Nationale Traumata zum page-turner verarbeitet: Jan Kjærstads Berge (2017)

(Ein Beitrag von Ingvild Folkvord und Anne Gjelsvik)

„Terror […]. Schließlich kam er auch hierher, liest man auf der ersten Seite von Jan Kjærstads neuem Roman Berge. Wie so vieles andere findet die Formulierung ihren Resonanzraum in einem historischen Ereignis. Schnell bekommt man den Eindruck, dass sich der Roman in das einschreibt, was man in Norwegen „22.-juli-litteraturen“ (die Literatur zum 22. Juli) nennt. Es dreht sich bei dieser Literatur um literarische Versuche, den Terrorangriffen, die das Land 2011 erleben musste, eine Form zu geben, die Sprache dazu zu bringen, ein Ereignis zu fassen, das zunächst nicht fassbar erschien. Am 22. Juli 2011 detonierte die Bombe des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik im Regierungsviertel in Oslos Zentrum. Hier tötete er acht Menschen und verwundete 200. Danach setzte er seine ideologisch motivierte Terroraktion in einem politischen Jugendlager auf der Insel Utøya vor Oslo fort. Hier tötete er weitere 69 Menschen, die meisten im Alter zwischen 14 und 21 Jahren.

Viele norwegische Rezensionen platzierten Kjærstads Berge innerhalb dieses Rahmens, sie haben ihn als Literatur zum 22. Juli wahrgenommen. Der Roman unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich von seinen Vorgängern desselben ‚Genres’. Vor allem erzählt er seine Geschichte aus einem ganz anderen Antrieb heraus als viele der belletristischen Texte, die die Terrorangriffe als traumatische Erfahrungen thematisieren, wie z. B. Karl Ove Knausgårds Band 6 von Min kamp (2011 – dt. Kämpfen, 2017) oder Brit Bildøens Sju dager i august (2015 – Sieben Tage im August). Während Knausgård und Bildøen mit Einfühlung und Gedenken arbeiten, haben wir es bei Kjærstad mit einem sehr viel spannungsgeladeneren Plot zu tun. Was man als Leser der ersten Seiten für einen Terroranschlag hält, stellt sich als eine ganz andere Gewalttat heraus, deren Täter nie eindeutig überführt werden konnte. Bis hin zum eleganten offenen Schluss erscheint der Roman wie eine virtuos erzählte und gelehrte Kriminalgeschichte.

Die Gewalttat der Fiktion – der Mord an einem norwegischen Politiker und seiner Familie – spielt sich im Sommer 2008, also zeitlich vor der wirklichen Terrortat 2011 ab. Die Formulierungen, mit denen die Reaktionen auf diese Morde beschrieben werden, beziehen sich jedoch direkt auf die Reaktionen, die der tatsächliche Terrorangriff in der norwegischen Öffentlichkeit in der Zeit nach dem 22. Juli 2011 generierte. Man bekommt den Eindruck, dass Berge als Zeitroman gelesen werden will – und als kunstvolle Konstruktion.

In den drei umfangreichen Kapiteln des Romans haben drei deutlich unterschiedliche Figuren das Wort: Eine junge Journalistin, ein älterer Richter und zum Schluss die Titelfigur Nicolai Berge. Diese übergeordnete Erzählstrategie veranlasst den Leser zu einer aktiv vergleichenden Deutungsarbeit: Man muss sich zu den verschiedenen Versionen der Wirklichkeit verhalten und nachvollziehen, wie die Handlungsstränge zu einem größeren Ganzen verwoben werden. Am Anfang steht der Mord an dem bedeutenden norwegischen Politiker Arve Storefjeld und an seiner Familie in einem Wochenendhaus am See Blankvann im Norden von Oslo. Für die Journalistin stellt sich das Ereignis als eine Erzählung dar, die man nur richtig perspektivieren muss, um sie verkaufen zu können. Deshalb sucht sie die Titelfigur Nicolai Berge auf, den Ex-Liebhaber von Storefjelds Tochter, Jungpolitiker, Autor – und was noch mehr? In Ine Wangs Erzählung wandelt er sich von einem Interviewpartner, der ihr möglicherweise zu einem „scoop av dimensjoner“ (S. 56 „echten scoop“) verhelfen kann, zu einem Sexualpartner, dann zu einem Verdächtigen, der die Morde am Blankvann verübt haben könnte, bis er schließlich zum Vater des Kindes wird, mit dem sie schwanger ist.

Dieser Teil des Romans funktioniert am besten. Das Spiel des Textes mit den Reaktionen der norwegischen Öffentlichkeit auf den Terror des 22. Julis bringen einen ins Grübeln. Die Beschreibungen wecken Erinnerungen und fordern die Lesenden heraus, abzuschätzen, welche Erinnerungen, welche Bilder sich bei ihm oder ihr festgesetzt haben. Hier führt Kjærstad Klischees und Sentimentalität aus einem durch die Massenmedien vollzogenen nationalen Trauerprozess vor. Aus der Perspektive der Journalistin Ine Wang wirken die Gedenkkonzerte, Rosenzüge und Trauerreden eher hohl und sie hegt den Verdacht, dass sie nur etwas viel Authentischeres überdecken:

„[T]tankene [flyter] til et av de mange ‘visdomsordene’, skapt av unge mennesker, som har spredt seg etter 23. august og som har blitt omfavnet og sitert i mediene som om de kunne ha stått i Salomos ordspråk: ‘De kom med hat, vi svarte med kjærlighet’. Selvfølgelig det rene nonsens når man tenkte etter. Sannheten er at folk ville flådd disse terroristene hvis de fikk sjansen” (S. 96 – „Die Gedanken fließen zu einem der vielen ’weisen Worte’, die von jungen Menschen geschaffen wurden, sich nach dem 23. August verbreitet haben und von den Medien begrüßt und zitiert wurden, als wenn sie aus den Sprüchen Salomos stammten: ’Denen, die mit Hass kamen, antworteten wir mit Liebe’. Selbstverständlich der reine Nonsens, wenn man darüber nachdachte. Die Wahrheit ist vielmehr, dass die Leute diese Terroristen gelyncht hätten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen hätten”).

