Momentaufnahme 2023: Betrug und Wahrheit in Hanna Nordenhöks Underlandet

Wer auch immer prägnante Trends in der skandinavischen Literatur der 2010er Jahre benennen möchte, kann auf die Genrebezeichnung Autofiktion wohl kaum verzichten. Mit Karl Ove Knausgård, Vigdis Hjorth, Lars Norén, Karolina Ramqvist und vielen anderen namhaften Autor*innen hat dieses schwer bestimmbare Genre sowohl für beträchtliche Verkaufszahlen als auch für intensive Literaturdebatten über Authentizität und Deutungshoheit gesorgt.

Der 2023 erschienene Roman Underlandet [Das Wunderland] von Hanna Nordenhök kann als ein Kommentar zur gegenwärtigen Besessenheit vom vermeintlich Authentischen gelesen werden (siehe dazu eine Rezension von Ulrika Milles in Expressen). In diesem Roman bedient sich Nordenhök der Autofiktion, aber interessanterweise nicht als Technik der Selbstdarstellung, sondern als Motiv, indem sie die vielen Romanfiguren zu autofiktiven Versionen ihrer Selbst macht. Als eine Art Zeitdiagnose wird das Thema der Authentizität in Underlandet vor allem anhand seiner vermeintlichen Gegensätze – Betrug und Selbstbetrug, Täuschung, Schein, Lüge, Unwahrheit – in drei längeren Erzählungen und fünf kürzeren Episoden verarbeitet. Von schwedischen Literaturkritiker*innen ist der Roman überwiegend mit Begeisterung aufgenommen worden. So bescheinigt der Literaturkritiker Joel Kjellgren Hanna Nordenhök meisterliche Darstellungen von „det ögonblick då livslögnen krackelerar“ [dem Augenblick, in dem die Lebenslüge zerbricht] (Rezension in Aftonbladet).

Underlandet ist der fünfte Roman der Schriftstellerin und Übersetzerin Hanna Nordenhök (geb. 1977). Wie ihr Vater Jens Nordenhök übersetzt sie Literatur aus dem Spanischen, u.a. von Fernanda Melchor. Nach ihrem lyrischen Debüt mit Hiatus im Jahr 2007 hat sie einen weiteren Gedichtband und fünf Romane veröffentlicht. Ihre ersten drei Romane Promenaderna i Dalby Hage (2011) [Die Spaziergänge im Hain von Dalby], Det vita huset i Simpang (2013) [Das weiße Haus in Simpang] und Asparna (2017) [Die Espen] sind nachträglich zu einer ‚Gedächtnistrilogie‘ zusammengeführt worden, da sie alle auf historischen Dokumenten und auf Nordenhöks eigener Familiengeschichte basieren. Wie die Literaturwissenschaftlerin Johanna Lindbo in Bezug auf Det vita huset i Simpang in einem Artikel bemerkt hat, schreibt Nordenhök eine detailreiche und sinnliche Prosa, die den dargestellten Räumlichkeiten, wie etwa den Interieurs, der Wohngegend, institutionellen Gebäuden, städtischen Milieus oder auch den Landschaften viel Aufmerksamkeit schenkt.

Hanna Nordenhök gehört zu einer wachsenden Gruppe promovierter Schriftsteller*innen in Schweden. 2018 hat sie ihre Dissertation über drei zeitgenössische Lyrikerinnen und deren Schreibprozesse an der Universität Göteborg abgeschlossen. Darüber hinaus schreibt Nordenhök Literaturkritik, vor allem bei der Boulevardzeitung Expressen. Für den Roman Caesaria über ein verwaistes Mädchen im 19. Jahrhundert, das von dem Arzt, der es durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht hat, auf einem schönen Gutshof irgendwo in Schweden gefangen gehalten wird, wurde Nordenhök 2021 der Romanpreis des Schwedischen Rundfunks verliehen.

Die vielseitige literarische Tätigkeit von Hanna Nordenhök spiegelt sich in ihrem gekonnten Umgang mit der Sprache und dem Erzählstoff in Underlandet wider. An dem Roman fällt unmittelbar der komplexe Aufbau auf. Die drei längeren Erzählungen „Underlandet“ [Das Wunderland], „Hyperion Hotel“ und „Huset på slätten“ [Das Haus in der Ebene] werden in drei bis fünf Abschnitten abwechselnd erzählt und durch fünf kürzere Episoden mit dem Titel „(fallbeskrivning)“ [Fallbeschreibung] ergänzt. Die einzelnen Geschichten sind durch das Hauptthema Betrug und (Un-)Wahrheit auf einer Ideenebene miteinander verbunden, haben jedoch sehr unterschiedliche Schauplätze und sind aus der Sicht verschiedener Figuren dargestellt. Die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ weist in diesem Fall also nicht auf eine groß angelegte, kohärente Erzählung hin und steht interessanterweise nicht auf dem Buchumschlag, sondern nur auf dem inneren Titelblatt. Es handelt sich hier eher um eine ‚kaleidoskopische Technik‘ des Erzählens, wie Ulrika Milles in Expressen bemerkt, in der zahlreiche Formen des Selbst- und Fremdbetrugs durch die verschiedenen Geschichten und Episoden zu einem facettenreichen Ganzen zusammengesetzt werden.

Diese Komplexität findet auch in der Themenvielfalt des Buches ihren Ausdruck. In der ersten, titelgebenden Geschichte „Underlandet“ ist die Hauptfigur eine obdachlose Frau, die wahrscheinlich Josie heißt, aber sich in jedem Kapitel einen neuen Namen gibt. Die Geschichte spielt in einem Teil der USA, dessen Wälder und Meeresstrände Josie Verstecke bieten und die an Kalifornien denken lassen. Um an etwas Essen und Geld zu kommen, gibt sich die kleine Frau für ein Kind oder eine Jugendliche aus und wird von besorgten Familienmüttern und jungen Männern zu sich nach Hause eingeladen. Das Wunderland aus dem Titel lässt die Geschichte, in der die obdachlose Josie in einer Parallelwelt von Ort zu Ort irrt, wie ein groteskes Zerrbild des Kinderklassikers Alice i Underlandet [Alice’s Adventures in Wonderland] von Lewis Carroll erscheinen. Der Titel weckt auch die Assoziation zu den USA als ‚land of dreams‘, wo das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit die Verwirklichung vom ‚American dream‘ ermöglichte. In Nordenhöks Roman ist das alles längst vorbei, was dem ‚Wunder‘ im Titel einen ironischen Klang verleiht. Die anderen Geschichten im Roman spielen zwar alle in Europa, aber die postindustriellen, von globaler Finanzwirtschaft und weltweiten Notlagen geprägten Schauplätze dieser Geschichten unterscheiden sich im Roman nicht nennenswert von den amerikanischen.

