Repräsentanz einer Minderheitensprache – Thom Lundberg: För vad sorg och smärta (2016)

Wird Literatur einer identitätspolitischen Agenda zugeordnet, kann man mitunter den Eindruck gewinnen, diese Werke seien über jegliche Literaturkritik erhaben. Der politische Appell, sich gegen Diskriminierung und soziale Ungleichheit zu wenden, findet in den schwedischen literarischen Institutionen stets Gehör. Das Erstlingswerk För vad sorg och smärta von Thom Lundberg (geb. 1978) bietet grelles Provokationspotential − durch seinen archaisierenden Legendenstil, die vielen Einschübe in Romanes (d.h. der Sprache der Roma) und die holzschnittartigen Gewaltschilderungen, die an die Inhalte und Illustrationen historischer Bänkelsänge erinnern. Die Kritik setzte sich bisher aber fast ausschließlich mit der im Roman thematisierten Traumabearbeitung und dem folkhem-Rassismus auseinander. Das Gespräch, das der etablierte Schriftsteller Ola Larsmo auf der Buchmesse in Göteborg mit dem Autor führte (2.9.2016, https://urplay.se/program/200164-for-vad-sorg-och-smarta), veranschaulicht den Respekt, mit dem man Lundbergs Debütwerk begegnete. Tatsächlich ist festzustellen, dass Lundberg einer Minoritätsgruppe ermöglicht, in der literarischen Repräsentation anzukommen.

Die Handlung des Romans besteht aus der tragischen bis melodramatischen Geschichte der Familie Klosterman, die mit pogromähnlichen antiziganistischen Ausschreitungen in Jönköping 1948 konfrontiert ist und diese zum Anlass für ihre fluchtähnliche Übersiedlung nach Halland nimmt. Der Vater Amandus, ehemaliges Roma-Waisenkind, wurde einst von einem Schweden als Pflegekind aufgenommen. Wegen seiner uneindeutigen Herkunft kämpft er gegen eine ethnische Skepsis innerhalb der Familie. Sein wenig erfolgreicher Verkauf von Metallwaren auf ländlichen Marktfesten und sein Alkoholismus führen dazu, dass seine Frau Severina und seine drei Kinder Olof, Valentin und Syster in bitterer Armut leben müssen. Für den anpassungsbereiten Olof und den impulsiven Valentin ist der gesellschaftliche Abstieg des Vaters quälend. Die patrilineare Tradierung ist am Ende des Romans völlig zerstört: Unterdrückung und Exklusion der Romagruppen entfachen gewalttätige Konflikte zwischen den Familien, aber auch mit der abweisenden Lokalbevölkerung. Die Diskriminierung führt wörtlich und metaphorisch zu Deformationen und entfesselt im Falle Valentins unbändige Aggression, auch gegen sich selbst. Die Messerstechereien zielen auf Rache gegenüber den Peinigern ab und zeichnen ein groteskes Bild eines Ehrenkodex. Die jeweiligen Unterdrücker bzw. zu feindlichen Repräsentanten erkorenen Personen werden in ihrer konkreten Handlungsmacht ‚kastriert‘, wobei das Abtrennen von Fingern hier die konkrete Ausdrucksform eines vererbten familiären Traumas bildet: Amandus wurde einst gezwungen, eine solche Verstümmelung vorzunehmen, und er setzt seinen Sohn Olof eines Tages unter Druck, diese Tat ebenfalls zu begehen, was zu dessen Traumatisierung führt.

Nachdem Severinas Bruder dem unwürdigen Amandus einen kunst-geschmiedeten Familienschrein gestohlen hat, der symbolisch für den sorgfältig gepflegten Erinnerungsschatz an Legenden, Erzählungen, Liedern und Balladen steht, eskaliert die Spirale der Gewalt. Olof, zusätzlich von Valentin in einer Schlägerei öffentlich gedemütigt, reagiert sich an seinem Onkel ab und fügt ihm Schnitte im Gesicht zu. Die wiederholt verwendete Formel „Din hand är allas hand“ („Deine Hand ist unser aller Hand“) erscheint absurd konterkariert, denn nun attackieren sich sogar die Mitglieder der Gemeinschaft gegenseitig bis auf den Tod („På mitt liv och min kniv“, S. 27; ungefähr: „auf mein Leben und mein Messer“). Valentin, der nicht wie Olof einer Phase sozialer Mobilität erlebt, sondern nach kurzer Kindheit routinemäßig Händel sucht und dem unerreichbaren Traum von einem Autokauf nachhängt, nimmt am Ende des Romans die Gelegenheit wahr, sich an einem Mobbingtäter aus der Kindheit zu rächen. Olof kann nicht verhindern, dass Valentin auch dessen Hand verstümmelt. Die letzte Szene des Romans stellt dar, wie Olof sich entscheidet, das Verbrechen auf sich zu nehmen und sich zu stellen, damit Valentin fliehen und ein neues Leben beginnen kann. Während Sturm aufzieht und der dunkelblaue Himmel sich – wie so oft im Roman – schwarz färbt, wartet Olof am Strand auf seine Häscher. Ob er mit dem Leben davonkommt und ob Valentins Flucht gelingt, bleibt dabei offen.

Die Mutter Severina stammt aus einer norwegischen Romafamilie, die vom sagenumwobenen Großvater Fingal und der Großmutter mit dem sprechenden Namen Eufrosyne (Pseudonym der schwedischen Dichterin Juliana Nyberg 1785-1845) angeführt wird. Severina ist Urheberin des titelgebenden Lieds mit zahlreichen Strophen, das sie mehrmals anstimmt, aber nie abschließt. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde sie von der schwedischen Sozialbehörde für unmündig erklärt und zwangssterilisiert, ihre Tochter Syster wurde einer schwedischen Pflegefamilie übergeben. Der Pflegevater, ein Pfarrer, sowie der sozialdemokratisch profilierte Arzt, der Olofs Verletzungen behandelt, werden als wohlmeinende Vertreter des folkhem gezeichnet, so dass auch die besten Absichten der schwedischen Modernisierer Berücksichtigung finden.

Olof bekommt vom Arzt Onkel Toms Hütte geschenkt und stellt bei der Lektüre fest, dass es in diesem Werk doch eigentlich um Roma ginge (vgl. S. 260). Amandus wiederum macht durch die Begegnung mit einem lesenden Nachbarn aus dem Lumpenproletariat indirekt die Bekanntschaft mit dem Statare-Genre und fragt sich gemeinsam mit Severina, ob in diesen Texten eigentlich auch „romanoa“ (eine Selbstbezeichnung für Romagruppen) als literarische Figuren vertreten seien (vgl. S. 146). Olof hätte die Chance gehabt, durch Bildung oder die Verlobung mit der Arzttochter bis ins Kleinbürgertum aufzusteigen. Armut und unregelmäßiger Schulbesuch, aber auch die Dekadenz des Vaters und die psychische Krankheit der Mutter verhindern dies.