Auch wenn der Roman eine andere Gewalttat erzählt, entwickelt sich der Text ganz dicht am frühen kollektiven Bearbeitungsprozess nach den Terrorangriffen 2011 entlang. Auf diese Weise etabliert er eine queere Perspektive auf die selbstgerechten Tendenzen in einer nationalen Identitätsarbeit, die sich darum bemüht ein friedliches „Wir“ im Gegensatz zum gewalttätigen Anderen zu konstruieren. Gleichzeitig arbeitet der Text eine Art Vitalität heraus, eine Energie, die aus dem Erlebnis des Plötzlichen, des Unerwarteten entsteht: „Men nå. Noe skjer. Noe som er annerledes. Søndag morgen våknet et fredfullt land opp til nyheten om …“ (S. 11 – „Aber jetzt. Etwas geschieht. Etwas ist anders. Am Sonntagmorgen erwachte ein friedliches Land und erfuhr die Nachricht, dass …“

Der kursivierte Satz stellt die vereinfachenden Phrasen der Massenmedien aus. Der Roman zitiert auch Lieder, die in den Trauerritualen nach dem 22. Juli wichtig wurden, erzählt von Gedenkveranstaltungen und Rosen, etabliert implizite und explizite Bezüge zu Politikern der norwegischen Arbeiderpartiet und zu ihrer Jugendorganisation AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking, dt.: Arbeiter-Jugendliga). Kjærstad spielt außerdem durchgehend auf der Klaviatur der Erinnerungen, die der informierte Leser an Utøya und das Regierungsgebäude als Tatorte des Terrors hat. In seiner Fiktion sind diese Orte offensichtlich noch unbelastet, wenn etwa Ine Wang im Vestibül des Regierungsgebäudes sitzt und arbeitet oder wenn Nicolai Berge sich an Gespräche erinnert, die er auf Utøya führte. Für den Leser sind die beiden Orte jedoch aufgeladen, sie sind aufdringlich präsent aufgrund der Erinnerungen und Assoziationen, die sie wecken.

In der lesenden Auseinandersetzung mit diesem ausgedehnten Gebrauch des historischen Ereignisses als Material im Spiel der Fiktion wirken besonders zwei Aspekte problematisch. Der eine betrifft die textinterne Logik in Kjærstads Plot: Der Roman gibt sich realistisch und auf dieser Grundlage fragt man sich als Leser, ob die kollektiven Reaktionen, die der Roman durchgehend problematisiert, denn auch plausibel als Antwort auf einen Politikermord sind. Dass die Reaktionen nach dem 22. Juli 2011 so massiv ausfielen, lag daran, dass viele direkt betroffen waren oder sich berührt fühlten vor allem, weil so viele junge Menschen derart brutal ermordet wurden. Genau diese Reaktionen werden in Kjærstads Roman zitiert, paraphrasiert und dekonstruiert, doch eben als Reaktion auf etwas ganz anderes. Der zweite problematische Aspekt besteht in dem Eindruck, dass reale traumatische Erfahrungen als Bausteine in einer Konstruktion verwendet werden, die nichts viel anderes bezweckt als den Aufbau von Spannung. Der Roman scheint fast von seiner eigenen Medienkritik getroffen zu werden, als Text, der aus der Katastrophe Nutzen zieht.

Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Titelfigur und auf die Morde am Blankvann werden im zweiten Teil des Romans weiterentwickelt, in dem der Jurist und Richter Peter Malm spricht. Während die Figur der Journalistin zeitgemäß und glaubwürdig erscheint, wirkt der Richter hingegen anachronistisch sowohl durch seine Gewohnheiten wie durch seine Sprache. Malm „flaniert“ von einer exklusiven Bar in Oslo zu seiner abgelegenen Wohnung, wo er einen Long Island Ice trinkt, während er Civilisation, die Dokumentarserie der BBC aus den 1960er Jahren, auf DVD sieht; er arbeitet an einem Opus Magnum über das ABC der Gerechtigkeit (Rettferdighetens ABC) und beschreibt Frauen als Arabesken. Diese Typenzeichnung schwächt die psychologische Einfühlung, die der Autor im ersten Teil des Romans angelegt hat, und man fragt sich, wie diese Figur einzuordnen ist. Aufgrund der ausführlichen intertextuellen Referenzen, des Spiels mit den Orten der Handlung und nicht zuletzt mit bedeutungstragenden Namen meint man, man wäre zu einem allegorischen Lesen aufgefordert.

Gleichzeitig aber liegt auch dieses zweite der drei Kapitel nahe an der Wirklichkeit. Sowohl der Mediendruck auf das Gerichtsverfahren, das Bemühen darum, einen würdigen Prozess hinzubekommen, sowie die Vorstellung vom Täter als bösem Rätsel spielen auf den öffentlichen Diskurs zur realen Gerichtsverhandlung gegen Breivik im Frühling 2012 an. Während dieser in Saal 250 des Oslo Tinghus (Gericht Oslo) stattfand, hat Kjærstad ‚seine’ Verhandlung gegen Nicolai Berge in Saal 227 gelegt. So spielt die Saalnummer der Fiktion mit dem Datum des Terrorangriffs, dem 22.7.2011, und trägt so zu einer Art doppelter Datierung bei: Die fiktive Handlung liegt zeitlich vor dem historischen Ereignis im Sommer 2008, wohingegen der Text gleichzeitig klarmacht, dass man den Angeklagten Nicolai Berge trotzdem als Nachfolger oder als Parallelfall lesen soll. Man versteht ihn im Lichte der Informationen und Erzählungen über Anders Behring Breivik, die der norwegischen Öffentlichkeit erst durch den Prozess zugänglich wurden. Breiviks Leben wurde gründlich in rechtspsychologischen Gutachten, Dokumentationssendungen und Büchern ausgeleuchtet. Überall standen die Fragen im Zentrum, wie er werden konnte, was er war, was er fühlte und was er dachte. Eine der bestimmenden Darstellungen, die auch die deutschsprachige Öffentlichkeit erreichte, ist Åsne Seierstadts Sachbuch Einer von uns: Die Geschichte eines Massenmörders (2016 – auf Norwegisch 2013).