In der zweiten längeren Geschichte, „Hyperion Hotel“, entdeckt der Journalist Vega aus Barcelona, dass sein erfolgreicher Kollege Marius seine Reportagen über geflüchtete Kinder in Athen gefälscht hat. Während Marius’ Karriere mit diesem Skandal abrupt endet, verfasst Vega über den Fall Marius einen Bestseller und erntet journalistischen Ruhm. Nach einer Lesung von Vega stellt ein Zuhörer die kritische Frage, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit verlaufe, ob nicht alle Berichte und Erzählungen in irgendeiner Weise Fälschungen seien, da sie sich der Fiktionalisierung bedienten. Vega ist von dieser Frage sehr peinlich berührt, und danach lässt ihn sein homoerotisch angehauchtes Erinnerungsbild von Marius im Hyperion Hotel in Athen kurz nach seiner Entlarvung nicht mehr los. Der Stoff von „Hyperion Hotel“ wie auch von „Underlandet“ basiert auf wahren Begebenheiten. Die Geschichte über die zwei Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus ...spanischen Journalisten, die in ein Katz-und-Maus-Spiel in Athen verstrickt sind, weisen Parallelen zum publizistischen Skandal um den Spiegel-Journalisten Claas Relotius auf. Im Herbst 2018 hatte Relotius’ Kollege Juan Moreno beweisen können, dass Relotius’ preisgekrönte Reportagen in beträchtlichen Teilen gefälscht oder frei erfunden waren. 2019 hat Moreno das Buch Tausend Zeilen Lüge über den Fall veröffentlicht und wurde kurz darauf selbst beschuldigt, Falschdarstellungen darin eingebaut zu haben. Durch „Hyperion Hotel“ rückt die Manipulierbarkeit der Sprache in den Vordergrund des Romans, aber Fragen über Wahrheit und Unwahrheit werden in allen Geschichten verhandelt, ob in der Politik, in der PR, in fiktionalen Texten, in sozialen Medien oder in der zwischenmenschlichen Kommunikation.

Die letzte, ausführlichere Geschichte, „Huset på slätten“, spielt im südschwedischen Schonen, wo eine wohlhabende Ehefrau ein Verbrechen ihres Mannes, nämlich den Besitz von kinderpornographischem Bildmaterial, deckt, um ihr bequemes Leben im luxuriösen Eigenheim nicht aufgeben zu müssen. Gleichzeitig postet sie fleißig Bilder in den sozialen Medien von ihrer teuren Küche, ihren Designermöbeln aus Holz und ihren Zwillingstöchtern, um die sich eine Kinderfrau kümmert. Die Geschichten „Underlandet“ und die Fallbeschreibungen sind linear erzählt, während „Hyperion Hotel“ und „Huset på slätten“ als Rückblicke auf vergangene Begebenheiten aufgebaut sind, was verschiedene Formen der Spannungserzeugung ermöglicht. In den zuerst genannten Fällen erleben die Leser*innen die zum Teil dramatischen Ereignisse direkt mit, während die Hauptfiguren der anderen beiden Geschichten nur schrittweise verraten, was in der Vergangenheit passiert ist.

In den Fallbeschreibungen, d.h. zwischen den Abschnitten der drei Haupterzählungen, werden weitere Formen des Betruges und der Täuschung ausgeleuchtet: Ein Finanzkrimineller wird wegen Veruntreuung von Wohltätigkeitsgeldern in seiner wunderschönen Stockholmer Wohnung verhaftet; ein MMA-Kampfsportler aus Südschweden dopt sich, um seine Kämpfe zu gewinnen; eine Schulleiterin aus Paris wird mit einer verwahrlosten Schülerin in der heruntergekommenen französischen Kleinstadt Béthune konfrontiert, die ständig neue Verletzungen und Krankheiten erfindet; ein rechtsextremer Politiker aus Bayern trifft sich mit einer erfolgreichen PR-Beraterin in Berlin, um sein öffentliches Image salonfähig zu machen; und in der letzten Fallbeschreibung wird schließlich der nackte Körper einer toten, wohlhabenden Frau in Portugal mit vielen Spuren von Schönheitsoperationen im Bett aufgefunden.

Die Fallbeschreibungen widmen sich somit einerseits tatsächlichen oder vermuteten Verbrechen, die an die Auflösung von Kriminalfällen und Polizeiakten denken lassen. Zugleich wird das Genre des psychoanalytischen Fallbeispiels aufgerufen, gerade weil dysfunktionale oder nicht vorhandene Familienbeziehungen in fast jeder Erzählung eine entscheidende Rolle übernehmen. Der ‚Fall‘ kann auch als ein tatsächlicher oder drohender sozialer Abstieg gedeutet werden: Nordenhöks Romanfiguren gehören häufig der Unterschicht an oder haben ein solches Milieu hinter sich gelassen, wie zum Beispiel der MMA-Kampfsportler oder die Ehefrau im luxuriösen Haus in der Ebene, aber sie erinnern sich offensichtlich noch gut daran, wie unwägbar und flüchtig sozialer Status und Erfolg sind, denn ihre Handlungen scheinen beinahe ausnahmslos von Abstiegsangst gesteuert zu sein.

