. For­mal findet dies seinen Ausdruck in den knappen, zumeist nur ein- bis zweiseitigen Text­passagen, aus denen der schmale Roman besteht. Die Fiktivität der Romanwelt wird zudem durch die zeitliche und räumliche Situierung des Geschehens unterstrichen, die eine historische Lesart zwar aufruft, zugleich aber subtil unterläuft. Denn spielt der Roman 1711 während des letzten großen Pestausbruches in Dänemark? Soll die ungenannte Hauptstadt am Sund, wo Zoll die Haupteinnahmequelle des ungenannten Königs ist, Kopenhagen sein? Aber wie passt eine solche Datierung z.B. zu expliziten Anachronismen wie Wasser­klo­setts oder dem ein­lei­tend bereits zitierten Vergleich mit einem Sack Kartoffeln?

Langballe schreibt ihren Roman in eine ganz andere Tradition als den historischen Roman ein, der als sine qua non nicht auf einen extrareferentiellen, historischen Bezug verzichten kann. elskende‘s ‚historisches‘ Universum ist vielmehr ein intertextuelles: Schon die Kombination aus Erzäh­len, Sexualität und Pest ruft Boccacios Decamerone als einen Grundtext abend­län­dischen Erzählens auf, und die dänische Literatur­kritik hat zudem nicht gezögert, elskende in eine Blixen’sche Tradition zu stellen.3 Wobei hinzugefügt werden muss, dass der Roman elskende zwar oberflächlich an Karen Blixen gemahnen mag: mit seiner Handlung, die zudem in einer unbestimm­baren, wenn auch nicht allzufernen Ver­gangen­heit angesiedelt ist; mit den adligen Handlungs­träger:in­nen mit ihrer Verachtung für bürgerliche Moralvor­stel­lungen; und mit der binnen­tex­tuellen Selbstdeklaration als Maskenspiel, dessen Masken am Ende fallen („men de falder for øjne, der ikke længere vil se“ [aber sie fallen vor Au­gen, die nicht länger se­hen wollen] (S. 202)). Markier­te intertextuelle Bezüge weist der Roman jedoch nicht zu Blixens Werken auf. ‚Blixen‘ wird eher als Hori­zont einer spezifischen europäi­schen wie dänischen Erzähl­tradi­tion auf­gerufen, eines weder (sozial-)reali­sti­schen noch autofiktionalen Schrei­bens, als Plädoyer für die Freude am (wohlstruk­tu­rier­ten) Fabulieren und die Möglichkeiten von Fiktionalität.

Liebend(e)

Sollte der Roman in andere Sprachen übersetzt werden, werden die Übersetzer:innen mit der Doppeldeutigkeit des Titels zu kämpfen haben: elskende, signifikanterweise als Titel klein geschrie­ben, kann im dänischen sowohl ein Substantiv (‚Liebende‘) als auch ein Partizip (‚liebend‘) sein. Doch ist der Titel, der ein Buch mit pastellfarbenem Umschlag und einer seichten Liebes­geschichte verheißt, nicht nur doppeldeutig, sondern zugleich auch zutiefst iro­nisch. Denn wo ist die Liebe, wo können die Liebenden in diesem Roman sein, der wesentlich in einem Bordell spielt?

Romantisiert wird das Leben im Bordell wahrhaftig nicht. Gunhild und Ester, die Bordell­schwestern der Ich-Erzählerin, sind aus „fattigdom og uheld“ [Armut und Unglück] (S. 78) im Bordell gelandet. Von Ester erfahren wir en passant, dass sie ihr Dasein nur mit Alkohol be­täubt aushält; von Gunhild, dass sie ihren Vater nach einem Schlaganfall im Wald aussetzte, damit der Rest der Familie genug zum Essen hatte. Als Gunhild schwanger wird vom König, der sie beim Sex sadistisch prügelt, versucht sie das Kind vergeblich mit Hilfe eines Kräuter­suds abzu­treiben.

Während die Frauen Namen tragen, blei­ben die Männer alle namenlos. „[D]e er ikke lige så vigtige for historien“ [Sie sind nicht gleicher­maßen wichtig für die Geschichte“] (S. 10), äußert die Ich-Erzählerin schon früh. Es sind erbärmliche, von Frauen unbegehrte Männer, bei denen Sex und Gewaltausübung naht­los in­ein­ander übergehen können: „Hvad vil det sige at tage i besiddelse? At besidde noget, virkelig eje det, er muligvis at mis­handle det. Måske har du ikke ejet noget, før du har slået skår af det og konstateret, at det stadig er dit.“ [Was heißt es, etwas in Besitz zu nehmen? Etwas zu besitzen, wirklich sein eigen zu nennen, ist mög­licher­weise, es zu misshandeln. Vielleicht hast du etwas erst dann wirk­lich besessen, wenn du es zerbrochen und festgestellt hast, dass es immer noch dir ge­hört.] (S. 60)

Allerdings ist für die Ich-Erzählerin der schweißig-sinnliche Sommer im Bordell, in dem sie, wie es einleitend heißt, „et helt liv“ [ein ganzes Leben] (S. 8) gelebt habe, keine reine Opfer- und Leidens­ge­schichte. Zumindest streckenweise dokumentiert ihre Beiche in elskende auch eine Geschichte der Selbst­erkenntnis, sowohl in Bezug auf ihre eigene Sexualität als auch in Bezug auf ihr eigenes moralisches Verhalten. „Man chokeres altså ikke over, at disse mænd gør, som de gør; man chokeres over at for­stå, at man havde gjort det samme i deres sted. Det er ikke i uforståeligheden, men i gen­kendelsen, at det svære består.“ [Man ist also nicht schockiert darüber, dass diese Män­ner so handeln, wie sie es tun; man ist schockiert darüber zu ver­stehen, dass man an ihrer Stelle dasselbe getan hätte. Nicht in der Unverständlichkeit, son­dern im Wieder­erken­nen liegt das Schwierige.] (S. 66) Ja, die Gewalt „kryber ind i folk om natten som arrige skovsnegle, der må udspyes i løbet af dagen. Det er også hændt, at den er krøbet ind i mig“ [schleicht sich nachts in Menschen ein wie wütende Wegschnecken, die tags­über ausgespuckt werden müssen. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie sich in mich eingeschlichen hat]. (S. 62)