Im dritten und letzten Teil des Romans spricht Nicolai Berge selbst. Seine Erzählung wird dominiert von einem Rückblick auf seine Kindheit, auf seinen politischen Aktivismus in AUF, aber nicht zuletzt auch auf das Verhältnis zur getöteten Geliebten Gry Storefjeld sowie von der Frage, wie er als Personifikation des Bösen im Gerichtssaal landen konnte: „Det er bare meningsløst. Jeg prøver igjen og igjen å finne en forklaring på hvorfor jeg sitter i rettsal 227 og ikke utenfor, på en benk i Studenterlunden, eller ved skrivebordet hjemme …“ (S. 303 – „Das macht doch keinen Sinn. Ich versuche wieder und wieder eine Erklärung dafür zu finden, warum ich im Gerichtssaal 227 sitze und nicht draußen, auf einer Bank im Park Studenterlunden oder am Schreibtisch zu Hause …“). Auch an dieser Stelle werden Bilder des Terroristen Behring Breivik aktualisiert, besonders wenn Berge als ausdruckslos oder schwer zu lesen beschrieben wird. Während sich die Medienaufmerksamkeit hauptsächlich auf den Angeklagten Breivik als Gegenstand der Deutung konzentrierte, gibt Kjærstad seinem Angeklagten eine Gestalt, eine Stimme und ein inneres Leben. So vermittelt er, wie es ist, von anderen gedeutet zu werden, Gegenstand der Projektionen anderer zu sein, und gleichzeitig selbst ein Bedürfnis zu haben, sich frei durch die Schrift auszudrücken.

Denn Nicolai Berge ist auch Autor, und während Ine Wang schreibt, um sich lebendig zu fühlen und um beachtet zu werden, und Peter Malm, um rechtsphilosophische Probleme darzustellen, hat Berge umfassendere literarische Ambitionen. Er sucht „det punktet i en historie der innholdet vred seg og ble noe annet enn leseren hadde trodd“ („den Punkt in einer Geschichte, an dem sich der Inhalt drehte und zu etwas anderem wurde, als es der Leser geglaubt hatte“), und zielt darauf ab, å „skrive frem alternative årsakssammenhenger, dytte ting ut av sine vante posisjoner, vise at det meningsfulle kunne skjule noe skremmende eller absurd“ (S. 337 – „alternative Ursache-Folge-Zusammenhänge hervorzuschreiben, Dinge aus ihrer gewohnten Position zu schubsen, zu zeigen, dass das Sinnvolle etwas Erschreckendes oder Absurdes in sich bergen könnte“). Er erzählt von seinen Ideen für Bücher und Blogs und ganz wie der Autor Kjærstad hat auch der Autor Berge eine Vorliebe für intertextuelle Anklänge und das Spiel mit Namen. Die belletristischen Referenzen sind zahlreich in diesem dritten Kapitel, aber auch sonst im Roman. Hier finden wir Thomas Bernhard Seite an Seite mit Franz Kafka, wiederholte Bezüge zu Coleridge und zu Charles Dickens’ Bleak House. Diese Verweise könnte man als Versuch des Romans auffassen, etwas über sich selbst als Literatur und über das Potential der Fiktion zu sagen. Solche Lesestrategien setzen jedoch ein Vertrauen voraus, dass der Text auch tatsächlich etwas Wesentliches über sich selbst zu sagen hat.

Multiperspektivisch und zeitweise elegant und spannend thematisiert Kjærstads Roman die Presse, das Recht und die Literatur als unterschiedliche kulturelle Praxisformen. Wie tragen sie dazu bei, traumatische Ereignisse zu prozessieren? – so könnte man fragen. Dazu hat der Roman etwas zu sagen, jedoch weniger, als man es nach der Lektüre des ersten Teils erwarten könnte. Er perspektiviert das Bedürfnis der Massenmedien nach Sensationen und Tragödien, die Arbeit des Rechts an der klaren Trennung von Gesetzeskonformem und Gesetzeswidrigem und die Möglichkeit der Literatur, ein komplexeres Verständnis der Wirklichkeit zu erschaffen. Aber genauso stark wird die Lektüre von einer krimiähnlichen Dynamik vorangetrieben: Wer ist der Täter? Die Fiktion bezieht ihren Stoff aus einem traumatischen Ereignis, das noch immer im Bewusstsein vieler norwegischer Leser und Leserinnen lebendig ist. In dieser Hinsicht trägt der Roman zur Ausbildung neuer Perspektiven bei, aber vor allem dazu, dass man sich fragt, wozu er diesen Stoff denn eigentlich einsetzen will? Kjærstads Roman handelt vielleicht vom 22. Juli, aber er bearbeitet die emotionale und politische Bedeutung, die diese Ereignisse in der norwegischen Öffentlichkeit bekommen haben, nur in sehr geringem Umfang. Stattdessen erscheint das Spiel mit der Wirklichkeit unverbindlich und der Roman trägt nicht eigentlich zu einem tieferen Verständnis der Tragödie bei. Um es anders zu sagen: Jan Kjærstad nimmt Anleihen bei einem nationalen Trauma, ohne jedoch die Zinsen zurückzahlen zu können.

Jan Kjærstads: Berge, Aschehoug: Oslo, 2017.
(Ein Beitrag von Ingvild Folkvord und Anne Gjelsvik,
Übersetzung von Joachim Schiedermair, Greifswald)

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She’s (not) there. Anne-Caroline Pandolfo u. Terkel Risbjerg: Løvinden. Et portræt af Karen Blixen (2017)

Einer anderen Löwin zum Geburtstag

‚Biopic’ hat sich als Bezeichnung für Spielfilme etabliert, die entscheidende Momente im Leben historischer Persönlichkeiten fiktional aufbereiten. Seine Anfänge hat das Genre bereits in der Zeit des Stummfilms, doch derzeit blüht es in Hollywood wie nie zuvor: The Iron Lady (2011), Lincoln (2012), Steve Jobs (2015), Jackie (2016), Florence Foster Jenkins (2016) über die wohl schlechteste Sängerin der Welt, The Danish Girl (2015) über eine der ersten Geschlechtsumwandlungen; nicht zu vergessen I’m not there (2007), das Anti-Biopic des Regisseurs Todd Haynes, in dem gleich sechs Schauspieler Bob Dylan ihr Gesicht geben; die Montage von mehreren inkompatiblen Dylans entspricht der quecksilbrigen Wandlungsfähigkeit des Dargestellten; was für das Biopic von der Stange wie das Eingeständnis des Scheiterns klingt, nimmt jede einzelne der sechs Sequenzen wie der ganze Film ironisch für sich in Anspruch: He’s not there.