Das schwedische Wort ‚under‘ im Titel des Romans bedeutet nicht nur ‚Wunder‘, sondern auch ‚unter‘ – das Wunderland ist auf Schwedisch gleichzeitig ein ‚Unterland‘. Bei einer psychoanalytischen Deutung des Begriffs assoziieren die Lesenden vermutlich Stichworte wie Verdrängung und Unterbewusstes. Eine Interpretation des Begriffs, die auf die soziale Schichtung abhebt, trifft am besten auf die Titelerzählung „Underlandet“ über die obdachlose Josie zu. Obwohl sie selbst eindeutig der amerikanischen ‚Unterstschicht‘ angehört, wird sie zu einer sozialen Grenzgängerin, indem es ihr weitgehend gelingt, eine unscheinbare oder sogar unsichtbare Beobachterin der Menschen in ihrem Umfeld zu bleiben. Erst wenn Josies vorübergehende Mimikry-Angleichung an ihre Mitmenschen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, muss sie jeweils in die nächste Lebensphase aufbrechen und sich eine neue Wohnumgebung suchen.

Durch Josies bloßstellenden Blick auf das sesshafte Bürgertum, dem die Leser*innen des Romans mit großer Wahrscheinlichkeit selbst angehören, entsteht eine geschickt konstruierte Spiegelung der sozialen Ängste und Selbsttäuschungen der Leserschaft. Diesen Spiegeleffekt scheint die Graphik auf dem Buchumschlag modellhaft zu veranschaulichen. Der Kreis und die Linie in der Mitte des Bildes lassen ganz konkret an eine auf- oder untergehende Sonne und eine Wasserlinie denken. Dabei liegt es auch nahe, eine teilweise überblendete und hin- und herrückende Fokussierung zu assoziieren: Selbst der zentrale Fokus, der sich durch die Schnittmenge der drei Kreise ergibt, ist in eine kleinere obere rote und eine größere untere dunkelblaue Fläche aufgeteilt. In Bezug auf den Romaninhalt wäre eine mögliche Interpretation des Buchumschlags auf symbolischer Ebene, dass subjektive Wahrnehmungen nur anteilig zur Deckung kommen können und dass eine objektive Wahrnehmung per se weder erfasst noch sprachlich vermittelt werden könnte. Die ‚Realität‘ und die Zuschreibungen von Wahrheitswerten bleiben relational.

Auch erzähltechnisch bietet der Roman eine eingeschränkte Sicht auf die jeweiligen figurenspezifischen Ereignisse, indem die Erzählperspektive mittels interner Fokalisierung durch eine bestimmte Figur in jeder Geschichte nach innen gerichtet ist. Dieser Wechsel zwischen den verschiedenen internen Figurenperspektiven verstärkt die kaleidoskopische Erzählweise des Romans. Trotz der internen Fokalisierung bleibt das Innenleben der vielen Figuren in der Gesamtschau vage. Statt eines vertieften, psychologischen Porträts wird jeweils die psychologische Konstellation der Figur in einer Momentaufnahme scharf und kontrastreich durchleuchtet. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Gedankengänge und Beweggründe der Figuren ihnen selbst nicht immer klar sind. Der Literaturkritikerin Martina Montelius zufolge besteht die Intelligenz des Romans darin, dass keine eindimensionalen Erklärungen der Ereignisse geliefert werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie unerklärlich bleiben (Rezension in Göteborgs-Posten).

Der Erzählstil von Underlandet ist differenziert und detailreich, mit einem feinen sprachlichen Register. Durch den thematischen Fokus des Romans auf Betrug und Unwahrheit kommen die Lesenden nicht umhin, die psychologische Glaubwürdigkeit und die atmosphärischen Effekte auch von einer Metaebene aus zu betrachten. Vielleicht führt dies zu einer Skepsis gegenüber möglichen manipulativen Mitteln oder auch zur verstärkten Aufmerksamkeit auf Stilfiguren wie Vergleiche und Personifikationen, die zur Bildhaftigkeit des Erzählten beitragen, sowie auf Wiederholungen von gewissen Inhalten wie zum Beispiel die wiederkehrenden Erinnerungen von Vega an die Bespitzelung und Enttarnung von Marius in Athen. Die Wiederholungen wirken auf den ersten Blick beinahe didaktisch, aber die mehrfache Wiedergabe bestimmter Ereignisse kann durchaus auch als eine Problematisierung der Zeugenschaft und des Nacherzählens gelesen werden. So gesehen stellt Hanna Nordenhök auch durch den Textaufbau den Wahrheitsgehalt von Medieninhalten und die vermeintliche Authentizität von literarischen Texten in Frage.

Underlandet ist ein ambitioniertes Gesellschaftspanorama, in dem globale Entwicklungen wie Klimawandel, Pandemie und Digitalisierung einen gegebenen und nur in Andeutungen sichtbar gemachten Hintergrund zu den verschiedenen Geschichten bilden. Dadurch entsteht eine facettenreiche Momentaufnahme der Gegenwart. Durch die vielen Bezüge auf aktuelle Debatten und Probleme verortet Hanna Nordenhök ihren Roman mitten im Gegenwartsdiskurs, aber ohne deutlich Stellung zu nehmen. Es bleibt unklar, ob Underlandet vorwiegend als ein politisches oder dokumentarisches Projekt aufzufassen ist. Es wäre aber auch möglich, Underlandet als ein vor allem ästhetisches Projekt zu lesen – das heißt, als gelungene Erzählkunst und Sprachkunst, die von Nordenhöks literarisch vielseitigen Tätigkeiten als Schriftstellerin, Übersetzerin, Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin positiv beeinflusst worden sind.

(Hanna Henryson, Stockholms Universitet)

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Die Rückseite der Leinwand. Ida Börjels Omsorgslabyrinten (2023)

Das, was Besucher*innen eines Kunstmuseums (in aller Regel) nicht zu sehen bekommen, schmückt die Vorderseite von Ida Börjels (*1975) Lyrikband Omsorgslabyrinten (2023 – Das Fürsorgelabyrinth): die Rückseite einer Leinwand. Die Buchrückseite zeigt das Gemälde selbst: Gösta Adrian-Nilssons (GAN, 1884-1965) Biljardspelarna von 1923, das hier allerdings mit kleinen roten Zahlen und Strichen versehen ist. Diese Markierungen weisen auf mögliche schadhafte, restaurierungsbedürftige Stellen hin und stammen (laut Impressum) aus einem Zustandsbericht vom 17.06.2021 des Malmö Konstmuseum.