Sex wird im Bordell ökonomisiert, indem er der Herrschaft von Angebot und Nachfrage un­ter­worfen wird. Im Gegensatz zu anderen „transaktionelle forhold“ [transaktionellen Bezie­hun­gen] (S. 143) der heraufdämmernden kapitalistischen Gesellschaft sind die Frauen aber sowohl Ware als auch Verkäuferin (S. 48), die sich einen Teil ihrer – auch körperlich-sexuellen – agency bewahren. Das Außen-vor-sein der Huren wird von der namen­losen Ich-Erzählerin selbstbewusst als Freiheit gedeutet: „Vi træder ud af kvin­dernes fælles­skab, selvom vi ikke bliver budt vel­kommen i mændenes. Vi er mellem sfærer, vi er kometer. Vi kan ejes af alle, så vi ejes af ingen, og det er frihed.“ [Wir treten aus der Ge­meinschaft der Frauen aus, auch wenn wir in der Gemeinschaft der Männer nicht will­kom­men sind. Wir befinden uns zwi­schen den Sphären, wir sind Kometen. Wir können von allen besessen werden, also gehören wir niemandem, und das ist Freiheit.] (S. 122)

Von Anfang an ist die Ich-Erzählerin allerdings besessen von Pickeln, Blasen und Beulen, selbst von Pestbeulen. Die fast schon leitmotivisch den Roman durchziehende Manie, bei sich und anderen diese aufzukratzen oder aufzustechen und dann auszudrücken, ist un­schwer als ein autoaggressiver Versuch der Selbstvergewisserung (wo es um den eigenen Körper geht), aber zunehmend auch als Reinigungsakt deutbar. Gegen Ende des Sommers ist ihr ganzer Kör­per von Spuren dieser Manie gezeichnet:

På mine egne overarme var der derfor fyldt med små sår, hvor jeg havde trykket små knopper ud. Også på mine ben var det lykkedes mig at lokalisere afløb af skidt. […]

            Huden omkring mit skamben hang i laser, nogle af mændene kommenterede det.

            […]

            Jeg begyndte at fantasere om at komme dybere ned. Tage hude af og rense kødet frit for talg og fedt. Adskille senere fra ben og brusk og tørre dem af med en nyvasket klud kun for at hæfte dem på plads igen. Skrubbe knoglerne (indædt) med en børste og polere dem, til de blev glatte.

            Nu kan det lyde, som om jeg følte mig frygtelig beskidt, det gjorde jeg ikke. Jeg nød bare den lille smerte og at se ting komme ud af min krop. Det havde ikke noget at gøre med at være ren, egentlig. (S. 180)

[Meine eigenen Oberarme waren daher übersät mit kleinen Wunden, wo ich kleine Pickel ausgedrückt hatte. Auch an meinen Beinen gelang es mir, Ausläufe von Schmutz zu lokalisieren. […]

Die Haut um mein Schambein hing in Fetzen, einige der Männer kommen­tier­ten dies.

[…]

Ich begann davon zu phantasieren, tiefer hineinzukommen. Die Haut abzu­zie­hen und das Fleisch von Talg und Fett zu befreien. Später von Knochen und Knorpel zu trennen und sie mit einem frisch gewaschenen Tuch abzuwischen, nur um sie wieder anzubringen. Die Knochen (hartnäckig) mit einer Bürste zu schrubben und zu polie­ren, bis sie glatt waren.

Das klingt jetzt vielleicht so, als hätte ich mich furchtbar schmutzig gefühlt, das tat ich nicht. Ich genoss einfach den leichten Schmerz und zu sehen, wie Dinge aus meinem Körper kamen. Das hatte nichts mit Sauberkeit zu tun, eigentlich.]

Eigentlich. Kurz bevor ihr Mann sie zurückholt, attestiert ihr ein Kunde, sie habe traurige Augen.

Immerhin gibt es eine Liebesgeschichte im Roman, aber mehr in der Peripherie der Beichte der Hofdame: die Beziehung zwischen Sunniva, der Frau zur linken Hand des Königs, und Viola, der Bor­dell­wirtin, die in einer geheimnisvollen Beziehung mit der Zauber- und Elfen­welt steht. Wenn im Roman von „de elskende“ („die Liebenden“) die Rede ist, ist jedes Mal von diesen bei­den die Rede. Doch ihre Liebesgeschichte ist eine unglückliche, denn auch wenn Sunnivas Liebe, die sie dem König entgegenbringt, nur „harsk og fod­slæ­ben­de“ [harsch und schleppend] (S. 60) ist, mag sie doch letzten Endes ihr Leben im Schloss nicht für eine romantische Flucht mit der Geliebten aus ihrer Jugend aufgeben.

Der Rosenbusch in der Mitte des Labyrinths

Gibt es also Liebe(nde) in elskende? Die Lesenden werden im Roman einleitend aufgefordert, selbst ein Urteil zu fällen, ob es sich um eine Liebesgeschichte handelt:

Det er aldeles muligt, tror jeg, at hendes [= Violas] historie i virkeligheden handler om penge og drømme og en manglende forståelse for, at nogle gange er det for sent.

[…]

Hvis der er kærlighed her, håber jeg, at du finder den. (S. 10)

[Es ist absolut möglich, glaube ich, dass ihre [= Violas] Geschichte in Wirklichkeit von Geld und Träumen und einem Mangel an Verständnis handelt, dass es manchmal zu spät ist.

[…]

Wenn es hier Liebe gibt, hoffe ich, dass du sie findest.]