Severina stirbt früh an Tuberkulose, aber die matrilineare Tradierung von Liedtexten und Gesängen wirkt noch über ihren Tod hinaus weiter. Gemeinsam mit Olof hat sie eine letzte Strophe für das titelgebende Lied erfunden, so dass Olof als Identifikationsfigur des Autors erscheint. Die metaphorische Umschreibung des Sterbens im Schwedischen, dass man ‚den letzten Vers singe‘, bestätigt trotz der sagenhaften Überlebensfähigkeit der Erzählungen zugleich eine Verabschiedung von einer prämodernen Lebensweise.

För vad sorg och smärta verfolgt auch eine Revitalisierung von Romanes bzw. „romani chib“ – die Selbst- und Fremdbezeichnungen der Varietäten sind bekanntlich umstritten, wobei die Nationalsprachen Schwedisch (für die väterliche Linie) und Norwegisch (für die mütterliche Linie) im Roman als Koordinaten aus den Majoritätssprachen herangezogen werden. „Romani chib“ zählt zu den fünf offiziellen schwedischen Minoritätssprachen (siehe http://www.sprakochfolkminnen.se/sprak/minoritetssprak/romska.html). Lundberg bindet Romanes-Wörter und Wendungen in den schwedischen Text ein und entwickelt eine ethnographisch fundierte Kunstsprache, verzichtet jedoch auf ein Glossar oder Fußnoten. Überwiegend wird kurz vor oder gleich nach einer solchen mehrsprachigen Einheit ein schwedisches Synonym geliefert oder eine klärende Kontextualisierung gewählt. Die Lesenden stehen anfangs vor einer gewissen Herausforderung, machen aber bei der Lektüre rasch Fortschritte, da in bestimmten Passagen einige Begriffe gehäuft auftauchen oder sich semantische Felder erschließen lassen. Hat man die ersten beiden der insgesamt sieben Teile einigermaßen sorgfältig gelesen, werden Herleitungen möglich. Auch haben sich bestimmte Schlüsselbegriffe während der Lektüre durch ihre hohe Frequenz eingeprägt, wie etwa tjavo (junger Mann), nukko (Junge), dikkla (besticktes Tuch der Frauen), tjuring (Messer der Männer), drom (Landstraße in der Nähe der Siedlung), honka (sein; scheinen), rakkla (sich unterhalten), penna (verstehen; sagen, erklären), tradra (gehen), bengalo (betrunken; verrückt) sowie der Ausruf des Erstaunens „Develska dad!“.

Während wir beim Lesen in ein Universum aus Viehmärkten, Pferdegespannen, Taschenuhren und Schnurrbärten versetzt werden, verfolgt der Autor das Anliegen, sowohl verschiedene – meist regional, landschaftlich oder über Helden mythischen Formats bestimmte – Romagruppen, Romanes-Varietäten als auch unterschiedliche Grade der Sprachbeherrschung und den individuellen Alltagsgebrauch zu repräsentieren. Da die Absicht der Repräsentation markiert bleibt, erscheint bei Lundberg die dargestellte Heteroglossie weniger der Mimesis verpflichtet, als es gemeinhin minoritätssprachlichen Passagen in literarischen Werken nachgesagt wird, die in Majoritätssprachen verfasst sind. Die kompositorische Grundstruktur als Klagegesang oder kolportierte Legende mit den Erzählmustern von Steigerung und Überbietung, die literarischen Kleinformen entlehnt sind, unterläuft die klassische Authentizitätsvergewisserung und das Anliegen einer Dokumentation historischen Sprachgebrauchs.

För vad sorg och smärta ist ein Pionierwerk, das erklärtermaßen einen Standard für eine schriftliche Varietät von Schwedisch-Romanes festlegen will (vgl. Nachwort, S. 364) und damit nicht weniger als eine Literatursprache Romanes erprobt. Vermutlich ist dem Werk daher in der Tat ein Platz in der schwedischen und vielleicht auch in der transkulturellen Literatur sicher.

„Carl och Maximilian rakklade på övervägande romani. Detta honkade Olof tji van vid, för i hans uppväxt hade han mest hört svenska med romaniinslag, men nästan aldrig romani med inslag av svenska. Och aldrig ren romani.

Maximilian pennade till Carl: „Glaneske nukkon avar, tjakkes mandrom mostula bescha nevroa daxa prej hakket.“

„Develske dad! Honkar diro romni pari?“ frågade Carl.

„Ashi, miro phral! Li ashar nevreske-pari.“

„Vorsnos nukkoar ashar vorsnos sass“, pennade Carl.

„Dolle honkar sosti vorsnos sastot tradrar prej romano-dromen“, pennade Maximilian.

Olof försökte följa med i samtalet. Kanske om han nickade på något ställe? Eller såg intresserad ut när Maximilian rakklade. Han hade lärt sig hur Carls ansikte såg ut precis innan han kom till slutklämmen på en rolig historia och på detta vis förstod han när han skulla skratta. Snart övergick samtalet till övervägande svenska, för både Maximilian och Carl kände sig tryggare att rakkla på detta mål.“ (S. 234)

[Carl und Maximilian unterhielten sich fast durchgehend in Romanes. Dies war Olof offensichtlich nicht gewohnt, denn während seiner Kindheit hatte er meistens Schwedisch mit Romanes-Einschlag gehört, aber fast nie Romanes mit schwedischem Einschlag. Reines Romanes kannte er gar nicht.

Maximilian erklärte Carl: „Glaneske nukkon avar, tjakkes mandrom mostula bescha nevroa daxa prej hakket.“

„Develske dad! Honkar diro romni pari?“ fragte Carl.

„Ashi, miro phral! Li ashar nevreske-pari.“

„Vorsnos nukkoar ashar vorsnos sass“, erklärte Carl.

„Dolle honkar sosti vorsnos sastot tradra prej romano-dromen“, erklärte Maximilian.

Olof versuchte dem Gespräch zu folgen. Vielleicht sollte er ab und zu nicken? Oder interessiert schauen, wenn Maximilian erzählte. Er hatte schon gelernt, wie Carls Gesicht aussah, wenn er bei der Pointe einer lustigen Geschichte angekommen war, und daher war ihm klar, wann er lachen musste. Bald ging das Gespräch mehr und mehr ins Schwedische über, denn sowohl Maximilian als auch Carl fühlten sich sicherer, wenn sie in dieser Sprache redeten.]