Ein solcher Blick auf Museumsgegenstände sei – so heißt es bei Börjel – ein exklusives Vorrecht, das Expert*innen vorbehalten ist:

Intresset för objektens baksidor          

det är en konservatorsgrej

det är ett privilegium

att få se baksidan

Det är där det händer

[Das Interesse an den Rückseiten von Objekten

ist eine Konservatorensache

ist ein Privileg

die Rückseite sehen zu dürfen

Denn dort passiert es]

Was sich genau auf jenen Rückseiten ereignet und was für die Pflege und Instandhaltung – »Omsorg« (›(Für-)Sorge‹) – von Objekten erforderlich ist, wird im Laufe des Lyrikbandes detailreich geschildert. Die Lesenden werden auf einen Rundgang durch die Sammlungen und Lagerräume des Kunstmuseums Malmö mitgenommen und erhalten aus erster Hand Einblicke, wie jenseits des Ausstellungsbetriebs mit Kunstgegenständen im Museumsalltag verfahren wird, denn die Stimmen in den Gedichten sind die der Konservator*innen.

Der Großteil des Textes folgt einer gesprächsartigen Struktur und liest sich als eine Art Interview in Gedichtform, als in Versform gesetzte mündliche Berichte. Zu Wort kommen nur die Interviewten. Redebeiträge des*der Interviewer*in wurden entfernt, was sich aus den Reaktionen des jeweiligen lyrischen Ichs schließen lässt: So folgen beispielsweise auf einige der in großer Menge vorkommenden Lücken im Schriftbild Aussagen, die mit Antwortpartikeln eingeleitet werden. Leerzeichen und Lücken suggerieren zusätzliche Pausen im Gespräch; Interview-Praxis wird dadurch nachvollziehbar in einen lyrischen Text transformiert. Dass es sich hierbei um Gedichte handelt, ist zumeist nur visuell durch die Anordnung der Texte und zahlreiche Enjambements erkennbar.

Formal besteht Omsorgslabyrinten aus zwölf Kapiteln zuzüglich eines Anhangs. Jedem Kapitel wird eine Überschrift vorangestellt, die einen Hinweis auf die aktuelle räumliche Position liefert (z.B. »Rum 303«, »En korridor«). Jede Kapitelüberschrift steht auf einer eigenen, mit Seitenzahl versehenen Seite; die restlichen Seiten des Buches bleiben unnummeriert. Die einzelnen Abschnitte werden dadurch – wie die unterschiedlichen Räume, in denen sie spielen – voneinander abgegrenzt.

Der Rundgang beginnt in Raum 416. »Du får gå in« (›Du darfst hineingehen‹), teilt das erste lyrische Ich mit, um im Anschluss auf sich dort befindende Utensilien hinzuweisen: Von Ziegenhaarbürsten über Mikrofasertücher bis hin zu Baumwollhandschuhen. Zu einigen Hilfsmitteln folgen Kommentare zur Verwendung sowie spezifische Fachdetails (z.B. zu speziellen Schwämmen, die eine ähnliche Struktur wie Brot haben, das früher zu Reinigungszwecken verwendet wurde, oder zur ablehnenden Haltung des Vatikans bezüglich des Einsatzes von Speichel bei der Säuberung von Kunstwerken). Geschichten aus dem Arbeitsalltag, Hinweise auf die optimale Luftfeuchtigkeit und Temperatur zur Lagerung von Objekten sowie Vorgehensweisen bei Schädlingsbefall stehen im Zentrum der ersten drei Abschnitte (»Rum 416«, »Rum 303«, »Spegelgången« (›Der Spiegelgang‹)). Die Ausführungen des lyrischen Ichs werden ergänzt durch Reflexionen und Gedanken zum Wert von Objekten und zum Umgang mit Kulturgut in Museen. Gerade wenn es um Gebrauchsgegenstände geht, sei es die Aufgabe der Konservator*innen, die Objekte zwar instand zu halten, nicht aber deren Alterungsprozess und die Spuren früherer Generationen zu vertuschen:

Om jag går in

för att se en utställning

på ett museum

och allt är fräscht och helt

kan jag ju lika gärna gå

till Ikea

[Wenn ich hinein gehe

um eine Ausstellung anzusehen

in einem Museum

und alles ist frisch und ganz

kann ich ja genauso gut

zu Ikea]

Im vierten Kapitel geht es (nach circa einem Drittel des Buches) weiter in »Hills grotta« (›Hills Höhle‹) – ein Raum, in dem die Sammlung des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Hill (1849-1911) aufbewahrt wird, die aus über 2600 Zeichnungen und 25 Gemälden besteht.[1] Während die Sammlung nach der Zeichnung eines Löwen durchsucht wird, gibt das lyrische Ich Einblicke in die eigene Arbeit mit Hills Werk und berichtet vom Leben des Künstlers und dessen Leiden an paranoider Schizophrenie. Als das lyrische Ich zum Ende des Kapitels den Raum verlässt (»Strax tillbaka //// inte röra« (›Gleich wieder da ///// nicht anfassen‹), kommt es im nachfolgenden Abschnitt zu einem vollständigen Bruch der prosaartigen Lyrik und des ansonsten zumeist sachlich-gesprächigen Stils:

»Intill Hill« (›Neben Hill‹), der fünfte Abschnitt, wird unvermittelt mit einem kleinen, kreisförmigen, von Hill gezeichneten Schwarzweiß-Bild eingeleitet. Dies wirkt wie ein Blick durch ein Schlüsselloch oder durch ein Fenster in eine völlig andere Realität: Der nachfolgende Text besteht aus kurzen, assoziativen, zum Teil gereimten und experimentelleren Gedichten, die sich auch visuell durch die Verwendung einer größeren Schrift vom Rest des Buches abheben. Wer hier spricht, bleibt unklar – möglicherweise sogar Hill selbst? Denn stilistisch erinnern die Gedichte an Hills eigene lyrische Texte und können als Reminiszenz und Annäherung an Hills Werk interpretiert werden.[2] Börjel reiht sich damit ein in die Riege schwedischer Lyriker*innen, die sich von Hills Bildern und Texten inspirieren ließen, wie beispielsweise Ann Jäderlund, Lars Norén, Jesper Svenbro und Birgitta Trotzig.