Die Gattungsbezeichnung ‚Biopic’ ließe sich mühelos auch auf das Medium ‚Comic’ oder (wer es feiner mag:) das Medium ‚Graphic Novel’ ausweiten, nur würde das Biopic dann nicht ein biographical moving picture, sondern eine biographical picture sequence bezeichnen. Auch hier gibt es erfolgreiche Beispiele, etwa Logicomix (2009 von Apostolos Doxiadis, Christos H. Papadimitriou und Alecos Papadatos) über den Logiker Bertrand Russell oder – um ein skandinavisches Beispiel zu nennen – die norwegische Künstlerbiographie Munch (2013) von Steffen Kverneland. Wenn sich Anne-Caroline Pandolfo und Terkel Risbjerg nun Karen Blixen vornehmen, dann haben sie damit eine Person gewählt, deren Leben nicht weniger prismatisch schillert wie Bob Dylans. Bekannterweise war Blixen eine Meisterin der Selbstdarstellung, die für ihr Projekt der Autokreation die Massenmedien geschickt zu lenken wusste; sie beherrschte das Spiel mit Rollen und Masken – sowohl in ihren Novellen wie in ihrem Leben. Die Erwartung an ein Biopic sind deshalb hoch: Gelingt es dem Comic Løvinden. Et Portræt af Karen Blixen (dt.: Die Löwin. Ein Porträt von Karen Blixen) ähnlich wie Todd Haynes’ Dylanfilm, die Geschichte von Blixen zu veruneindeutigen und sie gerade dadurch angemessen zu erzählen? Kann man auch über die Karen Blixen des Comics sagen „She’s not there“?

* * *

Was die Gestaltung von literarischem Material angeht, sind die Französin Anne-Caroline Pandolfo (für das Szenario) und der Däne Terkel Risbjerg (für die Zeichnungen) ein erfahrenes Paar: 2013 legten sie mit L’astragal eine Comicadaption des gleichnamigen Skandalromans von Albertine Sarrazin vor; bei der Veröffentlichung aus dem Jahr 2014 Le roi des scarabées (dän.: Skarabæernes konge, 2015) handelt es sich um eine eigene Version von Jens Peter Jacobsens kanonischem Roman Niels Lyhne; und aktuell liegt mit Perceval eine Bearbeitung des mittelalterlichen Ritterstoffes in den französischen Buchhandlungen. Auch das Blixen-Biopic erschien zunächst auf Französisch: La lionne. Un portrait de Karen Blixen (2015), und die Liebe des Duos zur ‚großen’ Literatur zeigt sich nicht nur in der Wahl des Stoffs, sondern auch in der Geschichte selbst: Brandes, Strindberg, Shakespeare, Nietzsche und einige Schriftsteller mehr treten auf; originellerweise darf Kierkegaard sogar mit der jungen Karen ‚Tanne’ Blixen Ibsens Et Dukkehjem (dt.: Nora. Ein Puppenheim) aufführen.

(S. 54 – dt.: „So fand Tanne in den Büchern Seelenverwandte. Die Bücher wurden ihre wahren Lehrer, und das Lesen wurde in gleicher Weise zum autobiographischen Material wie die aller wirklichsten Begebenheiten und Begegnungen.“)

So präsent also die Literatur ist, Blixens berühmte Erzählungen selbst verschwinden hinter ihrer Biographie fast vollständig. Der Comic erzählt das Leben der Dänin in drei Kapiteln: eines über ‚Tannes’ Kindheit, die Identifikation mit dem Vater Wilhelm Dinesen und dessen frühen Tod, über ihre Lektüren, den Versuch, Malerin zu werden und die Begegnung mit den Brüdern Blixen-Finecke; ein Kapitel über das Afrika-Intervall der Baronin Blixen-Finecke; und schließlich nach dem Bankrott der kenianischen Farm und der Rückkehr auf den dänischen Herrenhof Rungstedlund ein Kapitel über die Erfindung des Isak Dinesen, des Pseudonyms, unter dem Blixen ihre Bücher auf dem englischsprachigen Buchmarkt veröffentlichte, sowie über ihren schriftstellerischen Erfolg; Blixen wird zu der exzentrischen Ikone, die die Medien und ihr Publikum um die dünnen Finger wickelt, während sie gleichzeitig elegant mit einer Zigarette spielt: Und so kommt es zur Versöhnung mit dem zuvor als beengend erlebten Rungstedlund.

(S. 179 – dt.: Gerade in diesem Winkel der Natur, in dem sie geboren war, … / … schlug sie schließlich Wurzeln.)

Ganz der Selbstinszenierung der realen Karen Blixen entsprechend wird das Scheitern nach dem afrikanischen Intervall zur Voraussetzung der schriftstellerischen Tätigkeit und damit zur Peripetie des Biopics: „Djævlen har givet mig evnen til at forvandle mit liv til historier“ (S. 157 – „Der Teufel hat mir die Fähigkeit gegeben, mein Leben in Geschichten zu verwandeln“). Deshalb muss man sich als Leser wundern, dass diese Geschichten selbst kaum eine Rolle in Pandolfos und Risbjergs Biopic spielen. Auf den 190 Seiten sieht man Blixen nur auf einigen wenigen Bildern im letzten Kapitel an ihren Büchern schreiben, hinzu kommen noch vier Seiten im Afrikakapitel, in denen sie das (mündliche) Erzählen als Mittel entdeckt, um Denys Finch Hatton an sich zu binden. Doch auch hier sieht man nur die Erzählerin, nicht aber, was sie erzählt. Nur einmal, im allerletzten Bild, legt Pandolfo ihrer Karen Blixen den letzten Satz von Kardinalens første Historie in den Mund, einer der Novellen aus dem Band Sidste Fortællinger/Last Tales (1957). Von einer solchen Verschmelzung von fiktionalen und (auto)biographisch-faktualen Texten im Medium des Comics hätte man sich mehr gewünscht.