Mittels dieser Passage werden nicht nur Nuancierungen eingeführt, die anschaulich von monolingualen Kategorisierungen wegführen, sondern auch eine ironisch anmutende Distanzierung ermöglicht: Ein durchgehender Dialog auf Romanes wird als Imponiergehabe von Halbstarken relativiert und das Konstrukt „reines Romanes“ vorausschauend in Frage gestellt, beinahe wie um Analogien zu Nationalsprachen oder naive Sprachutopien im Vorfeld auszuschließen, die sich im Zuge einer Romanes-Revitalisierung womöglich ergeben könnten. Indem eingeräumt wird, dass mehrere Varietäten bereits um 1950 selten verwendet wurden, verbinden sich die Geschichte vom Verfall einer Familie mit der Beobachtung eines Sprachverlusts in der Diaspora. Die historische Rückverlegung der Handlung täuscht allerdings über den Domänenverlust der Varietäten hinweg und klammert damit das Thema der Sprachentwicklung im Zeichen gesellschaftlicher und technisch-medialer Modernisierung aus.

Das Kalkül einer angemessenen Progression beim Spracherwerb während der Lektüre geht also fast vollständig auf, nur wenige Zeilen bleiben unverständlich. Die Formen der Deklination und Konjugation sind interessanterweise analog zum Schwedischen gebildet (tjuringen, nukkoar oder rakklade), auch die Syntax wird beibehalten, womit der Autor ein bewährtes Verfahren aus mehrsprachigen Werken einsetzt und die exotischen Elemente auf den Wortschatz (Lexik) konzentriert. Im Internet lassen sich nur wenige Wendungen finden, der erste Treffer ist ohnehin meist die Google-Book-Version des Romans – nicht weiter verwunderlich, da Lundberg einige Schreibformen mündlicher Ausdrücke tatsächlich erst neu eingeführt hat. Bezeichnenderweise leiten die eingegebenen Wörter aber auch zu Homepages von Interessengruppen oder Privatpersonen, die sich der släktforskning (Familienforschung) widmen, auf die auch Lundberg bei seinen Vorarbeiten zurückgegriffen hat.

Maßgebliches Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Romagruppe ist weniger der gemeinschaftsstiftende Sprachgebrauch, sondern eine ethnische Selbstdefinition. Die Rekonstruktion des im Roman leitmotivisch vom Erzähler und den Figuren genannten „ursprung“ wird somit als identitätspolitische Notwendigkeit dargeboten. Die Möglichkeit einer Selbstzuschreibung oder eines Beitritts zur Community, die sich nicht über den Ursprung herleitet, scheint kaum gegeben. Vor diesem Hintergrund betrachtet ist die historische Schwerpunktsetzung des Werks etwas problematisch: Indem der Roman seine Handlung explizit auf einen historischen Zeitraum begrenzt (1949−1955), stellt sich die Frage, ob die zahlreichen Kommentare des meist auktorialen Erzählers zum Recht der Romagruppen auf eine eigene, sowohl biographische als auch gruppenspezifische und kollektive „Erzählung“ zu sehr damaligen Denkfiguren verpflichtet bleiben. Die Einschübe in Romanes und das ornamenthafte Sprechen in Zitaten oder Sprichwörtern führen dazu, dass För vad sorg och smärta inhaltlich und stilistisch Anachronismen pflegt, was beispielsweise die Kritik am Machismo abzuschwächen droht. Der historistische Gestus ist durchaus beabsichtigt, denn im Nachwort teilt Lundberg mit, welche Literatur aus den 1930er und 1940er Jahren er zitiert und paraphrasiert hat (vgl. S. 363), und fügt die aufschlussreiche Bemerkung hinzu, dass sein Roman in eben diesen Jahrzehnten hätte erscheinen sollen. Damit gibt sich das Werk als nachträglich verfasste Emanzipationserzählung, ganz im Sinne eines Pastiches der berühmten Statare-Romane (von u.a. Harry und Moa Martinson, Ivar Lo-Johansson, Eyvind Johnson). Lundberg liefert also einen literaturgeschichtlichen Beitrag nach, der zudem eine Rückverlängerung und Kontinuitätsvergewisserung der Kulturgeschichte skandinavischer Romagruppen leisten soll. Der Erzähler, dessen Legendenüberblicke oft die Kapitel einleiten, verwendet parallel zum historischen Vokabular aber auch neuzeitliche Begriffe wie „Mobilität“ oder „Initiation“, d.h. die Geschichtsrückverlängerung soll im Erscheinungsjahr 2016 einsetzen: „att leva i nuet är att återberätta det förflutna“ („in der Gegenwart zu leben bedeutet, die Vergangenheit zu erzählen“, S. 19). Lundberg setzt dabei auf eine starke Autorschaft. Die historistisch-ethnographische Vorgehensweise bei der schöpferischen Sprachrekonstruktion und der mal feierlichen, mal übermütigen Inszenierung des Erzählschatzes bietet fließende Übergänge zum Folkloristischen. Die Gefahr des Ethnokitsches wird jedoch durch die grotesken Gewaltschilderungen, die hyperbolische Rhetorik und den ironisierten Selbstexotismus einiger Figuren gebannt.

För vad sorg och smärta stellt einen wichtigen Beitrag zum Thema „utanförskap“ (Exklusion) dar, das gerade im Erscheinungsjahr des Romans in der schwedischen Öffentlichkeit breit diskutiert wurde. Die historische Einkapselung durch den recherchebedingten Fokus auf die Jahre um 1950 lässt die Handlung museal erscheinen, auch wenn diese durch die variantenreichen Anekdoten und das eingearbeitete mündliche Literaturkorpus als historistisch ausgewiesen ist. Das Niedergangsnarrativ und der Appell zur minderheitensprachlichen Revitalisierung stehen dabei in einem ungelösten Spannungsverhältnis. Wird Romanes in einer schriftlichen Standardvarietät benötigt, um eine zukunftsweisende Literatursprache für die fortzusetzende, existenziell wichtige Erzählung – auch der zur Repräsentation der „romanoa“ dienenden Erzählungen – zu etablieren? Soll eine Varietät, womöglich die angeblich älteste nordische Romanes-Varietät standardisiert und zum Leitstern dieser Literatursprache werden? Der Status als Kunstsprache müsste von Rezensenten und Forschenden sehr viel stärker herausgestellt werden – hier sollte man von der Debatte lernen, die über Jonas Hassen Khemiris Ett öga rött (Kamel ohne Höcker, 2003) und die angebliche Verwendung des „rinkebysvenska“ geführt wurde (seine Literatursprache wurde irrigerweise als migrantischer Soziolekt eines Stockholmer Vororts eingeordnet). Möglicherweise lösen Werke wie diese, die als literarische Ausdrucksformen der Glokalisierung gelten können, in der ersten Rezeptionsphase das Bedürfnis aus, vergewissernde Re-Territorialisierungen anzuleiten. Indem die Gebiete, in denen die Varietäten von Romanes bzw. romani chib einst verbreitet waren oder es heute noch sind, in För vad sorg och smärta geographisch oder landschaftlich bestimmt werden, entsteht immerhin eine Art Sprachkarte über die betreffenden skandinavischen Regionen.