Nach diesem Exkurs geht es zurück zu den Konservator*innen – zunächst im Plauderton bei Kaffee und Keksen im Pausenraum (»Fikarummet«), dann über zwei sehr kurze ›Durchgangskapitel‹ (»I hissen« (›Im Aufzug‹), »Genväg« (›Abkürzung‹) hinein in das Herz des Museums (»Själva hjärta«), wo hunderte von Gemälde aufbewahrt werden. Erneut steht die Konservierungs- und Restaurierungsarbeit an Kunstwerken im Vordergrund. Unterbrochen werden die Ausführungen hier jedoch wiederholt durch nummerierte Anmerkungen eines Zustandsberichts mit Hinweisen auf schadhafte Stellen an Gemälden. Nach Durchqueren eines Korridors (»Vi bara fortsätter« (›Wir gehen einfach weiter‹) führt der Weg in eine Sammlung verschiedener Textilien (»Textilier«). Ein nicht näher bestimmtes Stoffstück wird schließlich untersucht, kommentiert und an seinen Lagerplatz zurückgebracht. Und auch die Lesenden werden mit den letzten Versen des zwölften Abschnitts (»Aria«) vom lyrischen Ich an den Anfang zurückgebracht und aus dem Museumslabyrinth hinausgeführt: »Jag kan följa / dig ut« (›Ich kann dich / hinausbegleiten‹).

Der Anhang »Appendix: Tillståndsrapporter« (›Anhang: Zustandsbeschreibungen‹) rundet den Lyrikband schließlich mit dreizehn kürzeren, sachlichen Zustandsbeschreibungen einzelner Ausstellungsstücke ab. Erwähnt wird allerdings nicht, welche Objekte hier untersucht werden. So wird erneut die konkrete Arbeit der Konservierung und Restaurierung in den Fokus gerückt und gewissermaßen als eigenständige, wenngleich verborgene ›Kunstform‹ präsentiert. Das titelgebende Kompositum Omsorgslabyrinten symbolisiert zum einen den konkreten Weg durch die Lagerhallen und Sammlungen des Museums. Zum anderen lassen sich die Wege des Labyrinths aber auch abstrakter auf metaphorischer Ebene verstehen: Welche Wege werden bei der Konservierung und Restaurierung gegangen? Wie wird etwas konserviert und – vielleicht noch wichtiger – was wird eigentlich bewahrt? Welchen Wert haben Objekte und wie und warum kann sich dieser im Laufe der Zeit verändern? Wie wird mit kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit umgegangen? – Fragen, die nicht zuletzt auch eine kulturpolitische Dimension berühren. Komplexität und Unüberschaubarkeit kennzeichnen den Sachverhalt, was in den Aussagen der Konservator*innen immer wieder zum Ausdruck kommt. Als Ziel der Arbeit wird wiederholt das Bewahren, Weitergeben und Erklären der Vergangenheit hervorgehoben, denn: »Museet är till för kommande / generationer« (›Das Museum ist für kommende / Generationen‹) und somit immer auch ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt.

Ida Börjel (*1975) debütierte 2004 (Sond) und zählt spätestens seit Veröffentlichung ihres Lyrikbandes Ma (2014; u.a. nominiert für Augustpriset) zu einer der meistausgezeichneten schwedischen Lyrikerinnen der Gegenwart. 2022 erschien Ringa hem. Dokumentärdikt (Zu Hause anrufen. Dokumentargedicht), das auf realen, abgehörten, transkribierten und übersetzten Telefongesprächen russischer Soldaten von der ukrainischen Front nach Hause basiert. Stilistisch verwandt – wenngleich mit deutlich anderer Thematik – ist ebenfalls Börjels Skåneradio (2006), das Anrufe und Gespräche im Radio als Ausgangspunkt nimmt. Und auch für Omsorgslabyrinten wählt Börjel gesprochene Sprache als Textgrundlage und verfolgt ein dokumentarisch-journalistisches Projekt: Die Autorin selbst unternahm eine Studienreise an das Kunstmuseum in Malmö und sprach dort mit den Museumsmitarbeiter*innen. Gut möglich also, dass auch dieses Werk vornehmlich auf tatsächlich stattgefunden Gesprächen zwischen Börjel und Konservator*innen beruht. Davon zeugt unter anderem eine auf eine längere Lücke im Text folgende Äußerung eines lyrischen Ichs: »Sa du essädikt« (›Sagtest Du Essay-Gedicht‹) – ein direkter Kommentar zu Börjels Schreibvorhaben. Denn Omsorgslabyrinten ist mehr als nur eine Zusammenstellung verschiedener Redebeiträge. Durch das Einflechten von Zustandsberichten und lyrischen Experimenten wird die Arbeit des Konservierens und Restaurierens in den Vordergrund gerückt und sich dem Thema in sprachlich knapper Form von verschiedenen Seiten angenähert.

Gerade in den letzten Jahren lässt sich in Skandinavien ein Anstieg lyrischer Texte beobachten, die ein ausgewähltes Thema mit nahezu journalistischem Anspruch behandeln und einen unmittelbaren Realitätsbezug aufweisen – oftmals durch Einbezug von Äußerungen realer Personen (man denke zum Beispiel auch an Marit Kaplas lyrische Interviewtranskriptionen Osebol (2019) und Kärlek på svenska (2022 – Liebe auf Schwedisch)). Seit Espen Stueland seinem Werk Eilert Sundt-tilstanden (2019 – Eilert Sundt-Zustand) den Untertitel »sakpoesi« (›Sachlyrik‹) gegeben hat, wird diese Genrebezeichnung für solche dokumentarische Tendenzen aufweisende Lyrik auch in Forschungsarbeiten diskutiert (z.B. in Tidskrift Sakprosa von 2023, die eine Ausgabe ganz dem Begriff gewidmet hat). Sollte sich die Bezeichnung für eine Art der Lyrik, die sich auf der Schwelle zwischen Poesie und Sachliteratur befindet, durchsetzen, ist Omsorgslabyrinten definitiv ein besonders anregendes Beispiel für diese neue Gattung.