Erzähltopographisch findet diese Suche nach der Liebe, die den Lesenden als Aufgabe gestellt wird, ihren symbolischen Ausdruck in einem undurchschaubaren Labyrinth aus dichten Buchenhecken, das zwischen dem Schloss und dem Bordell liegt. Im Zentrum des Labyrinths soll „efter sigende“ [dem Hörensagen nach] (S. 10) die schönste Rose des Landes wachsen, deren Duft und Farbe wundersame Fähigkeiten nachgesagt werden. Obwohl das von den Gärtnern des Königs sorgsam gepflegte Labyrinth für alle frei zugänglich ist, geht doch niemand hindurch aus Angst, sich darin zu verirren. Sunniva und die Ich-Erzählerin unternehmen zwar einmal einen Spaziergang in dem Labyrinth, irren aber nur in diesem herum, ohne das Zentrum zu finden. Ohnehin bringe es, so der König, Un­glück, bis zum Rosenbusch vorzudringen – sehen soll niemand die wunder­schöne Rose, nur sich danach sehnen.

Für die vom König geschwängerte, unglückliche Gunhild wird der angeblich selbst während der Dürre dieses Sommers ge­wäs­serte herrliche Rosenbusch zum Hassobjekt, zum Symbol für die Ungerechtigkeit im Königreich. Sunniva hat leichtes Spiel, als sie der rachsüchtigen Gunhild angeblich den Weg zum Rosen­busch beschreibt, um sie dann im Labyrinth zu ver­brennen zu versuchen. Der Merk­reim für den Weg durch das Labyrinth, den sie Gunhild bei­bringt, hätte allerdings für diese eine Warnung sein können:

Højre, højre, venstre

Dum er den, der elsker

Venstre, venstre, højre

Elsk blot aldrig højere

End ligeud ligeud ligeud

Ellers finder du aldrig ud (S. 187)

[Rechts, rechts, links

Dumm ist, wer liebt

Links, links, rechts

Liebe bloß niemals stärker

Als geradeaus geradeaus geradeaus

Sonst findest du niemals heraus]

Gab es jemals einen Rosenbusch? Nachdem das Labyrinth niedergebrannt ist, ist er nicht mehr zu finden: „Man formodede, at rosen også brændte ned den nat. Væk var den i hvert fald.“ [Man vermutete, dass die Rose auch in jener Nacht niederbrannte. Jeden­falls war sie weg.] (S. 188) Mehr als suggeriert wird hier, dass es die Rose nie gegeben hat. Das von ihr symbolisierte Konzept der Liebe als und im Zentrum des (Lebens-)Laby­rinthes wird so lesbar als ein Diskurs, der lediglich dem Macht­erhalt des Königs gedient hat. Der Glaube an die Liebe wirkt gesellschaftsstabilisierend, aber ob die Liebe selbst existiert, ist zweifelhaft. Wie hieß es schon in der metafiktionalen Vorrede ganz am Anfang dieses provokativen, ästhe­tisch ge­glück­ten, aber ach so pessimistischen ‚Liebesromans‘: „[I] labyrintens centrum er der tomt“ [Im Zentrum des Laby­rinthes ist es leer] (S. 7).

(Stephan Michael Schröder, Universität zu Köln)

  1. „Det er, som om alle andre har fået en manual, og jeg har ikke“. In: Politiken, 3.10.2021. ↩︎
  2. Anna Raaby Ravn: „Politikens Lotte Folke om den træt­hed, der fik hende til at producere 45 minutters podcast om, ja, fortællingen om Mette Høeg“. In: Weekendavisen, 19.9.2025. ↩︎
  3. Benedicte Gui de Thurah Huang: „Som var Karen Blixen stået op fra de døde for at skrive om byldepest og hor“. In: Politiken, 2.6.2025. ↩︎
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Momentaufnahme 2023: Betrug und Wahrheit in Hanna Nordenhöks Underlandet

Wer auch immer prägnante Trends in der skandinavischen Literatur der 2010er Jahre benennen möchte, kann auf die Genrebezeichnung Autofiktion wohl kaum verzichten. Mit Karl Ove Knausgård, Vigdis Hjorth, Lars Norén, Karolina Ramqvist und vielen anderen namhaften Autor*innen hat dieses schwer bestimmbare Genre sowohl für beträchtliche Verkaufszahlen als auch für intensive Literaturdebatten über Authentizität und Deutungshoheit gesorgt.

Der 2023 erschienene Roman Underlandet [Das Wunderland] von Hanna Nordenhök kann als ein Kommentar zur gegenwärtigen Besessenheit vom vermeintlich Authentischen gelesen werden (siehe dazu eine Rezension von Ulrika Milles in Expressen). In diesem Roman bedient sich Nordenhök der Autofiktion, aber interessanterweise nicht als Technik der Selbstdarstellung, sondern als Motiv, indem sie die vielen Romanfiguren zu autofiktiven Versionen ihrer Selbst macht. Als eine Art Zeitdiagnose wird das Thema der Authentizität in Underlandet vor allem anhand seiner vermeintlichen Gegensätze – Betrug und Selbstbetrug, Täuschung, Schein, Lüge, Unwahrheit – in drei längeren Erzählungen und fünf kürzeren Episoden verarbeitet. Von schwedischen Literaturkritiker*innen ist der Roman überwiegend mit Begeisterung aufgenommen worden. So bescheinigt der Literaturkritiker Joel Kjellgren Hanna Nordenhök meisterliche Darstellungen von „det ögonblick då livslögnen krackelerar“ [dem Augenblick, in dem die Lebenslüge zerbricht] (Rezension in Aftonbladet).

Underlandet ist der fünfte Roman der Schriftstellerin und Übersetzerin Hanna Nordenhök (geb. 1977). Wie ihr Vater Jens Nordenhök übersetzt sie Literatur aus dem Spanischen, u.a. von Fernanda Melchor. Nach ihrem lyrischen Debüt mit Hiatus im Jahr 2007 hat sie einen weiteren Gedichtband und fünf Romane veröffentlicht. Ihre ersten drei Romane Promenaderna i Dalby Hage (2011) [Die Spaziergänge im Hain von Dalby], Det vita huset i Simpang (2013) [Das weiße Haus in Simpang] und Asparna (2017) [Die Espen] sind nachträglich zu einer ‚Gedächtnistrilogie‘ zusammengeführt worden, da sie alle auf historischen Dokumenten und auf Nordenhöks eigener Familiengeschichte basieren. Wie die Literaturwissenschaftlerin Johanna Lindbo in Bezug auf Det vita huset i Simpang in einem Artikel bemerkt hat, schreibt Nordenhök eine detailreiche und sinnliche Prosa, die den dargestellten Räumlichkeiten, wie etwa den Interieurs, der Wohngegend, institutionellen Gebäuden, städtischen Milieus oder auch den Landschaften viel Aufmerksamkeit schenkt.