Lundberg liefert eine Gegenerzählung aus der Perspektive der Subalternen nach. Indem die geschilderten Romagruppen schon in der Anfangszeit des schwedischen folkhem aus der gesellschaftlichen, sozialen, politischen und technischen Modernisierung sowie aus dem Bildungsprojekt – als Schlüssel für den Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten – nachdrücklich ausgeschlossen wurden, schien deren Partizipation für Jahrzehnte verhindert, mit Folgen bis heute. Lundbergs Roman spitzt den Handlungsverlauf auf sechs katastrophale Jahre zu, die deutlich von der Rassenhygiene und dem Holocaust geprägt sind, stellt aber nur in den neuzeitlichen Begriffen der Erzählerkommentare überhaupt einen Bezug zu heutigen Lesenden her. Ist der historische Stoff brisanter als die aktuelle drastische soziale Ungleichheit oder andere, zugegebenermaßen unübersichtlichere Konfliktfelder? Zunächst einmal ist wohl ein wichtiges Teilziel erreicht, die literarische Repräsentation mit der Vision einer politischen Repräsentanz. Lundbergs Experiment, den Handlungsverlauf mit einer Sprach(re)vitalisierung während der Lektüre zu verknüpfen, ist ebenfalls bemerkenswert.

Thom Lundberg: För vad sorg och smärta. Bonniers: Stockholm, 2016.
(Antje Wischmann, Wien)

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Nationale Traumata zum page-turner verarbeitet: Jan Kjærstads Berge (2017)

(Ein Beitrag von Ingvild Folkvord und Anne Gjelsvik)

„Terror […]. Schließlich kam er auch hierher, liest man auf der ersten Seite von Jan Kjærstads neuem Roman Berge. Wie so vieles andere findet die Formulierung ihren Resonanzraum in einem historischen Ereignis. Schnell bekommt man den Eindruck, dass sich der Roman in das einschreibt, was man in Norwegen „22.-juli-litteraturen“ (die Literatur zum 22. Juli) nennt. Es dreht sich bei dieser Literatur um literarische Versuche, den Terrorangriffen, die das Land 2011 erleben musste, eine Form zu geben, die Sprache dazu zu bringen, ein Ereignis zu fassen, das zunächst nicht fassbar erschien. Am 22. Juli 2011 detonierte die Bombe des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik im Regierungsviertel in Oslos Zentrum. Hier tötete er acht Menschen und verwundete 200. Danach setzte er seine ideologisch motivierte Terroraktion in einem politischen Jugendlager auf der Insel Utøya vor Oslo fort. Hier tötete er weitere 69 Menschen, die meisten im Alter zwischen 14 und 21 Jahren.

Viele norwegische Rezensionen platzierten Kjærstads Berge innerhalb dieses Rahmens, sie haben ihn als Literatur zum 22. Juli wahrgenommen. Der Roman unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich von seinen Vorgängern desselben ‚Genres’. Vor allem erzählt er seine Geschichte aus einem ganz anderen Antrieb heraus als viele der belletristischen Texte, die die Terrorangriffe als traumatische Erfahrungen thematisieren, wie z. B. Karl Ove Knausgårds Band 6 von Min kamp (2011 – dt. Kämpfen, 2017) oder Brit Bildøens Sju dager i august (2015 – Sieben Tage im August). Während Knausgård und Bildøen mit Einfühlung und Gedenken arbeiten, haben wir es bei Kjærstad mit einem sehr viel spannungsgeladeneren Plot zu tun. Was man als Leser der ersten Seiten für einen Terroranschlag hält, stellt sich als eine ganz andere Gewalttat heraus, deren Täter nie eindeutig überführt werden konnte. Bis hin zum eleganten offenen Schluss erscheint der Roman wie eine virtuos erzählte und gelehrte Kriminalgeschichte.

Die Gewalttat der Fiktion – der Mord an einem norwegischen Politiker und seiner Familie – spielt sich im Sommer 2008, also zeitlich vor der wirklichen Terrortat 2011 ab. Die Formulierungen, mit denen die Reaktionen auf diese Morde beschrieben werden, beziehen sich jedoch direkt auf die Reaktionen, die der tatsächliche Terrorangriff in der norwegischen Öffentlichkeit in der Zeit nach dem 22. Juli 2011 generierte. Man bekommt den Eindruck, dass Berge als Zeitroman gelesen werden will – und als kunstvolle Konstruktion.

In den drei umfangreichen Kapiteln des Romans haben drei deutlich unterschiedliche Figuren das Wort: Eine junge Journalistin, ein älterer Richter und zum Schluss die Titelfigur Nicolai Berge. Diese übergeordnete Erzählstrategie veranlasst den Leser zu einer aktiv vergleichenden Deutungsarbeit: Man muss sich zu den verschiedenen Versionen der Wirklichkeit verhalten und nachvollziehen, wie die Handlungsstränge zu einem größeren Ganzen verwoben werden. Am Anfang steht der Mord an dem bedeutenden norwegischen Politiker Arve Storefjeld und an seiner Familie in einem Wochenendhaus am See Blankvann im Norden von Oslo. Für die Journalistin stellt sich das Ereignis als eine Erzählung dar, die man nur richtig perspektivieren muss, um sie verkaufen zu können. Deshalb sucht sie die Titelfigur Nicolai Berge auf, den Ex-Liebhaber von Storefjelds Tochter, Jungpolitiker, Autor – und was noch mehr? In Ine Wangs Erzählung wandelt er sich von einem Interviewpartner, der ihr möglicherweise zu einem „scoop av dimensjoner“ (S. 56 „echten scoop“) verhelfen kann, zu einem Sexualpartner, dann zu einem Verdächtigen, der die Morde am Blankvann verübt haben könnte, bis er schließlich zum Vater des Kindes wird, mit dem sie schwanger ist.

Dieser Teil des Romans funktioniert am besten. Das Spiel des Textes mit den Reaktionen der norwegischen Öffentlichkeit auf den Terror des 22. Julis bringen einen ins Grübeln. Die Beschreibungen wecken Erinnerungen und fordern die Lesenden heraus, abzuschätzen, welche Erinnerungen, welche Bilder sich bei ihm oder ihr festgesetzt haben. Hier führt Kjærstad Klischees und Sentimentalität aus einem durch die Massenmedien vollzogenen nationalen Trauerprozess vor. Aus der Perspektive der Journalistin Ine Wang wirken die Gedenkkonzerte, Rosenzüge und Trauerreden eher hohl und sie hegt den Verdacht, dass sie nur etwas viel Authentischeres überdecken:

„[T]tankene [flyter] til et av de mange ‘visdomsordene’, skapt av unge mennesker, som har spredt seg etter 23. august og som har blitt omfavnet og sitert i mediene som om de kunne ha stått i Salomos ordspråk: ‘De kom med hat, vi svarte med kjærlighet’. Selvfølgelig det rene nonsens når man tenkte etter. Sannheten er at folk ville flådd disse terroristene hvis de fikk sjansen” (S. 96 – „Die Gedanken fließen zu einem der vielen ’weisen Worte’, die von jungen Menschen geschaffen wurden, sich nach dem 23. August verbreitet haben und von den Medien begrüßt und zitiert wurden, als wenn sie aus den Sprüchen Salomos stammten: ’Denen, die mit Hass kamen, antworteten wir mit Liebe’. Selbstverständlich der reine Nonsens, wenn man darüber nachdachte. Die Wahrheit ist vielmehr, dass die Leute diese Terroristen gelyncht hätten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen hätten”).