Fiktionalisiert wird das biographische Material vor allem durch die Rahmung. Den drei Kapiteln geht nämlich ein Prolog voraus, in dem sieben Feen um die Wiege der gerade geborenen Tanne stehen und wie im Märchen ihre Segnungen über dem Kind aussprechen: Shakespeare, Nietzsche, ein Löwe, Scheherazade, der Teufel, ein Massaikrieger und ein Storch. Alle melden sich auch im Laufe des Biopics immer wieder zu Wort, wobei der Teufel und der Storch besonders großen Raum bekommen. Wer Blixen gelesen hat, dem fällt es nicht schwer, diese Figuren oder das, wofür sie stehen, wiederzuerkennen und sie der Ästhetik zuzuordnen, die sich in Blixens Erzählen ausdrückt: Der Löwe, der Krieger und der Storch sind prominent in Out of Africa vertreten; die orientalische Geschichtenerzählerin, die um ihr Leben erzählt, war eine Figur, mit der sich Blixen identifizieren konnte; den Teufel nannte sie ihren Freund, bei dem sie ihre Sexualität gegen die Fähigkeit eingetauscht hatte, ihr Leben in Erzählungen zu verwandeln; Nietzsches „Ich bin ein Ja-Sager, und ein Kämpfer war ich“ erhob sie in einer bestimmten Phase zu ihrem Lebensmotto. Und Shakespeare liebte sie ein Leben lang (und zeichnet u.a. Illustrationen zu seinem Sommernachtstraum). Über den Umweg der Feen wird der Comic eben doch ein Text – wenn auch nicht über die Literatur der Dänin – so doch über die Pfeiler ihrer Phantasie und über deren intertextuelle Verwobenheit.

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Dass so wenig von Blixens Erzählungen Eingang in den Comic gefunden hat, bedauert auch Søren Vinterberg in seiner Rezension in der Tageszeitung Politiken (3. Juli 2017): „Havde Pandolfo og Risbjerg givet de syv feer mere plads, havde mere af Blixenes fortællinger måske også fået det“ („Hätten Pandolfo und Risbjerg den sieben Feen mehr Platz eingeräumt, wäre vielleicht auch mehr Raum für Blixens Erzählungen gewesen“). „Nu står fiktionen – som så ofte – i skyggen af forfatterens person“ („Jetzt steht die Fiktion – wie so oft – im Schatten der Person der Autorin“). Karen Blixen, so Vinterberg, hätte sich mit dem Comic wohl ein wenig gelangweilt.

Freilich macht das Biopic aus der Person Blixen einen Gegenstand der Verehrung, einer Verehrung noch dazu, die zusammengezimmert scheint aus Narrativen, die einer liberalen Gesellschaft lieb geworden sind, die man 2017 allerdings nur banal und abgenutzt nennen kann, wenn sie ungebrochen und kommentarlos daherkommen: So findet man die Geschichte vom kreativen Kind, das sich aus der Enge eines bürgerlichen Heims befreit; vom Aufbegehren gegen eine verbiesterte religiöse Autorität; von der begabten Frau, die in eine abgeriegelte männliche Domäne eindringt; kurz: die tausendfach erzählte Geschichte vom glorreichen Triumph der authentischen Individualität über alle Konvention: „At være sig selv er det vigtigste der findes“ (S. 53 – „Man selbst zu sein, ist das Wichtigste, das es gibt“).

Ganz auf dieser Linie könnte man etwa einen Dialog lesen, der sich am Anfang des Afrika-Kapitels entspinnt. Die Baronin trifft das erste Mal auf die Kikuyus, die auf ihrer Farm arbeiten, und stellt sich ihnen vor: „Ich bin Baroness Karen Blixen-Finecke, geborene Dinesen. […] Ich habe in meinem Heimatland nie Landwirtschaft getrieben, ich habe an der Akademie in Kopenhagen Kunst und Zeichnung studiert. Ich habe auch Sprachen gelernt, Englisch, Französisch, Deutsch … “

Die Kikuyus blicken sie begreiflicherweise nur stumm an. Schließlich rät Farah, ihr somalischer Diener und Vertrauter: „M’sabu … Sig hellere hvem du er …“ (S. 89 – „M’sabu … Sag lieber, wer du bist …), worauf sie antwortet:

(S. 89 – „Ja … … selbstverständlich …“)

Nun sei sie in Afrika und dort, so der Subtext, zähle nur, was man ist. Das Bild der nackten jungen Karen Blixen (, die natürlich nur in ihrer eigenen Vorstellung nackt dasteht,) kann man als Metapher der Entledigung vom europäischen Ballast nehmen. So liest man denn auch auf der folgenden Seite: „Konventioner og social succes betød intet for [… de sorte]. Foran dem var hun befriet for alt det, hun ikke ville være“ (S. 90 – „Konventionen und sozialer Erfolg bedeutete nichts für die Schwarzen. Vor ihnen war sie befreit von all dem, was sie nicht sein wollte“).
Wäre diese banale Erfolgsgeschichte starrsinnig behaupteter Identität alles, was der Comic leistet, dann kann man nur in einem ganz unironischen Sinn konstatieren: She’s not there!

* * *

Will man Løvinden nicht der Lesart überlassen, der zufolge man nur sich selbst treu bleiben muss, um gegen alle Hindernisse zu größter Anerkennung zu gelangen, dann muss man das ironische Potential des Mediums Comic heben. Da der Comic aus zwei unterschiedlichen Codes zusammengesetzt ist, dem verbalen und dem ikonischen, zwingt das Medium bereits auf der ganz grundlegenden Ebene des Lesens dazu, sie beide in Harmonie zu vereinen, sie gegeneinander laufen zu lassen oder sonst irgendwie zueinander zu relationieren. Der Comic ist per se ein in hohem Grad schreibbarer Text (um den schönen Begriff von Roland Barthes wieder einmal aufleben zu lassen).

So ergibt sich aus dem oben gezeigten Bild der nackten jungen Frau eine gänzlich andere Erzählung, die derjenigen der einfachen Identität, die immer schon da ist und nur befreit werden muss, strikt entgegengesetzt ist – wenn man nur bereit ist, der den Bildern eigenen Kohärenz zu folgen. So ist die Zeichnung der entkleideten Karen Blixen ein Echo auf ein früheres Bild, auf dem der Comic bereits schon einmal eine nackte Frau zeigt. Es handelt sich um die Episode, in der Tanne an der Kopenhagener Akademie Malerei studiert. Dort löst sie sich aus der Gruppe weiblicher Eleven und schleicht in das Atelier, das männlichen Akademiemitgliedern vorbehalten ist. Sie tritt in den Saal, als gerade Aktzeichnen unterrichtet wird. Ihr Blick fällt mit den männlichen Malern auf das nackte Modell.