Hanna Nordenhök gehört zu einer wachsenden Gruppe promovierter Schriftsteller*innen in Schweden. 2018 hat sie ihre Dissertation über drei zeitgenössische Lyrikerinnen und deren Schreibprozesse an der Universität Göteborg abgeschlossen. Darüber hinaus schreibt Nordenhök Literaturkritik, vor allem bei der Boulevardzeitung Expressen. Für den Roman Caesaria über ein verwaistes Mädchen im 19. Jahrhundert, das von dem Arzt, der es durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht hat, auf einem schönen Gutshof irgendwo in Schweden gefangen gehalten wird, wurde Nordenhök 2021 der Romanpreis des Schwedischen Rundfunks verliehen.

Die vielseitige literarische Tätigkeit von Hanna Nordenhök spiegelt sich in ihrem gekonnten Umgang mit der Sprache und dem Erzählstoff in Underlandet wider. An dem Roman fällt unmittelbar der komplexe Aufbau auf. Die drei längeren Erzählungen „Underlandet“ [Das Wunderland], „Hyperion Hotel“ und „Huset på slätten“ [Das Haus in der Ebene] werden in drei bis fünf Abschnitten abwechselnd erzählt und durch fünf kürzere Episoden mit dem Titel „(fallbeskrivning)“ [Fallbeschreibung] ergänzt. Die einzelnen Geschichten sind durch das Hauptthema Betrug und (Un-)Wahrheit auf einer Ideenebene miteinander verbunden, haben jedoch sehr unterschiedliche Schauplätze und sind aus der Sicht verschiedener Figuren dargestellt. Die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ weist in diesem Fall also nicht auf eine groß angelegte, kohärente Erzählung hin und steht interessanterweise nicht auf dem Buchumschlag, sondern nur auf dem inneren Titelblatt. Es handelt sich hier eher um eine ‚kaleidoskopische Technik‘ des Erzählens, wie Ulrika Milles in Expressen bemerkt, in der zahlreiche Formen des Selbst- und Fremdbetrugs durch die verschiedenen Geschichten und Episoden zu einem facettenreichen Ganzen zusammengesetzt werden.

Diese Komplexität findet auch in der Themenvielfalt des Buches ihren Ausdruck. In der ersten, titelgebenden Geschichte „Underlandet“ ist die Hauptfigur eine obdachlose Frau, die wahrscheinlich Josie heißt, aber sich in jedem Kapitel einen neuen Namen gibt. Die Geschichte spielt in einem Teil der USA, dessen Wälder und Meeresstrände Josie Verstecke bieten und die an Kalifornien denken lassen. Um an etwas Essen und Geld zu kommen, gibt sich die kleine Frau für ein Kind oder eine Jugendliche aus und wird von besorgten Familienmüttern und jungen Männern zu sich nach Hause eingeladen. Das Wunderland aus dem Titel lässt die Geschichte, in der die obdachlose Josie in einer Parallelwelt von Ort zu Ort irrt, wie ein groteskes Zerrbild des Kinderklassikers Alice i Underlandet [Alice’s Adventures in Wonderland] von Lewis Carroll erscheinen. Der Titel weckt auch die Assoziation zu den USA als ‚land of dreams‘, wo das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit die Verwirklichung vom ‚American dream‘ ermöglichte. In Nordenhöks Roman ist das alles längst vorbei, was dem ‚Wunder‘ im Titel einen ironischen Klang verleiht. Die anderen Geschichten im Roman spielen zwar alle in Europa, aber die postindustriellen, von globaler Finanzwirtschaft und weltweiten Notlagen geprägten Schauplätze dieser Geschichten unterscheiden sich im Roman nicht nennenswert von den amerikanischen.

In der zweiten längeren Geschichte, „Hyperion Hotel“, entdeckt der Journalist Vega aus Barcelona, dass sein erfolgreicher Kollege Marius seine Reportagen über geflüchtete Kinder in Athen gefälscht hat. Während Marius’ Karriere mit diesem Skandal abrupt endet, verfasst Vega über den Fall Marius einen Bestseller und erntet journalistischen Ruhm. Nach einer Lesung von Vega stellt ein Zuhörer die kritische Frage, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit verlaufe, ob nicht alle Berichte und Erzählungen in irgendeiner Weise Fälschungen seien, da sie sich der Fiktionalisierung bedienten. Vega ist von dieser Frage sehr peinlich berührt, und danach lässt ihn sein homoerotisch angehauchtes Erinnerungsbild von Marius im Hyperion Hotel in Athen kurz nach seiner Entlarvung nicht mehr los. Der Stoff von „Hyperion Hotel“ wie auch von „Underlandet“ basiert auf wahren Begebenheiten. Die Geschichte über die zwei Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus ...spanischen Journalisten, die in ein Katz-und-Maus-Spiel in Athen verstrickt sind, weisen Parallelen zum publizistischen Skandal um den Spiegel-Journalisten Claas Relotius auf. Im Herbst 2018 hatte Relotius’ Kollege Juan Moreno beweisen können, dass Relotius’ preisgekrönte Reportagen in beträchtlichen Teilen gefälscht oder frei erfunden waren. 2019 hat Moreno das Buch Tausend Zeilen Lüge über den Fall veröffentlicht und wurde kurz darauf selbst beschuldigt, Falschdarstellungen darin eingebaut zu haben. Durch „Hyperion Hotel“ rückt die Manipulierbarkeit der Sprache in den Vordergrund des Romans, aber Fragen über Wahrheit und Unwahrheit werden in allen Geschichten verhandelt, ob in der Politik, in der PR, in fiktionalen Texten, in sozialen Medien oder in der zwischenmenschlichen Kommunikation.