Auch wenn der Roman eine andere Gewalttat erzählt, entwickelt sich der Text ganz dicht am frühen kollektiven Bearbeitungsprozess nach den Terrorangriffen 2011 entlang. Auf diese Weise etabliert er eine queere Perspektive auf die selbstgerechten Tendenzen in einer nationalen Identitätsarbeit, die sich darum bemüht ein friedliches „Wir“ im Gegensatz zum gewalttätigen Anderen zu konstruieren. Gleichzeitig arbeitet der Text eine Art Vitalität heraus, eine Energie, die aus dem Erlebnis des Plötzlichen, des Unerwarteten entsteht: „Men nå. Noe skjer. Noe som er annerledes. Søndag morgen våknet et fredfullt land opp til nyheten om …“ (S. 11 – „Aber jetzt. Etwas geschieht. Etwas ist anders. Am Sonntagmorgen erwachte ein friedliches Land und erfuhr die Nachricht, dass …“

Der kursivierte Satz stellt die vereinfachenden Phrasen der Massenmedien aus. Der Roman zitiert auch Lieder, die in den Trauerritualen nach dem 22. Juli wichtig wurden, erzählt von Gedenkveranstaltungen und Rosen, etabliert implizite und explizite Bezüge zu Politikern der norwegischen Arbeiderpartiet und zu ihrer Jugendorganisation AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking, dt.: Arbeiter-Jugendliga). Kjærstad spielt außerdem durchgehend auf der Klaviatur der Erinnerungen, die der informierte Leser an Utøya und das Regierungsgebäude als Tatorte des Terrors hat. In seiner Fiktion sind diese Orte offensichtlich noch unbelastet, wenn etwa Ine Wang im Vestibül des Regierungsgebäudes sitzt und arbeitet oder wenn Nicolai Berge sich an Gespräche erinnert, die er auf Utøya führte. Für den Leser sind die beiden Orte jedoch aufgeladen, sie sind aufdringlich präsent aufgrund der Erinnerungen und Assoziationen, die sie wecken.

In der lesenden Auseinandersetzung mit diesem ausgedehnten Gebrauch des historischen Ereignisses als Material im Spiel der Fiktion wirken besonders zwei Aspekte problematisch. Der eine betrifft die textinterne Logik in Kjærstads Plot: Der Roman gibt sich realistisch und auf dieser Grundlage fragt man sich als Leser, ob die kollektiven Reaktionen, die der Roman durchgehend problematisiert, denn auch plausibel als Antwort auf einen Politikermord sind. Dass die Reaktionen nach dem 22. Juli 2011 so massiv ausfielen, lag daran, dass viele direkt betroffen waren oder sich berührt fühlten vor allem, weil so viele junge Menschen derart brutal ermordet wurden. Genau diese Reaktionen werden in Kjærstads Roman zitiert, paraphrasiert und dekonstruiert, doch eben als Reaktion auf etwas ganz anderes. Der zweite problematische Aspekt besteht in dem Eindruck, dass reale traumatische Erfahrungen als Bausteine in einer Konstruktion verwendet werden, die nichts viel anderes bezweckt als den Aufbau von Spannung. Der Roman scheint fast von seiner eigenen Medienkritik getroffen zu werden, als Text, der aus der Katastrophe Nutzen zieht.

Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Titelfigur und auf die Morde am Blankvann werden im zweiten Teil des Romans weiterentwickelt, in dem der Jurist und Richter Peter Malm spricht. Während die Figur der Journalistin zeitgemäß und glaubwürdig erscheint, wirkt der Richter hingegen anachronistisch sowohl durch seine Gewohnheiten wie durch seine Sprache. Malm „flaniert“ von einer exklusiven Bar in Oslo zu seiner abgelegenen Wohnung, wo er einen Long Island Ice trinkt, während er Civilisation, die Dokumentarserie der BBC aus den 1960er Jahren, auf DVD sieht; er arbeitet an einem Opus Magnum über das ABC der Gerechtigkeit (Rettferdighetens ABC) und beschreibt Frauen als Arabesken. Diese Typenzeichnung schwächt die psychologische Einfühlung, die der Autor im ersten Teil des Romans angelegt hat, und man fragt sich, wie diese Figur einzuordnen ist. Aufgrund der ausführlichen intertextuellen Referenzen, des Spiels mit den Orten der Handlung und nicht zuletzt mit bedeutungstragenden Namen meint man, man wäre zu einem allegorischen Lesen aufgefordert.

Gleichzeitig aber liegt auch dieses zweite der drei Kapitel nahe an der Wirklichkeit. Sowohl der Mediendruck auf das Gerichtsverfahren, das Bemühen darum, einen würdigen Prozess hinzubekommen, sowie die Vorstellung vom Täter als bösem Rätsel spielen auf den öffentlichen Diskurs zur realen Gerichtsverhandlung gegen Breivik im Frühling 2012 an. Während dieser in Saal 250 des Oslo Tinghus (Gericht Oslo) stattfand, hat Kjærstad ‚seine’ Verhandlung gegen Nicolai Berge in Saal 227 gelegt. So spielt die Saalnummer der Fiktion mit dem Datum des Terrorangriffs, dem 22.7.2011, und trägt so zu einer Art doppelter Datierung bei: Die fiktive Handlung liegt zeitlich vor dem historischen Ereignis im Sommer 2008, wohingegen der Text gleichzeitig klarmacht, dass man den Angeklagten Nicolai Berge trotzdem als Nachfolger oder als Parallelfall lesen soll. Man versteht ihn im Lichte der Informationen und Erzählungen über Anders Behring Breivik, die der norwegischen Öffentlichkeit erst durch den Prozess zugänglich wurden. Breiviks Leben wurde gründlich in rechtspsychologischen Gutachten, Dokumentationssendungen und Büchern ausgeleuchtet. Überall standen die Fragen im Zentrum, wie er werden konnte, was er war, was er fühlte und was er dachte. Eine der bestimmenden Darstellungen, die auch die deutschsprachige Öffentlichkeit erreichte, ist Åsne Seierstadts Sachbuch Einer von uns: Die Geschichte eines Massenmörders (2016 – auf Norwegisch 2013).