(S. 63 Bild 1, 2 und 5 – „Leidenschaft, Frederiksen!! […] … das arme Fräulein Lina!“)

Der nackte Körper vor den Kikuyus einige Seiten später ist also ein Echo auf diese Stelle, die ebenfalls einen nackten weiblichen Körper zeigt. Im Fall des Modells ist die Identität der Nackten jedoch völlig unwesentlich. Es geht nicht darum, wer ‚Lina’ im tiefsten Innern ist. Der Körper des Modells ist vielmehr nur Material, aus dem die Leidenschaft des Künstlers ein eigenes Kunstwerk formt – vielleicht macht er aus ihr eine Amazone, vielleicht eine Maria Magdalena. Das Bild der nackten Frau spricht also nicht die Sprache der Authentizität. Wenn die Szene im Atelier der Akademie in der Szene vor den Kikuyus wiederkehrt, dann muss letztere als der Moment gewertet werden, in dem Blixen ihr Leben als formbares Material erkennt, das – wie das Modell im Atelier – dem eigenen künstlerischen Willen unterworfen ist und seine Stimmigkeit aus der Zustimmung des Publikums erhält (im einen Fall des akademischen Lehrers, im anderen der der Kikuyus). Das Leben wird also zum Werk, zu etwas, das erst erfunden und bewusst gestaltet werden muss. In der Sprache, die die Bilder sprechen, ist Identität nicht vorgegeben, sondern sie wird zum Ergebnis künstlerischer Inszenierung. Diese Einsicht hat noch dazu eine gegenderte Pointe. Denn das Material der Inszenierung ist ein Frauenkörper, die Künstler aber – sowohl die im Atelier der Akademie, wie die verehrten Autoren von Brandes bis Shakespeare – sind allesamt männlich. In der Selbstinszenierung erreicht Blixen somit eines der Ziele, die sie sich unmittelbar nach der Akademieszene setzt; dort zieht sie Bilanz über ihr bisheriges Lebens: „Jeg er en kvinde. […] Hvad skal jeg gøre? […] Blive en mand.“ (S. 64 u. 65 – „Ich bin eine Frau. […] Was soll ich machen? […] Ein Mann werden.“) Entsprechend wählt sie im letzten Kapitel mit Isak Dinesen ein männliches Pseudonym (S. 158-159): Als Künstler ist sie ein Mann, als Gegenstand der künstlerischen Gestaltung ist sie eine Frau.
Verstärkt wird diese Lesart durch eine weitere Szene, die derjenigen in der Akademie unmittelbar folgt und in der ebenfalls Malerei und ihr gendering eine Rolle spielen. Dort besucht Tanne den adligen Zweig ihrer Familie und freundet sich mit der exzentrischen und freigeistigen Daisy an. Die Freundin zeigt ihr das Porträt ihrer Tante Agnes Frijs und klärt sie darüber auf, dass diese Tante und Tannes Vater Wilhelm Dinesen ein Liebespaar waren. „De var nærmest som Tristan og Isolde …“ (S. 68 – „Sie waren fast wie Tristan und Isolde …“)

(S. 68 Bild 4 – „Wie von einem Liebestrunk verhext, Orfeus und Eurydike … Romeo und Julia … Odysseus und Penelope …Heloïse und Abélard …“)

Im adligen Kontext wird vor dem Porträt in der Ahnengalerie also Identität gerade nicht als Befreiung von Vorgaben, sondern als kreative Übernahme einer Tradition, als das Eintreten in eine intertextuelle Reihe nachvollziehbar. In diese Reihe gehört auch Daisy. Durch das wallende rote Haar und das dunkelgefleckte Kleid verschmilzt sie mit der auf dem Porträt Dargestellten. Ihren Bezug zu Blixens Selbstinszenierungsprojekt bekommt sie über das Champagnerglas, mit dem sie auf fast jedem Bild dargestellt ist. Genau dieses Detail wird in der Afrikaepisode ein wichtiges Attribut in der Hand der Baronin Blixen und findet ihren Höhepunkt im Champagnerdinner mit Denys Finch Hatton am Lagerfeuer in der kenianischen Steppe (S. 110). Die Reihe von Tristan und Isolde bis zu Wilhelm Dinesen und Agnes/Daisy Frijs wird um das Glied Karen Blixen und Finch Hatton verlängert. Die authentische Identität, die nur auf ihre Verwirklichung wartet, verpufft hier ganz und gar.

* * *

Pandolfos und Risbjergs „portræt af Karen Blixen“ bietet also mindestens zwei Gesichter. Das eine gehört einer etwas abgegriffenen Geschichte der Selbstfindung an, das andere ist die Geschichte der Selbstinszenierung, die auch die Karen Blixen der Literaturgeschichte ihrem Publikum über sich selbst erzählte. Wenn man über beide Geschichten sagen muss, dass Blixen in ihnen nicht anwesend ist (wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen), dann wäre der Comic vielleicht doch ein Beispiel für ein gelungenes Biopic: She’s (not) there.

Anne-Caroline Pandolfo u. Terkel Risbjerg: Løvinden. Et portræt af Karen Blixen, Fahrenheit: Kopenhagen, 2017.
(Joachim Schiedermair, Greifswald)

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Neben der Katastrophe: Was bleibt dem, der verschont wurde? Johan Harstad: Max, Mischa & Tetoffensiven (2015)

Der Norweger Johan Harstad (geb. 1979) ist als Autor ein geübter Post-Apokalyptiker: Das Theaterstück Krasnoyarsk (2008) zeigt einen Anthropologen auf der Suche nach Überlebenden nach dem Zusammenbruch der Kontinentalplatten; der Roman Darlah (2008 – dt. 2010) erzählt von der erfolgreichen Invasion der Erde durch Aliens – übrigens durch den Körper einer Norwegerin; das Theaterstück Osv. (usw. – 2010) trägt den Untertitel Vietnam, Bosnia, Rwanda, Tsjetsjenia, Somalia, Darfur, Afghanistan, Irak und weist damit darauf hin, dass die Reihe militärischer Konflikte, die die Welt in Atem hält, nicht abreißen wird. Kriege, Katastrophen, unterschiedliche Varianten des Weltuntergangs; der Roman Hässelby (2007) bietet vielleicht das originellste Szenario: Sein Protagonist heißt Albert Åberg – wie der kleine Junge, den die schwedische Autorin Gunilla Bergström in einer langen Serie von erfolgreichen Kinderbüchern auftreten lässt; im schwedischen Original heißt er Alfons Åberg, in den deutschsprachigen Übersetzungen Willi Wiberg. Die Bilderbuchreihe erzählt von den Alltagssituationen eines Vorschulkinds, wie der kleine Albert Ängste überwindet, Freunde findet, sich mit anderen zu arrangieren lernt und seinem Papa zeigt, dass er ihn liebhat. An Albert/Alfons/Willi kann man erleben, wie eine gelungene Kindheit in der besten aller Welten, dem Wohlfahrtsstaat nordischer Ausprägung, aussehen kann. Bei Harstad ist Albert erwachsen geworden, doch er ist konfliktscheu, bindungsunfähig, apathisch und selbstbezogen. Seine ideale Sozialisation hat nicht dazu geführt, ihn zu einem Menschen zu machen, der seine privilegierte Stellung nutzt und mit Mut das Unrecht der Welt angeht, um es zum Guten zu wenden.