Die letzte, ausführlichere Geschichte, „Huset på slätten“, spielt im südschwedischen Schonen, wo eine wohlhabende Ehefrau ein Verbrechen ihres Mannes, nämlich den Besitz von kinderpornographischem Bildmaterial, deckt, um ihr bequemes Leben im luxuriösen Eigenheim nicht aufgeben zu müssen. Gleichzeitig postet sie fleißig Bilder in den sozialen Medien von ihrer teuren Küche, ihren Designermöbeln aus Holz und ihren Zwillingstöchtern, um die sich eine Kinderfrau kümmert. Die Geschichten „Underlandet“ und die Fallbeschreibungen sind linear erzählt, während „Hyperion Hotel“ und „Huset på slätten“ als Rückblicke auf vergangene Begebenheiten aufgebaut sind, was verschiedene Formen der Spannungserzeugung ermöglicht. In den zuerst genannten Fällen erleben die Leser*innen die zum Teil dramatischen Ereignisse direkt mit, während die Hauptfiguren der anderen beiden Geschichten nur schrittweise verraten, was in der Vergangenheit passiert ist.

In den Fallbeschreibungen, d.h. zwischen den Abschnitten der drei Haupterzählungen, werden weitere Formen des Betruges und der Täuschung ausgeleuchtet: Ein Finanzkrimineller wird wegen Veruntreuung von Wohltätigkeitsgeldern in seiner wunderschönen Stockholmer Wohnung verhaftet; ein MMA-Kampfsportler aus Südschweden dopt sich, um seine Kämpfe zu gewinnen; eine Schulleiterin aus Paris wird mit einer verwahrlosten Schülerin in der heruntergekommenen französischen Kleinstadt Béthune konfrontiert, die ständig neue Verletzungen und Krankheiten erfindet; ein rechtsextremer Politiker aus Bayern trifft sich mit einer erfolgreichen PR-Beraterin in Berlin, um sein öffentliches Image salonfähig zu machen; und in der letzten Fallbeschreibung wird schließlich der nackte Körper einer toten, wohlhabenden Frau in Portugal mit vielen Spuren von Schönheitsoperationen im Bett aufgefunden.

Die Fallbeschreibungen widmen sich somit einerseits tatsächlichen oder vermuteten Verbrechen, die an die Auflösung von Kriminalfällen und Polizeiakten denken lassen. Zugleich wird das Genre des psychoanalytischen Fallbeispiels aufgerufen, gerade weil dysfunktionale oder nicht vorhandene Familienbeziehungen in fast jeder Erzählung eine entscheidende Rolle übernehmen. Der ‚Fall‘ kann auch als ein tatsächlicher oder drohender sozialer Abstieg gedeutet werden: Nordenhöks Romanfiguren gehören häufig der Unterschicht an oder haben ein solches Milieu hinter sich gelassen, wie zum Beispiel der MMA-Kampfsportler oder die Ehefrau im luxuriösen Haus in der Ebene, aber sie erinnern sich offensichtlich noch gut daran, wie unwägbar und flüchtig sozialer Status und Erfolg sind, denn ihre Handlungen scheinen beinahe ausnahmslos von Abstiegsangst gesteuert zu sein.

Das schwedische Wort ‚under‘ im Titel des Romans bedeutet nicht nur ‚Wunder‘, sondern auch ‚unter‘ – das Wunderland ist auf Schwedisch gleichzeitig ein ‚Unterland‘. Bei einer psychoanalytischen Deutung des Begriffs assoziieren die Lesenden vermutlich Stichworte wie Verdrängung und Unterbewusstes. Eine Interpretation des Begriffs, die auf die soziale Schichtung abhebt, trifft am besten auf die Titelerzählung „Underlandet“ über die obdachlose Josie zu. Obwohl sie selbst eindeutig der amerikanischen ‚Unterstschicht‘ angehört, wird sie zu einer sozialen Grenzgängerin, indem es ihr weitgehend gelingt, eine unscheinbare oder sogar unsichtbare Beobachterin der Menschen in ihrem Umfeld zu bleiben. Erst wenn Josies vorübergehende Mimikry-Angleichung an ihre Mitmenschen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, muss sie jeweils in die nächste Lebensphase aufbrechen und sich eine neue Wohnumgebung suchen.

Durch Josies bloßstellenden Blick auf das sesshafte Bürgertum, dem die Leser*innen des Romans mit großer Wahrscheinlichkeit selbst angehören, entsteht eine geschickt konstruierte Spiegelung der sozialen Ängste und Selbsttäuschungen der Leserschaft. Diesen Spiegeleffekt scheint die Graphik auf dem Buchumschlag modellhaft zu veranschaulichen. Der Kreis und die Linie in der Mitte des Bildes lassen ganz konkret an eine auf- oder untergehende Sonne und eine Wasserlinie denken. Dabei liegt es auch nahe, eine teilweise überblendete und hin- und herrückende Fokussierung zu assoziieren: Selbst der zentrale Fokus, der sich durch die Schnittmenge der drei Kreise ergibt, ist in eine kleinere obere rote und eine größere untere dunkelblaue Fläche aufgeteilt. In Bezug auf den Romaninhalt wäre eine mögliche Interpretation des Buchumschlags auf symbolischer Ebene, dass subjektive Wahrnehmungen nur anteilig zur Deckung kommen können und dass eine objektive Wahrnehmung per se weder erfasst noch sprachlich vermittelt werden könnte. Die ‚Realität‘ und die Zuschreibungen von Wahrheitswerten bleiben relational.