Im dritten und letzten Teil des Romans spricht Nicolai Berge selbst. Seine Erzählung wird dominiert von einem Rückblick auf seine Kindheit, auf seinen politischen Aktivismus in AUF, aber nicht zuletzt auch auf das Verhältnis zur getöteten Geliebten Gry Storefjeld sowie von der Frage, wie er als Personifikation des Bösen im Gerichtssaal landen konnte: „Det er bare meningsløst. Jeg prøver igjen og igjen å finne en forklaring på hvorfor jeg sitter i rettsal 227 og ikke utenfor, på en benk i Studenterlunden, eller ved skrivebordet hjemme …“ (S. 303 – „Das macht doch keinen Sinn. Ich versuche wieder und wieder eine Erklärung dafür zu finden, warum ich im Gerichtssaal 227 sitze und nicht draußen, auf einer Bank im Park Studenterlunden oder am Schreibtisch zu Hause …“). Auch an dieser Stelle werden Bilder des Terroristen Behring Breivik aktualisiert, besonders wenn Berge als ausdruckslos oder schwer zu lesen beschrieben wird. Während sich die Medienaufmerksamkeit hauptsächlich auf den Angeklagten Breivik als Gegenstand der Deutung konzentrierte, gibt Kjærstad seinem Angeklagten eine Gestalt, eine Stimme und ein inneres Leben. So vermittelt er, wie es ist, von anderen gedeutet zu werden, Gegenstand der Projektionen anderer zu sein, und gleichzeitig selbst ein Bedürfnis zu haben, sich frei durch die Schrift auszudrücken.

Denn Nicolai Berge ist auch Autor, und während Ine Wang schreibt, um sich lebendig zu fühlen und um beachtet zu werden, und Peter Malm, um rechtsphilosophische Probleme darzustellen, hat Berge umfassendere literarische Ambitionen. Er sucht „det punktet i en historie der innholdet vred seg og ble noe annet enn leseren hadde trodd“ („den Punkt in einer Geschichte, an dem sich der Inhalt drehte und zu etwas anderem wurde, als es der Leser geglaubt hatte“), und zielt darauf ab, å „skrive frem alternative årsakssammenhenger, dytte ting ut av sine vante posisjoner, vise at det meningsfulle kunne skjule noe skremmende eller absurd“ (S. 337 – „alternative Ursache-Folge-Zusammenhänge hervorzuschreiben, Dinge aus ihrer gewohnten Position zu schubsen, zu zeigen, dass das Sinnvolle etwas Erschreckendes oder Absurdes in sich bergen könnte“). Er erzählt von seinen Ideen für Bücher und Blogs und ganz wie der Autor Kjærstad hat auch der Autor Berge eine Vorliebe für intertextuelle Anklänge und das Spiel mit Namen. Die belletristischen Referenzen sind zahlreich in diesem dritten Kapitel, aber auch sonst im Roman. Hier finden wir Thomas Bernhard Seite an Seite mit Franz Kafka, wiederholte Bezüge zu Coleridge und zu Charles Dickens’ Bleak House. Diese Verweise könnte man als Versuch des Romans auffassen, etwas über sich selbst als Literatur und über das Potential der Fiktion zu sagen. Solche Lesestrategien setzen jedoch ein Vertrauen voraus, dass der Text auch tatsächlich etwas Wesentliches über sich selbst zu sagen hat.

Multiperspektivisch und zeitweise elegant und spannend thematisiert Kjærstads Roman die Presse, das Recht und die Literatur als unterschiedliche kulturelle Praxisformen. Wie tragen sie dazu bei, traumatische Ereignisse zu prozessieren? – so könnte man fragen. Dazu hat der Roman etwas zu sagen, jedoch weniger, als man es nach der Lektüre des ersten Teils erwarten könnte. Er perspektiviert das Bedürfnis der Massenmedien nach Sensationen und Tragödien, die Arbeit des Rechts an der klaren Trennung von Gesetzeskonformem und Gesetzeswidrigem und die Möglichkeit der Literatur, ein komplexeres Verständnis der Wirklichkeit zu erschaffen. Aber genauso stark wird die Lektüre von einer krimiähnlichen Dynamik vorangetrieben: Wer ist der Täter? Die Fiktion bezieht ihren Stoff aus einem traumatischen Ereignis, das noch immer im Bewusstsein vieler norwegischer Leser und Leserinnen lebendig ist. In dieser Hinsicht trägt der Roman zur Ausbildung neuer Perspektiven bei, aber vor allem dazu, dass man sich fragt, wozu er diesen Stoff denn eigentlich einsetzen will? Kjærstads Roman handelt vielleicht vom 22. Juli, aber er bearbeitet die emotionale und politische Bedeutung, die diese Ereignisse in der norwegischen Öffentlichkeit bekommen haben, nur in sehr geringem Umfang. Stattdessen erscheint das Spiel mit der Wirklichkeit unverbindlich und der Roman trägt nicht eigentlich zu einem tieferen Verständnis der Tragödie bei. Um es anders zu sagen: Jan Kjærstad nimmt Anleihen bei einem nationalen Trauma, ohne jedoch die Zinsen zurückzahlen zu können.

Jan Kjærstads: Berge, Aschehoug: Oslo, 2017.
(Ein Beitrag von Ingvild Folkvord und Anne Gjelsvik,
Übersetzung von Joachim Schiedermair, Greifswald)

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She’s (not) there. Anne-Caroline Pandolfo u. Terkel Risbjerg: Løvinden. Et portræt af Karen Blixen (2017)

Einer anderen Löwin zum Geburtstag

‚Biopic’ hat sich als Bezeichnung für Spielfilme etabliert, die entscheidende Momente im Leben historischer Persönlichkeiten fiktional aufbereiten. Seine Anfänge hat das Genre bereits in der Zeit des Stummfilms, doch derzeit blüht es in Hollywood wie nie zuvor: The Iron Lady (2011), Lincoln (2012), Steve Jobs (2015), Jackie (2016), Florence Foster Jenkins (2016) über die wohl schlechteste Sängerin der Welt, The Danish Girl (2015) über eine der ersten Geschlechtsumwandlungen; nicht zu vergessen I’m not there (2007), das Anti-Biopic des Regisseurs Todd Haynes, in dem gleich sechs Schauspieler Bob Dylan ihr Gesicht geben; die Montage von mehreren inkompatiblen Dylans entspricht der quecksilbrigen Wandlungsfähigkeit des Dargestellten; was für das Biopic von der Stange wie das Eingeständnis des Scheiterns klingt, nimmt jede einzelne der sechs Sequenzen wie der ganze Film ironisch für sich in Anspruch: He’s not there.