Ob es sich bei Omsorgslabyrinten tatsächlich um transkribierte, leicht redigierte und in Versform gesetzte O-Töne handelt oder aber ob dies nur suggeriert wird, kann aus Börjels Text nicht erschlossen werden. Anders als bei Ringa hem beispielsweise fehlt ein entsprechendes Vorwort/Nachwort und/oder Quellennachweise. Und so lässt sich ein Kommentar eines lyrischen Ichs zu einer entdeckten Kopie eines Gemäldes möglicherweise auch als (Meta-)Kommentar zu dieser Gedichtsammlung und generell als Hinweis zum Umgang mit Kunst und Kultur interpretieren:

Det är en otroligt skickligt

gjord kopia     en påminnelse

om att vara ödmjuk

om att det aldrig helt

går att veta vad det är

jag har framför mig

[Das ist eine unglaublich gekonnt

gemachte Kopie     eine Erinnerung

daran bescheiden zu sein

daran dass es nie ganz

möglich ist zu wissen was es ist

was ich vor mir habe]

Börjel, Ida: Omsorgslabyrinten. Stockholm: Albert Bonniers, 2023.

(Sina Lynn Sachse, Universität zu Köln)


[1] Hill hinterließ ein Manuskript mit zahlreichen Gedichten, das als Faksimile auf den Seiten der Litteraturbanken zu lesen ist. Vgl. Hill, Carl Fredrik: Dikter och författarskap på några språk. Nagug. 1885. https://litteraturbanken.se/författare/HillCF/titlar/DikterNagugHS/sida/1/faksimil


[2] Malmö Konstmuseum: Carl Fredrik Hill. 10.03.2025. https://malmo.se/Uppleva-och-gora/Konst-och-museer/Malmo-Konstmuseum/Konstsamlingen/Vara-samlingar/Carl-Fredrik-Hill.html [19.03.2025].

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Auf der Hut sein. Lene Asks Heldengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg

Bombus pyrrhopygus, bombus hyperboreus, bombus subterraneus, bombus muscorum, bombus quadricolor, bombus distinguendus.

Das sind die lateinischen Namen von sechs der 35 Hummelarten, die es in Norwegen gibt. In Lene Asks biographisch-dokumentarischem Comic Astrid Løken. Å slåss med varsomme hender (2024, Astrid Løken. Wie man sich mit behutsamen Händen prügelt) spielen sie eine kleine, aber wichtige Rolle. Denn Astrid Løken (1911-2008) war eine norwegische Entomologin, also eine Insektenkundlerin, die in verschiedenen naturwissenschaftlichen Institutionen vor allem zu Hummeln und insbesondere zu Hummeln in Norwegen geforscht hat. Als Konservatorin baute sie die entomologischen Sammlungen der Universität in Bergen auf und systematisierte auch die Archive in Oslo und Stavanger. Früh warnte sie vor den Folgen von Industrialisierung, Gewässerregulierung und Pestizideinsatz, die die Verbreitung der Hummeln bedrohen, und wies auf deren nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Bestäubung und die Artenvielfalt der norwegischen Flora hin. Auf ihren jährlichen Feldeinsätzen in den Sommern 1939 bis 1986 fing sie über 25.000 Hummeln und kartographierte ihre Verbreitung; ihre Feldtagebücher sind für die Forschung nach wie vor eine wichtige Quelle.

Hardanger. Måbøtal
Unsystematische Beobachtungen entlang der Straße vom Oberen Eidfjord. 28.7.42 Ca. 3 km von Sæbø wurden immer wieder B. pratorum und lapponicus gesichtet, alle auf Knautia arvenis. (…) Am Hof Tveito wurden lucorum beob. Beob. soroeensis auf Trifolium repens.  

Diese Feldarbeit war unter der deutschen Besatzung im Sommer 1943 bedroht: In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar hatten alliierte Agenten einen Sabotageanschlag auf das Wasserkraftwerk Vemork bei Rjukan (Telemark) durchgeführt und die dortige Anlage zur Herstellung von schwerem Wasser gesprengt, das die Nazis zur Entwicklung einer Atombombe nutzen wollten. In der Folge hatte die deutsche Besatzung den Besuch der Hardangervidda für Zivilisten gesperrt und also auch für Astrid Løken, die die Hummelpopulation der Hardangervidda verzeichnen wollte. Doch glücklicherweise erhielt die junge Wissenschaftlerin eine Sondererlaubnis direkt aus der Hand des Nazi-Reichskommissars Josef Terboven.

So hätte Løken wohl ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Okkupation in kurzen Strichen zusammengefasst – bis 1988. Denn dann änderte sich alles.

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Erst 1988 nämlich wurden die Mitglieder von XU von ihrem Schweigegelübde entbunden, das sie dem Oberkommando der Norwegischen Verteidigung gegenüber abgelegt hatten. XU war der wichtigste geheime Nachrichtendienst der Alliierten im besetzten Norwegen. Am Ende des Krieges hatte die Organisation ein Netz von 1500 Personen aufgebaut, die im ganzen Land Informationen über die deutschen Streitkräfte, sowie Karten und Fotos von fast allen ihren Befestigungen sammelten, dieses Material (täglich bis zu 500 A4-Seiten) über ein ausgeklügeltes Kuriersystem nach Schweden schmuggelten und von dort an das Oberkommando des norwegischen Heers in London und den britischen MI II weiterleiteten. Astrid Løken gehörte zu den ersten, die 1941 Kurierdienste für XU ausführten, und war bald Teil der Leitung. Als sie sich im Sommer 1943 auf der Hardangervidda aufhielt, galt ihr Sammeln, Kartographieren und Auswerten nur vordergründig der Hummelpopulation, vor allem aber den Wegen und Pfaden, den Brücken und Tunneln, kurz dem Terrain und allem anderen, das für mögliche Operationen der Alliierten von Bedeutung sein könnte.

In Løkens Leben überlagerten sich also zwei Wirklichkeiten, von der – bis1988 – nur wenige wussten: das öffentliche Leben als Entomologin und das geheime Leben als Widerstandskämpferin. Eine solche Verschränkung schreit danach, in einer Kunstform wie dem Comic erzählt zu werden, in dem sich per Definition zwei Medien – Wort und Bild – miteinander verschränken.