Auch erzähltechnisch bietet der Roman eine eingeschränkte Sicht auf die jeweiligen figurenspezifischen Ereignisse, indem die Erzählperspektive mittels interner Fokalisierung durch eine bestimmte Figur in jeder Geschichte nach innen gerichtet ist. Dieser Wechsel zwischen den verschiedenen internen Figurenperspektiven verstärkt die kaleidoskopische Erzählweise des Romans. Trotz der internen Fokalisierung bleibt das Innenleben der vielen Figuren in der Gesamtschau vage. Statt eines vertieften, psychologischen Porträts wird jeweils die psychologische Konstellation der Figur in einer Momentaufnahme scharf und kontrastreich durchleuchtet. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Gedankengänge und Beweggründe der Figuren ihnen selbst nicht immer klar sind. Der Literaturkritikerin Martina Montelius zufolge besteht die Intelligenz des Romans darin, dass keine eindimensionalen Erklärungen der Ereignisse geliefert werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie unerklärlich bleiben (Rezension in Göteborgs-Posten).

Der Erzählstil von Underlandet ist differenziert und detailreich, mit einem feinen sprachlichen Register. Durch den thematischen Fokus des Romans auf Betrug und Unwahrheit kommen die Lesenden nicht umhin, die psychologische Glaubwürdigkeit und die atmosphärischen Effekte auch von einer Metaebene aus zu betrachten. Vielleicht führt dies zu einer Skepsis gegenüber möglichen manipulativen Mitteln oder auch zur verstärkten Aufmerksamkeit auf Stilfiguren wie Vergleiche und Personifikationen, die zur Bildhaftigkeit des Erzählten beitragen, sowie auf Wiederholungen von gewissen Inhalten wie zum Beispiel die wiederkehrenden Erinnerungen von Vega an die Bespitzelung und Enttarnung von Marius in Athen. Die Wiederholungen wirken auf den ersten Blick beinahe didaktisch, aber die mehrfache Wiedergabe bestimmter Ereignisse kann durchaus auch als eine Problematisierung der Zeugenschaft und des Nacherzählens gelesen werden. So gesehen stellt Hanna Nordenhök auch durch den Textaufbau den Wahrheitsgehalt von Medieninhalten und die vermeintliche Authentizität von literarischen Texten in Frage.

Underlandet ist ein ambitioniertes Gesellschaftspanorama, in dem globale Entwicklungen wie Klimawandel, Pandemie und Digitalisierung einen gegebenen und nur in Andeutungen sichtbar gemachten Hintergrund zu den verschiedenen Geschichten bilden. Dadurch entsteht eine facettenreiche Momentaufnahme der Gegenwart. Durch die vielen Bezüge auf aktuelle Debatten und Probleme verortet Hanna Nordenhök ihren Roman mitten im Gegenwartsdiskurs, aber ohne deutlich Stellung zu nehmen. Es bleibt unklar, ob Underlandet vorwiegend als ein politisches oder dokumentarisches Projekt aufzufassen ist. Es wäre aber auch möglich, Underlandet als ein vor allem ästhetisches Projekt zu lesen – das heißt, als gelungene Erzählkunst und Sprachkunst, die von Nordenhöks literarisch vielseitigen Tätigkeiten als Schriftstellerin, Übersetzerin, Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin positiv beeinflusst worden sind.

(Hanna Henryson, Stockholms Universitet)

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Die Rückseite der Leinwand. Ida Börjels Omsorgslabyrinten (2023)

Das, was Besucher*innen eines Kunstmuseums (in aller Regel) nicht zu sehen bekommen, schmückt die Vorderseite von Ida Börjels (*1975) Lyrikband Omsorgslabyrinten (2023 – Das Fürsorgelabyrinth): die Rückseite einer Leinwand. Die Buchrückseite zeigt das Gemälde selbst: Gösta Adrian-Nilssons (GAN, 1884-1965) Biljardspelarna von 1923, das hier allerdings mit kleinen roten Zahlen und Strichen versehen ist. Diese Markierungen weisen auf mögliche schadhafte, restaurierungsbedürftige Stellen hin und stammen (laut Impressum) aus einem Zustandsbericht vom 17.06.2021 des Malmö Konstmuseum.

Ein solcher Blick auf Museumsgegenstände sei – so heißt es bei Börjel – ein exklusives Vorrecht, das Expert*innen vorbehalten ist:

Intresset för objektens baksidor          

det är en konservatorsgrej

det är ett privilegium

att få se baksidan

Det är där det händer

[Das Interesse an den Rückseiten von Objekten

ist eine Konservatorensache

ist ein Privileg

die Rückseite sehen zu dürfen

Denn dort passiert es]

Was sich genau auf jenen Rückseiten ereignet und was für die Pflege und Instandhaltung – »Omsorg« (›(Für-)Sorge‹) – von Objekten erforderlich ist, wird im Laufe des Lyrikbandes detailreich geschildert. Die Lesenden werden auf einen Rundgang durch die Sammlungen und Lagerräume des Kunstmuseums Malmö mitgenommen und erhalten aus erster Hand Einblicke, wie jenseits des Ausstellungsbetriebs mit Kunstgegenständen im Museumsalltag verfahren wird, denn die Stimmen in den Gedichten sind die der Konservator*innen.

Der Großteil des Textes folgt einer gesprächsartigen Struktur und liest sich als eine Art Interview in Gedichtform, als in Versform gesetzte mündliche Berichte. Zu Wort kommen nur die Interviewten. Redebeiträge des*der Interviewer*in wurden entfernt, was sich aus den Reaktionen des jeweiligen lyrischen Ichs schließen lässt: So folgen beispielsweise auf einige der in großer Menge vorkommenden Lücken im Schriftbild Aussagen, die mit Antwortpartikeln eingeleitet werden. Leerzeichen und Lücken suggerieren zusätzliche Pausen im Gespräch; Interview-Praxis wird dadurch nachvollziehbar in einen lyrischen Text transformiert. Dass es sich hierbei um Gedichte handelt, ist zumeist nur visuell durch die Anordnung der Texte und zahlreiche Enjambements erkennbar.