Die Gattungsbezeichnung ‚Biopic’ ließe sich mühelos auch auf das Medium ‚Comic’ oder (wer es feiner mag:) das Medium ‚Graphic Novel’ ausweiten, nur würde das Biopic dann nicht ein biographical moving picture, sondern eine biographical picture sequence bezeichnen. Auch hier gibt es erfolgreiche Beispiele, etwa Logicomix (2009 von Apostolos Doxiadis, Christos H. Papadimitriou und Alecos Papadatos) über den Logiker Bertrand Russell oder – um ein skandinavisches Beispiel zu nennen – die norwegische Künstlerbiographie Munch (2013) von Steffen Kverneland. Wenn sich Anne-Caroline Pandolfo und Terkel Risbjerg nun Karen Blixen vornehmen, dann haben sie damit eine Person gewählt, deren Leben nicht weniger prismatisch schillert wie Bob Dylans. Bekannterweise war Blixen eine Meisterin der Selbstdarstellung, die für ihr Projekt der Autokreation die Massenmedien geschickt zu lenken wusste; sie beherrschte das Spiel mit Rollen und Masken – sowohl in ihren Novellen wie in ihrem Leben. Die Erwartung an ein Biopic sind deshalb hoch: Gelingt es dem Comic Løvinden. Et Portræt af Karen Blixen (dt.: Die Löwin. Ein Porträt von Karen Blixen) ähnlich wie Todd Haynes’ Dylanfilm, die Geschichte von Blixen zu veruneindeutigen und sie gerade dadurch angemessen zu erzählen? Kann man auch über die Karen Blixen des Comics sagen „She’s not there“?

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Was die Gestaltung von literarischem Material angeht, sind die Französin Anne-Caroline Pandolfo (für das Szenario) und der Däne Terkel Risbjerg (für die Zeichnungen) ein erfahrenes Paar: 2013 legten sie mit L’astragal eine Comicadaption des gleichnamigen Skandalromans von Albertine Sarrazin vor; bei der Veröffentlichung aus dem Jahr 2014 Le roi des scarabées (dän.: Skarabæernes konge, 2015) handelt es sich um eine eigene Version von Jens Peter Jacobsens kanonischem Roman Niels Lyhne; und aktuell liegt mit Perceval eine Bearbeitung des mittelalterlichen Ritterstoffes in den französischen Buchhandlungen. Auch das Blixen-Biopic erschien zunächst auf Französisch: La lionne. Un portrait de Karen Blixen (2015), und die Liebe des Duos zur ‚großen’ Literatur zeigt sich nicht nur in der Wahl des Stoffs, sondern auch in der Geschichte selbst: Brandes, Strindberg, Shakespeare, Nietzsche und einige Schriftsteller mehr treten auf; originellerweise darf Kierkegaard sogar mit der jungen Karen ‚Tanne’ Blixen Ibsens Et Dukkehjem (dt.: Nora. Ein Puppenheim) aufführen.

(S. 54 – dt.: „So fand Tanne in den Büchern Seelenverwandte. Die Bücher wurden ihre wahren Lehrer, und das Lesen wurde in gleicher Weise zum autobiographischen Material wie die aller wirklichsten Begebenheiten und Begegnungen.“)

So präsent also die Literatur ist, Blixens berühmte Erzählungen selbst verschwinden hinter ihrer Biographie fast vollständig. Der Comic erzählt das Leben der Dänin in drei Kapiteln: eines über ‚Tannes’ Kindheit, die Identifikation mit dem Vater Wilhelm Dinesen und dessen frühen Tod, über ihre Lektüren, den Versuch, Malerin zu werden und die Begegnung mit den Brüdern Blixen-Finecke; ein Kapitel über das Afrika-Intervall der Baronin Blixen-Finecke; und schließlich nach dem Bankrott der kenianischen Farm und der Rückkehr auf den dänischen Herrenhof Rungstedlund ein Kapitel über die Erfindung des Isak Dinesen, des Pseudonyms, unter dem Blixen ihre Bücher auf dem englischsprachigen Buchmarkt veröffentlichte, sowie über ihren schriftstellerischen Erfolg; Blixen wird zu der exzentrischen Ikone, die die Medien und ihr Publikum um die dünnen Finger wickelt, während sie gleichzeitig elegant mit einer Zigarette spielt: Und so kommt es zur Versöhnung mit dem zuvor als beengend erlebten Rungstedlund.

(S. 179 – dt.: Gerade in diesem Winkel der Natur, in dem sie geboren war, … / … schlug sie schließlich Wurzeln.)

Ganz der Selbstinszenierung der realen Karen Blixen entsprechend wird das Scheitern nach dem afrikanischen Intervall zur Voraussetzung der schriftstellerischen Tätigkeit und damit zur Peripetie des Biopics: „Djævlen har givet mig evnen til at forvandle mit liv til historier“ (S. 157 – „Der Teufel hat mir die Fähigkeit gegeben, mein Leben in Geschichten zu verwandeln“). Deshalb muss man sich als Leser wundern, dass diese Geschichten selbst kaum eine Rolle in Pandolfos und Risbjergs Biopic spielen. Auf den 190 Seiten sieht man Blixen nur auf einigen wenigen Bildern im letzten Kapitel an ihren Büchern schreiben, hinzu kommen noch vier Seiten im Afrikakapitel, in denen sie das (mündliche) Erzählen als Mittel entdeckt, um Denys Finch Hatton an sich zu binden. Doch auch hier sieht man nur die Erzählerin, nicht aber, was sie erzählt. Nur einmal, im allerletzten Bild, legt Pandolfo ihrer Karen Blixen den letzten Satz von Kardinalens første Historie in den Mund, einer der Novellen aus dem Band Sidste Fortællinger/Last Tales (1957). Von einer solchen Verschmelzung von fiktionalen und (auto)biographisch-faktualen Texten im Medium des Comics hätte man sich mehr gewünscht.

Fiktionalisiert wird das biographische Material vor allem durch die Rahmung. Den drei Kapiteln geht nämlich ein Prolog voraus, in dem sieben Feen um die Wiege der gerade geborenen Tanne stehen und wie im Märchen ihre Segnungen über dem Kind aussprechen: Shakespeare, Nietzsche, ein Löwe, Scheherazade, der Teufel, ein Massaikrieger und ein Storch. Alle melden sich auch im Laufe des Biopics immer wieder zu Wort, wobei der Teufel und der Storch besonders großen Raum bekommen. Wer Blixen gelesen hat, dem fällt es nicht schwer, diese Figuren oder das, wofür sie stehen, wiederzuerkennen und sie der Ästhetik zuzuordnen, die sich in Blixens Erzählen ausdrückt: Der Löwe, der Krieger und der Storch sind prominent in Out of Africa vertreten; die orientalische Geschichtenerzählerin, die um ihr Leben erzählt, war eine Figur, mit der sich Blixen identifizieren konnte; den Teufel nannte sie ihren Freund, bei dem sie ihre Sexualität gegen die Fähigkeit eingetauscht hatte, ihr Leben in Erzählungen zu verwandeln; Nietzsches „Ich bin ein Ja-Sager, und ein Kämpfer war ich“ erhob sie in einer bestimmten Phase zu ihrem Lebensmotto. Und Shakespeare liebte sie ein Leben lang (und zeichnet u.a. Illustrationen zu seinem Sommernachtstraum). Über den Umweg der Feen wird der Comic eben doch ein Text – wenn auch nicht über die Literatur der Dänin – so doch über die Pfeiler ihrer Phantasie und über deren intertextuelle Verwobenheit.

