(Ein Beitrag von Ingvild Folkvord und Anne Gjelsvik)
„Terror […]. Schließlich kam er auch hierher“, liest man auf der ersten Seite von Jan Kjærstads neuem Roman Berge. Wie so vieles andere findet die Formulierung ihren Resonanzraum in einem historischen Ereignis. Schnell bekommt man den Eindruck, dass sich der Roman in das einschreibt, was man in Norwegen „22.-juli-litteraturen“ (die Literatur zum 22. Juli) nennt. Es dreht sich bei dieser Literatur um literarische Versuche, den Terrorangriffen, die das Land 2011 erleben musste, eine Form zu geben, die Sprache dazu zu bringen, ein Ereignis zu fassen, das zunächst nicht fassbar erschien. Am 22. Juli 2011 detonierte die Bombe des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik im Regierungsviertel in Oslos Zentrum. Hier tötete er acht Menschen und verwundete 200. Danach setzte er seine ideologisch motivierte Terroraktion in einem politischen Jugendlager auf der Insel Utøya vor Oslo fort. Hier tötete er weitere 69 Menschen, die meisten im Alter zwischen 14 und 21 Jahren.
Viele norwegische Rezensionen platzierten Kjærstads Berge innerhalb dieses Rahmens, sie haben ihn als Literatur zum 22. Juli wahrgenommen. Der Roman unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich von seinen Vorgängern desselben ‚Genres’. Vor allem erzählt er seine Geschichte aus einem ganz anderen Antrieb heraus als viele der belletristischen Texte, die die Terrorangriffe als traumatische Erfahrungen thematisieren, wie z. B. Karl Ove Knausgårds Band 6 von Min kamp (2011 – dt. Kämpfen, 2017) oder Brit Bildøens Sju dager i august (2015 – Sieben Tage im August). Während Knausgård und Bildøen mit Einfühlung und Gedenken arbeiten, haben wir es bei Kjærstad mit einem sehr viel spannungsgeladeneren Plot zu tun. Was man als Leser der ersten Seiten für einen Terroranschlag hält, stellt sich als eine ganz andere Gewalttat heraus, deren Täter nie eindeutig überführt werden konnte. Bis hin zum eleganten offenen Schluss erscheint der Roman wie eine virtuos erzählte und gelehrte Kriminalgeschichte.
Die Gewalttat der Fiktion – der Mord an einem norwegischen Politiker und seiner Familie – spielt sich im Sommer 2008, also zeitlich vor der wirklichen Terrortat 2011 ab. Die Formulierungen, mit denen die Reaktionen auf diese Morde beschrieben werden, beziehen sich jedoch direkt auf die Reaktionen, die der tatsächliche Terrorangriff in der norwegischen Öffentlichkeit in der Zeit nach dem 22. Juli 2011 generierte. Man bekommt den Eindruck, dass Berge als Zeitroman gelesen werden will – und als kunstvolle Konstruktion.
In den drei umfangreichen Kapiteln des Romans haben drei deutlich unterschiedliche Figuren das Wort: Eine junge Journalistin, ein älterer Richter und zum Schluss die Titelfigur Nicolai Berge. Diese übergeordnete Erzählstrategie veranlasst den Leser zu einer aktiv vergleichenden Deutungsarbeit: Man muss sich zu den verschiedenen Versionen der Wirklichkeit verhalten und nachvollziehen, wie die Handlungsstränge zu einem größeren Ganzen verwoben werden. Am Anfang steht der Mord an dem bedeutenden norwegischen Politiker Arve Storefjeld und an seiner Familie in einem Wochenendhaus am See Blankvann im Norden von Oslo. Für die Journalistin stellt sich das Ereignis als eine Erzählung dar, die man nur richtig perspektivieren muss, um sie verkaufen zu können. Deshalb sucht sie die Titelfigur Nicolai Berge auf, den Ex-Liebhaber von Storefjelds Tochter, Jungpolitiker, Autor – und was noch mehr? In Ine Wangs Erzählung wandelt er sich von einem Interviewpartner, der ihr möglicherweise zu einem „scoop av dimensjoner“ (S. 56 „echten scoop“) verhelfen kann, zu einem Sexualpartner, dann zu einem Verdächtigen, der die Morde am Blankvann verübt haben könnte, bis er schließlich zum Vater des Kindes wird, mit dem sie schwanger ist.