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Lene Ask (*1974) gehört zu den profiliertesten Comicschaffenden in Norwegen. Sie debütierte mit dem autobiographischen Comic Hitler, Jesus og farfar (2006, Hitler, Jesus und Großvater). Darin erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend im norwegischen bible belt und von ihrer Suche nach ihrem deutschen Großvater, der als Soldat im besetzten Norwegen stationiert war und nach der Niederlage von Nazideutschland aus dem Leben seines Sohnes und dessen Mutter verschwunden ist. Mit der Kombination dieser beiden Themen traf sie offensichtlich einen Nerv, denn der Comic wurde 2011 für das Leseförderprojekt Hele Rogaland leser (Ganz Rogaland liest) ausgewählt. Für das Projekt wurden 50.000 Exemplare des Comics gedruckt und kostenlos verteilt. Damit wurde Lene Asks Debut zum norwegischen Comic mit der größten Auflage überhaupt.

Ausgezeichnet wurde sie auch mit dem Preis Årets Tegneserie (Comic des Jahres) und zwar 2021 für ihren dokumentarischen Comic O bli hos meg (Oh, bleib bei mir). Der Preis wird seit 2016 jährlich auf dem Comicfestival Oslo Comic Expo verliehen und ist auf 30.000 Kronen dotiert. O bli hos meg zitiert die norwegische Fassung von Henry Francis Lytes bekanntem Kirchenlied Abide with me (1847), ein wirklich passender Titel, weil der Comic gleichzeitig auf eine religiöse Sehnsucht anspielt, aber im Kontext, den der Comic erzählt, auch noch ganz anders verstanden werden kann. Das Buch baut nämlich auf Interviews mit Personen auf, die als Kinder in Missionsinternaten untergebracht waren, weil ihre Eltern im Einsatz in Asien oder Afrika arbeiteten. Asks Buch erzählt viele ergreifende Geschichten, aber der Preis des Osloer Festivals sollte wohl rückwirkend Asks Meisterwerk Kjære Rikard (2014, Lieber Richard) auszeichnen. Der Comic zitiert historische Briefe vom Ende des 19. Jahrhunderts, die sich der achtjährige Rikard Jakobson mit seinem Vater schrieb und die heute im Missionsarchiv in Stavanger liegen, und bebildert diese herzzerreißenden Dokumente kindlicher und elterlicher Sehnsucht.

Mit diesen beiden Comics knüpft Ask an das religionssoziologische Thema ihres Debuts an; mit ihrem neusten Buch über die Widerstandskämpferin Astrid Løken kommt sie zu dessen zweitem Thema zurück: Der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg.

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Damit ist sie nicht die einzige. Besonders erfolgreich ist die mittlerweile fünfbändige Sabotør-Serie von John S. Jamtli, in der die bekanntesten Widerstandsaktionen gegen die deutsche Besatzung im Medium des Comics erzählt werden (2018 En røverhistorie fra krigsårene/Eine Räubergeschichte aus den Kriegsjahren, 2019 Operasjon Muskedunder/Operation Donnerbüchse, 2021 I skyggen av Tirpitz/Im Schatten der Tirpitz, 2023 Tungtvannsaksjonen/Die Schwerwasseraktion und 2024 Grenselos/Grenzlotse), ein Rezept, dem sich Andreas K. Iversen mit Max Manus (2024) anschließt. Und nun also ein dokumentarischer Comic über Astrid Løken. Doch anders als die Comics von Jamtli und Iversen, die ihre visuellen Höhepunkte in Sprengungen und Explosionen, in Verfolgungsjagden und Schusswechseln finden, gibt es davon nichts bei Lene Ask. Ihre Heldin kämpft eben mit „behutsamen Händen“ („med varsomme hender“) und hat dann Erfolg, wenn ihre Arbeit im Verborgenen bleibt. Ihre Heldentaten bestehen aus dem Sammeln und Ordnen von Informationen, und darin die Nächte an der Schreibmaschine zu sitzen und als Kurier von hier nach dort zu radeln. Doch es ist nicht nur der Art des Materials geschuldet, dass Ask ganz anders erzählt, als man es von einem Comic erwarten würde; vielmehr verweigert sie sich bewusst der Gattung der Heldengeschichte. Das wird besonders dort ersichtlich, wo sich Spannungsbögen und visuelle Muster der üblichen Kriegserzählungen angeboten hätten. Etwa dort, wo die Gestapo Arvid Storsveen, einem hochrangigen XU-Agenten, in einer Wohnung auflauert und ihn erschießt, zeigt Ask keine Schießerei in der Wohnung, keine Flucht durch das Treppenhaus, keine Leiche in einer Blutlache, sondern nur das hier:

Die Gestapo wartet in der Wohnung in der Vidarsgate. Sie schießen und treffen. Arvid schafft es die Treppe hinunter und auf den Innenhof hinaus, bevor er zusammensackt. Er blutet an der Brust. Die Gestapoagenten tragen ihn hinauf in die Wohnung, wo er stirbt, 27 Jahre alt. Sie finden zwei verschiedene Ausweispapier unter seinen Sachen. Keines trägt den richtigen Namen, und die Gestapo findet nie heraus, wer er war.

Lene Ask verzichtet nicht nur auf zu Klischees geronnene Pathosformeln der nationalen Heldengeschichten, die zum Kernbestand norwegischer Identität gehören; sie kommt auch ohne die konkreten Fotos aus, die sich ins kollektiven Gedächtnis eingeschrieben haben, und die andere Comics mit Vorliebe zitieren, weil sie damit Authentizität zu produzieren meinen. Ikonisch sind beispielsweise der militärische Zug, mit dem die deutschen Besatzer 1940 auf der Osloer Prachtstraße Karl Johan paradieren, oder die Rückkehr des norwegischen Königs aus dem Exil 1944. Lene Ask weiß, dass sie diese mit Mythen des Alltags gesättigten Ansichten nicht zitieren muss und trotzdem damit rechnen kann, dass ihr Publikum sie vor dem inneren Auge aktivieren wird. So gehören auch die Bilder vom Kriegsende am 8. Mai 1945 mit der jubelnden Menschenmenge auf Karl Johan derart zum norwegischen Inventar, dass Lene Ask sie sogar dadurch aufrufen kann, dass sie sie umgeht:

Am 8. Mai 1945 ist wunderbares Wetter in Oslo.  Im Laufe des Tages werden Temperaturen bis zu 14 Grad gemessen.
Die Apfelblüte ist in vollem Gang, mehrere Hummelköniginnen haben schon ihre ersten Eier gelegt.  Es wird eine Zeit lang dauern, bis Astrid versteht, dass der Krieg zu Ende ist. Sie ist äußerst verwirrt.