Formal besteht Omsorgslabyrinten aus zwölf Kapiteln zuzüglich eines Anhangs. Jedem Kapitel wird eine Überschrift vorangestellt, die einen Hinweis auf die aktuelle räumliche Position liefert (z.B. »Rum 303«, »En korridor«). Jede Kapitelüberschrift steht auf einer eigenen, mit Seitenzahl versehenen Seite; die restlichen Seiten des Buches bleiben unnummeriert. Die einzelnen Abschnitte werden dadurch – wie die unterschiedlichen Räume, in denen sie spielen – voneinander abgegrenzt.

Der Rundgang beginnt in Raum 416. »Du får gå in« (›Du darfst hineingehen‹), teilt das erste lyrische Ich mit, um im Anschluss auf sich dort befindende Utensilien hinzuweisen: Von Ziegenhaarbürsten über Mikrofasertücher bis hin zu Baumwollhandschuhen. Zu einigen Hilfsmitteln folgen Kommentare zur Verwendung sowie spezifische Fachdetails (z.B. zu speziellen Schwämmen, die eine ähnliche Struktur wie Brot haben, das früher zu Reinigungszwecken verwendet wurde, oder zur ablehnenden Haltung des Vatikans bezüglich des Einsatzes von Speichel bei der Säuberung von Kunstwerken). Geschichten aus dem Arbeitsalltag, Hinweise auf die optimale Luftfeuchtigkeit und Temperatur zur Lagerung von Objekten sowie Vorgehensweisen bei Schädlingsbefall stehen im Zentrum der ersten drei Abschnitte (»Rum 416«, »Rum 303«, »Spegelgången« (›Der Spiegelgang‹)). Die Ausführungen des lyrischen Ichs werden ergänzt durch Reflexionen und Gedanken zum Wert von Objekten und zum Umgang mit Kulturgut in Museen. Gerade wenn es um Gebrauchsgegenstände geht, sei es die Aufgabe der Konservator*innen, die Objekte zwar instand zu halten, nicht aber deren Alterungsprozess und die Spuren früherer Generationen zu vertuschen:

Om jag går in

för att se en utställning

på ett museum

och allt är fräscht och helt

kan jag ju lika gärna gå

till Ikea

[Wenn ich hinein gehe

um eine Ausstellung anzusehen

in einem Museum

und alles ist frisch und ganz

kann ich ja genauso gut

zu Ikea]

Im vierten Kapitel geht es (nach circa einem Drittel des Buches) weiter in »Hills grotta« (›Hills Höhle‹) – ein Raum, in dem die Sammlung des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Hill (1849-1911) aufbewahrt wird, die aus über 2600 Zeichnungen und 25 Gemälden besteht.[1] Während die Sammlung nach der Zeichnung eines Löwen durchsucht wird, gibt das lyrische Ich Einblicke in die eigene Arbeit mit Hills Werk und berichtet vom Leben des Künstlers und dessen Leiden an paranoider Schizophrenie. Als das lyrische Ich zum Ende des Kapitels den Raum verlässt (»Strax tillbaka //// inte röra« (›Gleich wieder da ///// nicht anfassen‹), kommt es im nachfolgenden Abschnitt zu einem vollständigen Bruch der prosaartigen Lyrik und des ansonsten zumeist sachlich-gesprächigen Stils:

»Intill Hill« (›Neben Hill‹), der fünfte Abschnitt, wird unvermittelt mit einem kleinen, kreisförmigen, von Hill gezeichneten Schwarzweiß-Bild eingeleitet. Dies wirkt wie ein Blick durch ein Schlüsselloch oder durch ein Fenster in eine völlig andere Realität: Der nachfolgende Text besteht aus kurzen, assoziativen, zum Teil gereimten und experimentelleren Gedichten, die sich auch visuell durch die Verwendung einer größeren Schrift vom Rest des Buches abheben. Wer hier spricht, bleibt unklar – möglicherweise sogar Hill selbst? Denn stilistisch erinnern die Gedichte an Hills eigene lyrische Texte und können als Reminiszenz und Annäherung an Hills Werk interpretiert werden.[2] Börjel reiht sich damit ein in die Riege schwedischer Lyriker*innen, die sich von Hills Bildern und Texten inspirieren ließen, wie beispielsweise Ann Jäderlund, Lars Norén, Jesper Svenbro und Birgitta Trotzig.

Nach diesem Exkurs geht es zurück zu den Konservator*innen – zunächst im Plauderton bei Kaffee und Keksen im Pausenraum (»Fikarummet«), dann über zwei sehr kurze ›Durchgangskapitel‹ (»I hissen« (›Im Aufzug‹), »Genväg« (›Abkürzung‹) hinein in das Herz des Museums (»Själva hjärta«), wo hunderte von Gemälde aufbewahrt werden. Erneut steht die Konservierungs- und Restaurierungsarbeit an Kunstwerken im Vordergrund. Unterbrochen werden die Ausführungen hier jedoch wiederholt durch nummerierte Anmerkungen eines Zustandsberichts mit Hinweisen auf schadhafte Stellen an Gemälden. Nach Durchqueren eines Korridors (»Vi bara fortsätter« (›Wir gehen einfach weiter‹) führt der Weg in eine Sammlung verschiedener Textilien (»Textilier«). Ein nicht näher bestimmtes Stoffstück wird schließlich untersucht, kommentiert und an seinen Lagerplatz zurückgebracht. Und auch die Lesenden werden mit den letzten Versen des zwölften Abschnitts (»Aria«) vom lyrischen Ich an den Anfang zurückgebracht und aus dem Museumslabyrinth hinausgeführt: »Jag kan följa / dig ut« (›Ich kann dich / hinausbegleiten‹).