Dieser Teil des Romans funktioniert am besten. Das Spiel des Textes mit den Reaktionen der norwegischen Öffentlichkeit auf den Terror des 22. Julis bringen einen ins Grübeln. Die Beschreibungen wecken Erinnerungen und fordern die Lesenden heraus, abzuschätzen, welche Erinnerungen, welche Bilder sich bei ihm oder ihr festgesetzt haben. Hier führt Kjærstad Klischees und Sentimentalität aus einem durch die Massenmedien vollzogenen nationalen Trauerprozess vor. Aus der Perspektive der Journalistin Ine Wang wirken die Gedenkkonzerte, Rosenzüge und Trauerreden eher hohl und sie hegt den Verdacht, dass sie nur etwas viel Authentischeres überdecken:
„[T]tankene [flyter] til et av de mange ‘visdomsordene’, skapt av unge mennesker, som har spredt seg etter 23. august og som har blitt omfavnet og sitert i mediene som om de kunne ha stått i Salomos ordspråk: ‘De kom med hat, vi svarte med kjærlighet’. Selvfølgelig det rene nonsens når man tenkte etter. Sannheten er at folk ville flådd disse terroristene hvis de fikk sjansen” (S. 96 – „Die Gedanken fließen zu einem der vielen ’weisen Worte’, die von jungen Menschen geschaffen wurden, sich nach dem 23. August verbreitet haben und von den Medien begrüßt und zitiert wurden, als wenn sie aus den Sprüchen Salomos stammten: ’Denen, die mit Hass kamen, antworteten wir mit Liebe’. Selbstverständlich der reine Nonsens, wenn man darüber nachdachte. Die Wahrheit ist vielmehr, dass die Leute diese Terroristen gelyncht hätten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen hätten”).
Auch wenn der Roman eine andere Gewalttat erzählt, entwickelt sich der Text ganz dicht am frühen kollektiven Bearbeitungsprozess nach den Terrorangriffen 2011 entlang. Auf diese Weise etabliert er eine queere Perspektive auf die selbstgerechten Tendenzen in einer nationalen Identitätsarbeit, die sich darum bemüht ein friedliches „Wir“ im Gegensatz zum gewalttätigen Anderen zu konstruieren. Gleichzeitig arbeitet der Text eine Art Vitalität heraus, eine Energie, die aus dem Erlebnis des Plötzlichen, des Unerwarteten entsteht: „Men nå. Noe skjer. Noe som er annerledes. Søndag morgen våknet et fredfullt land opp til nyheten om …“ (S. 11 – „Aber jetzt. Etwas geschieht. Etwas ist anders. Am Sonntagmorgen erwachte ein friedliches Land und erfuhr die Nachricht, dass …“
Der kursivierte Satz stellt die vereinfachenden Phrasen der Massenmedien aus. Der Roman zitiert auch Lieder, die in den Trauerritualen nach dem 22. Juli wichtig wurden, erzählt von Gedenkveranstaltungen und Rosen, etabliert implizite und explizite Bezüge zu Politikern der norwegischen Arbeiderpartiet und zu ihrer Jugendorganisation AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking, dt.: Arbeiter-Jugendliga). Kjærstad spielt außerdem durchgehend auf der Klaviatur der Erinnerungen, die der informierte Leser an Utøya und das Regierungsgebäude als Tatorte des Terrors hat. In seiner Fiktion sind diese Orte offensichtlich noch unbelastet, wenn etwa Ine Wang im Vestibül des Regierungsgebäudes sitzt und arbeitet oder wenn Nicolai Berge sich an Gespräche erinnert, die er auf Utøya führte. Für den Leser sind die beiden Orte jedoch aufgeladen, sie sind aufdringlich präsent aufgrund der Erinnerungen und Assoziationen, die sie wecken.
In der lesenden Auseinandersetzung mit diesem ausgedehnten Gebrauch des historischen Ereignisses als Material im Spiel der Fiktion wirken besonders zwei Aspekte problematisch. Der eine betrifft die textinterne Logik in Kjærstads Plot: Der Roman gibt sich realistisch und auf dieser Grundlage fragt man sich als Leser, ob die kollektiven Reaktionen, die der Roman durchgehend problematisiert, denn auch plausibel als Antwort auf einen Politikermord sind. Dass die Reaktionen nach dem 22. Juli 2011 so massiv ausfielen, lag daran, dass viele direkt betroffen waren oder sich berührt fühlten vor allem, weil so viele junge Menschen derart brutal ermordet wurden. Genau diese Reaktionen werden in Kjærstads Roman zitiert, paraphrasiert und dekonstruiert, doch eben als Reaktion auf etwas ganz anderes. Der zweite problematische Aspekt besteht in dem Eindruck, dass reale traumatische Erfahrungen als Bausteine in einer Konstruktion verwendet werden, die nichts viel anderes bezweckt als den Aufbau von Spannung. Der Roman scheint fast von seiner eigenen Medienkritik getroffen zu werden, als Text, der aus der Katastrophe Nutzen zieht.
Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Titelfigur und auf die Morde am Blankvann werden im zweiten Teil des Romans weiterentwickelt, in dem der Jurist und Richter Peter Malm spricht. Während die Figur der Journalistin zeitgemäß und glaubwürdig erscheint, wirkt der Richter hingegen anachronistisch sowohl durch seine Gewohnheiten wie durch seine Sprache. Malm „flaniert“ von einer exklusiven Bar in Oslo zu seiner abgelegenen Wohnung, wo er einen Long Island Ice trinkt, während er Civilisation, die Dokumentarserie der BBC aus den 1960er Jahren, auf DVD sieht; er arbeitet an einem Opus Magnum über das ABC der Gerechtigkeit (Rettferdighetens ABC) und beschreibt Frauen als Arabesken. Diese Typenzeichnung schwächt die psychologische Einfühlung, die der Autor im ersten Teil des Romans angelegt hat, und man fragt sich, wie diese Figur einzuordnen ist. Aufgrund der ausführlichen intertextuellen Referenzen, des Spiels mit den Orten der Handlung und nicht zuletzt mit bedeutungstragenden Namen meint man, man wäre zu einem allegorischen Lesen aufgefordert.
Gleichzeitig aber liegt auch dieses zweite der drei Kapitel nahe an der Wirklichkeit. Sowohl der Mediendruck auf das Gerichtsverfahren, das Bemühen darum, einen würdigen Prozess hinzubekommen, sowie die Vorstellung vom Täter als bösem Rätsel spielen auf den öffentlichen Diskurs zur realen Gerichtsverhandlung gegen Breivik im Frühling 2012 an. Während dieser in Saal 250 des Oslo Tinghus (Gericht Oslo) stattfand, hat Kjærstad ‚seine’ Verhandlung gegen Nicolai Berge in Saal 227 gelegt. So spielt die Saalnummer der Fiktion mit dem Datum des Terrorangriffs, dem 22.7.2011, und trägt so zu einer Art doppelter Datierung bei: Die fiktive Handlung liegt zeitlich vor dem historischen Ereignis im Sommer 2008, wohingegen der Text gleichzeitig klarmacht, dass man den Angeklagten Nicolai Berge trotzdem als Nachfolger oder als Parallelfall lesen soll. Man versteht ihn im Lichte der Informationen und Erzählungen über Anders Behring Breivik, die der norwegischen Öffentlichkeit erst durch den Prozess zugänglich wurden. Breiviks Leben wurde gründlich in rechtspsychologischen Gutachten, Dokumentationssendungen und Büchern ausgeleuchtet. Überall standen die Fragen im Zentrum, wie er werden konnte, was er war, was er fühlte und was er dachte. Eine der bestimmenden Darstellungen, die auch die deutschsprachige Öffentlichkeit erreichte, ist Åsne Seierstadts Sachbuch Einer von uns: Die Geschichte eines Massenmörders (2016 – auf Norwegisch 2013).
Im dritten und letzten Teil des Romans spricht Nicolai Berge selbst. Seine Erzählung wird dominiert von einem Rückblick auf seine Kindheit, auf seinen politischen Aktivismus in AUF, aber nicht zuletzt auch auf das Verhältnis zur getöteten Geliebten Gry Storefjeld sowie von der Frage, wie er als Personifikation des Bösen im Gerichtssaal landen konnte: „Det er bare meningsløst. Jeg prøver igjen og igjen å finne en forklaring på hvorfor jeg sitter i rettsal 227 og ikke utenfor, på en benk i Studenterlunden, eller ved skrivebordet hjemme …“ (S. 303 – „Das macht doch keinen Sinn. Ich versuche wieder und wieder eine Erklärung dafür zu finden, warum ich im Gerichtssaal 227 sitze und nicht draußen, auf einer Bank im Park Studenterlunden oder am Schreibtisch zu Hause …“). Auch an dieser Stelle werden Bilder des Terroristen Behring Breivik aktualisiert, besonders wenn Berge als ausdruckslos oder schwer zu lesen beschrieben wird. Während sich die Medienaufmerksamkeit hauptsächlich auf den Angeklagten Breivik als Gegenstand der Deutung konzentrierte, gibt Kjærstad seinem Angeklagten eine Gestalt, eine Stimme und ein inneres Leben. So vermittelt er, wie es ist, von anderen gedeutet zu werden, Gegenstand der Projektionen anderer zu sein, und gleichzeitig selbst ein Bedürfnis zu haben, sich frei durch die Schrift auszudrücken.