Astrid Løken war von ihrem Einsatz im Widerstand derart ausgezehrt, dass sie am Ende des Kriegs ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der Kontrast, in der die (nicht gezeigte) jubelnde Menge zur kranken Frau steht, deren Blick nur bis zum Fensterrahmen ihres Krankenlagers reicht, entzieht dem Klischee seine Selbstverständlichkeit. Ein klassischer Verfremdungseffekt, der meisterhaft mit den Mitteln des Comics eingesetzt wird, ermöglicht eine alternative Erzählung vom Kriegsheldentum.

Und noch eine zweite Strategie im Umgang mit Bildern fällt auf, eine Strategie, die nur dem Comic möglich ist. Dass in Asks Erzählung Krieg und Hummeln kombiniert werden, ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie wichtige Elemente in Løkens Leben sind; sie sind nicht nur Material, das erzählt wird. Ihre Kombination wird auch an vielen Stellen als narrative Strategie eingesetzt, die die Schizophrenie eines geheimen Doppellebens durch die Dissoziierung von Bild und Schrift formal umsetzt. So werden von Seite 9 bis 17 die Bilder dem Krieg und die Texte der Hummelforschung zugeordnet, ohne dass Bild und Text miteinander vermittelt werden; auf den Seiten 60, 63 und 68 kehrt sich dieses Verhältnis um. In diesem Beispiel ist von der Hummelkönigin die Rede, die im Frühling ihr Nest anlegt:

Große Temperaturschwankungen im Frühling können dazu führen, dass sie [die Hummelkönigin] nicht genug Nahrung findet.  Sie kann von Vögeln oder Raubtieren gefressen werden oder im Verkehr umkommen.
Die meisten Hummeln in Norwegen sind soziale Hummeln, die ihr eigenes Volk gründen.  Aber einige wenige Hummelarten sind soziale Parasiten.
Sie werden oft Schmarotzerhummeln genannt.Es sind ‚Kuckucke‘, sie legen ihre Eier in die Nester der sozialen Hummeln und lassen deren Arbeiter ihren Nachwuchs aufziehen.  

Das Beispiel zeigt, dass das Verhältnis von Bild und Text nicht illustrierend und schon gar nicht allegorisch ist: Meint man, man müsste auf den ersten beiden panels die Hummelkönigin mit der in eine Strickjacke gekleideten Astrid Løken gleichsetzen und die vielen Gefahren, denen die Hummel ausgesetzt ist, mit den deutschen Soldaten, so geht diese Rechnung schon in den nächsten panels nicht auf. Denn dort müsste eine allegorische Lesart auch die Nazis zu Hummeln erklären, zu Kuckuckshummeln nämlich, die die sozialen Hummeln, sprich: die Norweger, ausbeuten.

Diese Trennung von Bild und Wort in einem Medium, das seine Wirkung eigentlich aus deren Verschmelzung bezieht, hat Effekte, die denen eines barocken Emblems gleichen. Sind dessen drei Teile – inscripio, pictura und subscriptio – semantisch nur locker miteinander verknüpft, damit die Kreativität des lesenden Auges freigesetzt wird und der Wechsel zwischen Bild und Text immer neue Entdeckungen hervortreibt, so produziert auch in Asks Comic die Kombination von Okkupation im Bild und Hummelforschung im Text Assoziationen; doch anders als im Emblem sorgt das schiefe Verhältnis der beiden Elemente dafür, dass die gerade produzierte Analogie gleich wieder verworfen wird, um neue zu erproben. Diese Uneindeutigkeiten widerstehen jeder glatt zu lesenden Geschichte, durch die sich der Mainstreamcomic sonst auszeichnet.

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Das letzte Viertel des Buches widmet sich Løkens Leben nach dem Krieg, reiht die Stationen ihrer wissenschaftlichen Karriere aneinander und geht auf die bis heute anhaltende Wirkung ihrer Forschung ein. Ihr Leben als Widerstandskämpferin für Norwegen scheint beendet und ganz aus der Erzählung verschwunden – so sollte man meinen. Doch angestiftet durch die paradox assoziierenden Dissoziationen ergibt sich noch eine andere Lesart:

Bombus pyrrhopygus, bombus hyperboreus, bombus subterraneus, bombus muscorum, bombus quadricolor, bomus distinguendus. Diese sechs Hummelarten zeigt Lene Ask erst ganz am Ende des Buchs. „In Norge har vi i dag 35 humlearter. I følge ‚Norsk rødliste for arter‘ fra 2021 har seks av disse humleartene en risiko for å dø ut i Norge.“ (In Norwegen haben wir heute 35 Hummelarten. Der Norwegischen Roten Liste von 2021 zufolge besteht für sechs dieser Hummelarten das Risiko, in Norwegen auszusterben.) Sie sind entweder „nær truet“/potenziell bedroht, „sårbar“, also gefährdet, oder sogar „sterkt truet“/stark bedroht. Und Ask spricht den Status für jede Bienenart einzeln aus (S. 162-3): Truet, truet, truet, truet, sårbar, sterkt truet! Wieder ist Norwegen bedroht (norw.: truet) – doch diesmal nicht durch eine Macht von außen, sondern durch den Umgang mit den eigenen natürlichen Ressourcen. Auch jetzt braucht es „varsomme hender“ (behutsame Hände), die sich für Norwegen prügeln.

Lene Ask: Astrid Løken. Å slåss med varsomme hender, Oslo: No Comprendo Press, 2024.

(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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