Der Anhang »Appendix: Tillståndsrapporter« (›Anhang: Zustandsbeschreibungen‹) rundet den Lyrikband schließlich mit dreizehn kürzeren, sachlichen Zustandsbeschreibungen einzelner Ausstellungsstücke ab. Erwähnt wird allerdings nicht, welche Objekte hier untersucht werden. So wird erneut die konkrete Arbeit der Konservierung und Restaurierung in den Fokus gerückt und gewissermaßen als eigenständige, wenngleich verborgene ›Kunstform‹ präsentiert. Das titelgebende Kompositum Omsorgslabyrinten symbolisiert zum einen den konkreten Weg durch die Lagerhallen und Sammlungen des Museums. Zum anderen lassen sich die Wege des Labyrinths aber auch abstrakter auf metaphorischer Ebene verstehen: Welche Wege werden bei der Konservierung und Restaurierung gegangen? Wie wird etwas konserviert und – vielleicht noch wichtiger – was wird eigentlich bewahrt? Welchen Wert haben Objekte und wie und warum kann sich dieser im Laufe der Zeit verändern? Wie wird mit kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit umgegangen? – Fragen, die nicht zuletzt auch eine kulturpolitische Dimension berühren. Komplexität und Unüberschaubarkeit kennzeichnen den Sachverhalt, was in den Aussagen der Konservator*innen immer wieder zum Ausdruck kommt. Als Ziel der Arbeit wird wiederholt das Bewahren, Weitergeben und Erklären der Vergangenheit hervorgehoben, denn: »Museet är till för kommande / generationer« (›Das Museum ist für kommende / Generationen‹) und somit immer auch ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt.

Ida Börjel (*1975) debütierte 2004 (Sond) und zählt spätestens seit Veröffentlichung ihres Lyrikbandes Ma (2014; u.a. nominiert für Augustpriset) zu einer der meistausgezeichneten schwedischen Lyrikerinnen der Gegenwart. 2022 erschien Ringa hem. Dokumentärdikt (Zu Hause anrufen. Dokumentargedicht), das auf realen, abgehörten, transkribierten und übersetzten Telefongesprächen russischer Soldaten von der ukrainischen Front nach Hause basiert. Stilistisch verwandt – wenngleich mit deutlich anderer Thematik – ist ebenfalls Börjels Skåneradio (2006), das Anrufe und Gespräche im Radio als Ausgangspunkt nimmt. Und auch für Omsorgslabyrinten wählt Börjel gesprochene Sprache als Textgrundlage und verfolgt ein dokumentarisch-journalistisches Projekt: Die Autorin selbst unternahm eine Studienreise an das Kunstmuseum in Malmö und sprach dort mit den Museumsmitarbeiter*innen. Gut möglich also, dass auch dieses Werk vornehmlich auf tatsächlich stattgefunden Gesprächen zwischen Börjel und Konservator*innen beruht. Davon zeugt unter anderem eine auf eine längere Lücke im Text folgende Äußerung eines lyrischen Ichs: »Sa du essädikt« (›Sagtest Du Essay-Gedicht‹) – ein direkter Kommentar zu Börjels Schreibvorhaben. Denn Omsorgslabyrinten ist mehr als nur eine Zusammenstellung verschiedener Redebeiträge. Durch das Einflechten von Zustandsberichten und lyrischen Experimenten wird die Arbeit des Konservierens und Restaurierens in den Vordergrund gerückt und sich dem Thema in sprachlich knapper Form von verschiedenen Seiten angenähert.

Gerade in den letzten Jahren lässt sich in Skandinavien ein Anstieg lyrischer Texte beobachten, die ein ausgewähltes Thema mit nahezu journalistischem Anspruch behandeln und einen unmittelbaren Realitätsbezug aufweisen – oftmals durch Einbezug von Äußerungen realer Personen (man denke zum Beispiel auch an Marit Kaplas lyrische Interviewtranskriptionen Osebol (2019) und Kärlek på svenska (2022 – Liebe auf Schwedisch)). Seit Espen Stueland seinem Werk Eilert Sundt-tilstanden (2019 – Eilert Sundt-Zustand) den Untertitel »sakpoesi« (›Sachlyrik‹) gegeben hat, wird diese Genrebezeichnung für solche dokumentarische Tendenzen aufweisende Lyrik auch in Forschungsarbeiten diskutiert (z.B. in Tidskrift Sakprosa von 2023, die eine Ausgabe ganz dem Begriff gewidmet hat). Sollte sich die Bezeichnung für eine Art der Lyrik, die sich auf der Schwelle zwischen Poesie und Sachliteratur befindet, durchsetzen, ist Omsorgslabyrinten definitiv ein besonders anregendes Beispiel für diese neue Gattung.

Ob es sich bei Omsorgslabyrinten tatsächlich um transkribierte, leicht redigierte und in Versform gesetzte O-Töne handelt oder aber ob dies nur suggeriert wird, kann aus Börjels Text nicht erschlossen werden. Anders als bei Ringa hem beispielsweise fehlt ein entsprechendes Vorwort/Nachwort und/oder Quellennachweise. Und so lässt sich ein Kommentar eines lyrischen Ichs zu einer entdeckten Kopie eines Gemäldes möglicherweise auch als (Meta-)Kommentar zu dieser Gedichtsammlung und generell als Hinweis zum Umgang mit Kunst und Kultur interpretieren:

Det är en otroligt skickligt

gjord kopia     en påminnelse

om att vara ödmjuk

om att det aldrig helt

går att veta vad det är

jag har framför mig

[Das ist eine unglaublich gekonnt

gemachte Kopie     eine Erinnerung

daran bescheiden zu sein

daran dass es nie ganz

möglich ist zu wissen was es ist

was ich vor mir habe]

Börjel, Ida: Omsorgslabyrinten. Stockholm: Albert Bonniers, 2023.

(Sina Lynn Sachse, Universität zu Köln)


[1] Hill hinterließ ein Manuskript mit zahlreichen Gedichten, das als Faksimile auf den Seiten der Litteraturbanken zu lesen ist. Vgl. Hill, Carl Fredrik: Dikter och författarskap på några språk. Nagug. 1885. https://litteraturbanken.se/författare/HillCF/titlar/DikterNagugHS/sida/1/faksimil


[2] Malmö Konstmuseum: Carl Fredrik Hill. 10.03.2025. https://malmo.se/Uppleva-och-gora/Konst-och-museer/Malmo-Konstmuseum/Konstsamlingen/Vara-samlingar/Carl-Fredrik-Hill.html [19.03.2025].

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