In Ibsens Drama Peer Gynt will der geheimnisvolle Knopfgießer die Hauptfigur Peer einschmelzen; ihn in Himmel oder Hölle weiterleben zu lassen, sei überflüssig, weil Peer es versäumt habe, eine Persönlichkeit zu werden. Harstad wendet Ibsens Knopfgießer-Szene ins Soziale: Das Menschheitsexperiment des Sozialstaats ist gescheitert, so dass Albert Åberg und mit ihm ganz Skandinavien am Ende des Romans abgebaut werden – im wahrsten Sinne des Wortes: Dämonen transportieren die Bewohner ab, reißen die Städte, Dörfer, Straßen und Brücken ein, versenken den Schutt in der Ostsee, wodurch der Meeresspiegel steigt und Europa überflutet. Das Szenario einer möglichen Klimakatastrophe wird als Konsequenz moralischen Fehlverhaltens und unterlassenen sozialen Handelns gedeutet (wenn auch auf andere Weise, als es uns die Meteorologen ankündigen). Der erhobene Zeigefinger am Ende des Romans überrumpelt den Leser derart, dass er nicht dazu kommt, sich über ihn zu ärgern.

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Auch in seinem neuesten Roman Max, Mischa & tetoffensiven (2015) bildet das Gravitationszentrum eine Katastrophe: Bereits der Titel nennt neben den beiden Hauptfiguren die Tet-Offensive, also jenen Moment im Januar 1968, als der Vietcong am Vorabend des vietnamesischen Neujahrsfestes, des Tết Nguyên Đán, eine breit angelegte Offensive gegen die Allianz von südvietnamesischer und US-amerikanischer Armee startete. Auch wenn der Angriff erfolgreich zurückgeschlagen werden konnte, brachte die Offensive doch eine entscheidende Wende im Kriegsverlauf. Die Bilder der Hinrichtung eines Vietcong-Generals vor den Kameras westlicher Reporter sowie die Berichte über Kriegsverbrechen der amerikanischen Soldaten als Reaktion auf die Tet-Offensive ließ die öffentliche Meinung in den USA kippen. In der Folge formierte sich in der US-Bevölkerung breiter Widerstand gegen das militärische Engagement in Südostasien.

Harstads Roman, dick und schwer wie ein Ziegelstein, erzählt in wechselnden Blöcken von Max und Owen: Max, der Ich-Erzähler, muss im Sommer 1990, als er 12 Jahr alt ist, mit seiner Familie aus Forus, einem Stadtteil von Stavanger, in die USA auswandern. Zwar trennen sich seine Eltern nach einigen Jahren, doch von außen gesehen gleicht sein Leben einer Erfolgsgeschichte: 2012, dem Jetzt des Romans, ist er ein junger und trotzdem schon anerkannter Theaterautor und -regisseur mit Wohnsitz in Manhattans Upper West Side. Doch sein Leben ist von einem existentiellen Unbehagen geprägt und der Suche nach dem Grund dieses Unbehagens. Die Dauerkrise führt schließlich dazu, dass sich seine langjährige Lebenspartnerin Mischa Grey von ihm trennt; sie ist eine erfolgreiche bildende Künstlerin, die der Schauspielerin Shelley Duvall gleicht, deren Portrait das Cover des Romans ziert.

Von Owen, einem Onkel von Max, wird in der dritten Person erzählt und es spricht einiges dafür, Max für den Autor auch dieses Erzählstrangs zu halten. Anfang der 1970er verabschiedet sich Ove, wie er damals noch heißt, aus der Geschichte seiner norwegischen Familie und emigriert in die USA, um Jazzmusiker zu werden. Um in Amerika eingebürgert zu werden, meldet er sich als Soldat im Vietnamkrieg. Auch wenn die Kriegserlebnisse Owen traumatisieren und sein Leben deshalb von einem rastlosen Grundton durchzogen ist, meistert er die Herausforderung seines Leidens doch auf unspektakuläre Weise. Sie, das Paar Max und Mischa, und Owen werden Freunde und leben zusammen in einer Künstler-WG.

Von diesem Onkel, genauer von der Tatsche, dass der Onkel ein Vietnamveteran ist, geht eine besondere Faszination auf Max aus. Kurz bevor er von den Emigrationsplänen seiner Eltern erfährt, sieht der 12-Jährige heimlich eine Kopie von Francis Ford Coppolas Apocalypse now auf dem heimischen Videoplayer; die Vorlage wird als Räuber-und-Gendarm-Version nachgespielt, Max erleidet dabei einen Schlüsselbeinbruch, „Du er krigsveteran nå, vi er alle sammen det“ (S. 95 – „Du bist jetzt ein Kriegsveteran, wir alle sind Kriegsveteranen“), flüstert ihm ein Mitspieler zu, als er im Gipskorsett im Krankenhaus liegt. „Vi hadde kjempet hardt og tappert og vi hadde vunnet. Vi hadde gjort oss fortjent til å reise hjem“ (S. 95 – „Wir hatten hart und tapfer gekämpft und wir hatte gewonnen. Wir hatten verdient, nach Hause reisen zu dürfen“). Mit dieser Episode war die Folie oder besser der Mythos fertig, vor dem Max den Verlust seiner Erstsozialisation im norwegischen Forus bearbeitet: Den Umzug an die Ostküste der USA deutet er als Trauma, das ihm noch als 35-Jährigem erlaubt, sein Unbehagen im eigenen Leben in Analogie zu Coppolas Hauptfigur, Captain Willard, zu deuten, der das Grauen im Dschungel von Vietnam kennen lernt. Und auch die Faszination für Mischa/Shelley Duvall erklärt sich als Begehren nach dem Trauma: Duvalls bekannteste Rolle ist schließlich Wendy in Kubricks Horrorfilm The Shining (1980), in der sie von Jack Nicholson mit einer Axt bedroht wird.