Denn Nicolai Berge ist auch Autor, und während Ine Wang schreibt, um sich lebendig zu fühlen und um beachtet zu werden, und Peter Malm, um rechtsphilosophische Probleme darzustellen, hat Berge umfassendere literarische Ambitionen. Er sucht „det punktet i en historie der innholdet vred seg og ble noe annet enn leseren hadde trodd“ („den Punkt in einer Geschichte, an dem sich der Inhalt drehte und zu etwas anderem wurde, als es der Leser geglaubt hatte“), und zielt darauf ab, å „skrive frem alternative årsakssammenhenger, dytte ting ut av sine vante posisjoner, vise at det meningsfulle kunne skjule noe skremmende eller absurd“ (S. 337 – „alternative Ursache-Folge-Zusammenhänge hervorzuschreiben, Dinge aus ihrer gewohnten Position zu schubsen, zu zeigen, dass das Sinnvolle etwas Erschreckendes oder Absurdes in sich bergen könnte“). Er erzählt von seinen Ideen für Bücher und Blogs und ganz wie der Autor Kjærstad hat auch der Autor Berge eine Vorliebe für intertextuelle Anklänge und das Spiel mit Namen. Die belletristischen Referenzen sind zahlreich in diesem dritten Kapitel, aber auch sonst im Roman. Hier finden wir Thomas Bernhard Seite an Seite mit Franz Kafka, wiederholte Bezüge zu Coleridge und zu Charles Dickens’ Bleak House. Diese Verweise könnte man als Versuch des Romans auffassen, etwas über sich selbst als Literatur und über das Potential der Fiktion zu sagen. Solche Lesestrategien setzen jedoch ein Vertrauen voraus, dass der Text auch tatsächlich etwas Wesentliches über sich selbst zu sagen hat.
Multiperspektivisch und zeitweise elegant und spannend thematisiert Kjærstads Roman die Presse, das Recht und die Literatur als unterschiedliche kulturelle Praxisformen. Wie tragen sie dazu bei, traumatische Ereignisse zu prozessieren? – so könnte man fragen. Dazu hat der Roman etwas zu sagen, jedoch weniger, als man es nach der Lektüre des ersten Teils erwarten könnte. Er perspektiviert das Bedürfnis der Massenmedien nach Sensationen und Tragödien, die Arbeit des Rechts an der klaren Trennung von Gesetzeskonformem und Gesetzeswidrigem und die Möglichkeit der Literatur, ein komplexeres Verständnis der Wirklichkeit zu erschaffen. Aber genauso stark wird die Lektüre von einer krimiähnlichen Dynamik vorangetrieben: Wer ist der Täter? Die Fiktion bezieht ihren Stoff aus einem traumatischen Ereignis, das noch immer im Bewusstsein vieler norwegischer Leser und Leserinnen lebendig ist. In dieser Hinsicht trägt der Roman zur Ausbildung neuer Perspektiven bei, aber vor allem dazu, dass man sich fragt, wozu er diesen Stoff denn eigentlich einsetzen will? Kjærstads Roman handelt vielleicht vom 22. Juli, aber er bearbeitet die emotionale und politische Bedeutung, die diese Ereignisse in der norwegischen Öffentlichkeit bekommen haben, nur in sehr geringem Umfang. Stattdessen erscheint das Spiel mit der Wirklichkeit unverbindlich und der Roman trägt nicht eigentlich zu einem tieferen Verständnis der Tragödie bei. Um es anders zu sagen: Jan Kjærstad nimmt Anleihen bei einem nationalen Trauma, ohne jedoch die Zinsen zurückzahlen zu können.
Jan Kjærstads: Berge, Aschehoug: Oslo, 2017.
(Ein Beitrag von Ingvild Folkvord und Anne Gjelsvik,
Übersetzung von Joachim Schiedermair, Greifswald)