Auch wenn man als Leser anfangs bereit ist, die Interpretationsfolie – Kind verkraftet den Umzug nicht – zu akzeptieren, so wird doch mit zunehmender Seitenzahl immer deutlicher, wie unangemessen diese Selbstinterpretation des Ich-Erzählers ist. Denn zum einen hat Max nach dem Umzug keine Schwierigkeiten, sich in seiner neuen Lebenswelt einzufinden; zum anderen lag die Interpretationsfolie ja bereits seit dem Kriegsspiel, d.h. vor dem Umzug aus Forus nach New York, fest. Entsprechend geht es an der (erzählten) Realität vorbei, die Emigration als Grund von Max’ lebenslanger Haltlosigkeit zu akzeptieren. Im unfreiwilligen Ortswechsel manifestiert sich eher das, was sowieso hätte kommen müssen: der Verlust der kindlichen Welt und der familiären Selbstverständlichkeiten, der jede Pubertät einleitet. Den Zwang, erwachsen zu werden, dem Wiederholungszwang des Traumas gleichzustellen, das „Grauen“ von Coppolas Apokalypse als Dauerfolie einer erfolgreichen Künstlerbiographie anzunehmen, dieses Interpretationsmuster des eigenen Lebens entbehrt jeglichen Proportionsgefühls.

Von der Unverhältnismäßigkeit dieses Vergleichs handelt der Roman. Mischa verlässt die Künstlerkolonie, als sie nicht mehr bereit ist, die Dauerpubertät ihres Partners zu ertragen. Mit ihrem Bruch ist Max gezwungen, sein Leben einer Auswertung zu unterziehen. Der Roman – genauer: die Niederschrift seines Lebens, die wir als Roman lesen – bietet sich als diese Auswertung dar.

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Max steckt also offensichtlich in der liminalen Phase der Pubertät fest; er wartet darauf, dass sich etwas zeigt, was ihm ein Zentrum bietet, das ihm mit dem Verlust der kindlichen Erstsozialisation abhanden gekommen ist. In gewissem Sinn sehnt er sich nach dem Trauma, das in seinen Augen dem Leben seines Onkels Owen eine Peripetie gegeben hat (auch wenn Owen selbst diese Interpretation ablehnt). Dieses Begehren nach der Katastrophe, die das existentielle Leiden legitimieren und damit mit Sinn ausstatten würde, begegnet bereits dem Leser von Osv., Harstads Schauspiel aus dem Jahr 2010. Eine der Hauptfiguren dort ist ebenfalls ein Vietnamveteran, der anders als Owen tatsächlich an einem Trauma zerbricht. Eine der Nebenfiguren, ein Vietnam-Nerd, der alle Romane, Spielfilme und Dokumentationen über den Vietnamkrieg verschlingt, klagt die Veteranen an, dass sie ihn nicht an ihrem Trauma Anteil nehmen lassen. Er formuliert das Paradox, dass das Leiden der Veteranen Teil des amerikanischen Mythos geworden ist und damit ein zentrales Element (nationaler) Identität. Diese Ressource der Identitätsbildung sei ihm verwehrt. Dem Nerd sind nur wenige Minuten im Schauspiel zugemessen. Doch in der Hauptfigur von Max, Mischa & tetoffensiven wird das Begehren nach der Katastrophe in epischer Breite entwickelt. Dass Harstad angesichts der Unangemessenheit dieser Sehnsucht nicht zynisch wird, sondern es fertigbringt, die Sympathie des Lesers für den ewig pubertierenden Melancholiker über 1083 Seiten (von denen keine einzige langweilig ist) aufrecht zu erhalten, zeigt, dass er sein Handwerk als Erzähler beherrscht.

Tatsächlich hat sich Harstad viel von den popkulturellen Medien abgeschaut, die den Referenzraum des Romans bilden. Er verliert den Spannungsaufbau nie aus dem Blick trotz zahlreicher Digressionen, wie etwa seitenlangen Ausschnitten aus (fiktiven) Kunstkatalogen zu Mischa Greys Ausstellungen. Auf der vorderen Innenseite des Umschlags ist eine Prognose des National Weather Service vom 29. Oktober 2012 abgedruckt, die den Verlauf des Hurrikans Sandy mitteilt. Noch vor dem Beginn des Romantextes wird somit signalisiert, dass die Handlung unweigerlich auf „an extremely dangerous storm surge“ (eine extrem gefährliche Flutwelle) zusteuert und er/sie liest den Roman entsprechend auf ein angekündigtes Ereignis hin, das – so die offen gehaltene Erwartung – zu einer alles relativierenden Wende werden könnte … oder eben auch nicht. Und tatsächlich: Der Wirbelsturm wird im letzten Kapitel des Romans zur Katastrophe, die Max endlich aus der Rolle des Verschonten befreit. Die existenzielle Leere der Hauptperson wird erst durch eine existenzielle Bedrohung gefüllt.

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In der letzten Szene wartet Max auf seinen Flug nach Montreal – dort will er Mischa wiedersehen und die Chancen für eine Wiedervereinigung stehen gut. Da wird der Flug aufgerufen. Ein Mitreisender, mit dem Max geplaudert hat, „setter koppen fra seg, ser på meg og peker mot høyttaleren. Smiler. / ’Vel,’ sier han. ’This is for us.’ / Så løper vi.“ (S. 1083 – Der Mitreisende stellt die Tasse ab, sieht mich an und zeigt auf den Lautsprecher. Lächelt. / ‚Nun’, sagt er. ‚This for us.’ / Dann laufen wir zum Gate.) „This is for us“ / „This is Forus“. Das Wortspiel mit dem Namen des Stavanger Stadtteils, in dem Max bis zur Übersiedelung in die USA gelebt hat, wurde bereits im ersten Kapitel eingeführt. Nun schließt sich der Kreis. Max ist – nach ‚seiner’ Katastrophe – in einem neuen Leben angekommen. Die Tragödie des Verschonten wird zu einer Comedy of Remarriage.

Johan Harstad: Max, Mischa & tetoffensivenGyldendal: Oslo, 2015.
(Joachim Schiedermair, Greifswald)

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