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Dass so wenig von Blixens Erzählungen Eingang in den Comic gefunden hat, bedauert auch Søren Vinterberg in seiner Rezension in der Tageszeitung Politiken (3. Juli 2017): „Havde Pandolfo og Risbjerg givet de syv feer mere plads, havde mere af Blixenes fortællinger måske også fået det“ („Hätten Pandolfo und Risbjerg den sieben Feen mehr Platz eingeräumt, wäre vielleicht auch mehr Raum für Blixens Erzählungen gewesen“). „Nu står fiktionen – som så ofte – i skyggen af forfatterens person“ („Jetzt steht die Fiktion – wie so oft – im Schatten der Person der Autorin“). Karen Blixen, so Vinterberg, hätte sich mit dem Comic wohl ein wenig gelangweilt.

Freilich macht das Biopic aus der Person Blixen einen Gegenstand der Verehrung, einer Verehrung noch dazu, die zusammengezimmert scheint aus Narrativen, die einer liberalen Gesellschaft lieb geworden sind, die man 2017 allerdings nur banal und abgenutzt nennen kann, wenn sie ungebrochen und kommentarlos daherkommen: So findet man die Geschichte vom kreativen Kind, das sich aus der Enge eines bürgerlichen Heims befreit; vom Aufbegehren gegen eine verbiesterte religiöse Autorität; von der begabten Frau, die in eine abgeriegelte männliche Domäne eindringt; kurz: die tausendfach erzählte Geschichte vom glorreichen Triumph der authentischen Individualität über alle Konvention: „At være sig selv er det vigtigste der findes“ (S. 53 – „Man selbst zu sein, ist das Wichtigste, das es gibt“).

Ganz auf dieser Linie könnte man etwa einen Dialog lesen, der sich am Anfang des Afrika-Kapitels entspinnt. Die Baronin trifft das erste Mal auf die Kikuyus, die auf ihrer Farm arbeiten, und stellt sich ihnen vor: „Ich bin Baroness Karen Blixen-Finecke, geborene Dinesen. […] Ich habe in meinem Heimatland nie Landwirtschaft getrieben, ich habe an der Akademie in Kopenhagen Kunst und Zeichnung studiert. Ich habe auch Sprachen gelernt, Englisch, Französisch, Deutsch … “

Die Kikuyus blicken sie begreiflicherweise nur stumm an. Schließlich rät Farah, ihr somalischer Diener und Vertrauter: „M’sabu … Sig hellere hvem du er …“ (S. 89 – „M’sabu … Sag lieber, wer du bist …), worauf sie antwortet:

(S. 89 – „Ja … … selbstverständlich …“)

Nun sei sie in Afrika und dort, so der Subtext, zähle nur, was man ist. Das Bild der nackten jungen Karen Blixen (, die natürlich nur in ihrer eigenen Vorstellung nackt dasteht,) kann man als Metapher der Entledigung vom europäischen Ballast nehmen. So liest man denn auch auf der folgenden Seite: „Konventioner og social succes betød intet for [… de sorte]. Foran dem var hun befriet for alt det, hun ikke ville være“ (S. 90 – „Konventionen und sozialer Erfolg bedeutete nichts für die Schwarzen. Vor ihnen war sie befreit von all dem, was sie nicht sein wollte“).
Wäre diese banale Erfolgsgeschichte starrsinnig behaupteter Identität alles, was der Comic leistet, dann kann man nur in einem ganz unironischen Sinn konstatieren: She’s not there!

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Will man Løvinden nicht der Lesart überlassen, der zufolge man nur sich selbst treu bleiben muss, um gegen alle Hindernisse zu größter Anerkennung zu gelangen, dann muss man das ironische Potential des Mediums Comic heben. Da der Comic aus zwei unterschiedlichen Codes zusammengesetzt ist, dem verbalen und dem ikonischen, zwingt das Medium bereits auf der ganz grundlegenden Ebene des Lesens dazu, sie beide in Harmonie zu vereinen, sie gegeneinander laufen zu lassen oder sonst irgendwie zueinander zu relationieren. Der Comic ist per se ein in hohem Grad schreibbarer Text (um den schönen Begriff von Roland Barthes wieder einmal aufleben zu lassen).

So ergibt sich aus dem oben gezeigten Bild der nackten jungen Frau eine gänzlich andere Erzählung, die derjenigen der einfachen Identität, die immer schon da ist und nur befreit werden muss, strikt entgegengesetzt ist – wenn man nur bereit ist, der den Bildern eigenen Kohärenz zu folgen. So ist die Zeichnung der entkleideten Karen Blixen ein Echo auf ein früheres Bild, auf dem der Comic bereits schon einmal eine nackte Frau zeigt. Es handelt sich um die Episode, in der Tanne an der Kopenhagener Akademie Malerei studiert. Dort löst sie sich aus der Gruppe weiblicher Eleven und schleicht in das Atelier, das männlichen Akademiemitgliedern vorbehalten ist. Sie tritt in den Saal, als gerade Aktzeichnen unterrichtet wird. Ihr Blick fällt mit den männlichen Malern auf das nackte Modell.

(S. 63 Bild 1, 2 und 5 – „Leidenschaft, Frederiksen!! […] … das arme Fräulein Lina!“)

Der nackte Körper vor den Kikuyus einige Seiten später ist also ein Echo auf diese Stelle, die ebenfalls einen nackten weiblichen Körper zeigt. Im Fall des Modells ist die Identität der Nackten jedoch völlig unwesentlich. Es geht nicht darum, wer ‚Lina’ im tiefsten Innern ist. Der Körper des Modells ist vielmehr nur Material, aus dem die Leidenschaft des Künstlers ein eigenes Kunstwerk formt – vielleicht macht er aus ihr eine Amazone, vielleicht eine Maria Magdalena. Das Bild der nackten Frau spricht also nicht die Sprache der Authentizität. Wenn die Szene im Atelier der Akademie in der Szene vor den Kikuyus wiederkehrt, dann muss letztere als der Moment gewertet werden, in dem Blixen ihr Leben als formbares Material erkennt, das – wie das Modell im Atelier – dem eigenen künstlerischen Willen unterworfen ist und seine Stimmigkeit aus der Zustimmung des Publikums erhält (im einen Fall des akademischen Lehrers, im anderen der der Kikuyus). Das Leben wird also zum Werk, zu etwas, das erst erfunden und bewusst gestaltet werden muss. In der Sprache, die die Bilder sprechen, ist Identität nicht vorgegeben, sondern sie wird zum Ergebnis künstlerischer Inszenierung. Diese Einsicht hat noch dazu eine gegenderte Pointe. Denn das Material der Inszenierung ist ein Frauenkörper, die Künstler aber – sowohl die im Atelier der Akademie, wie die verehrten Autoren von Brandes bis Shakespeare – sind allesamt männlich. In der Selbstinszenierung erreicht Blixen somit eines der Ziele, die sie sich unmittelbar nach der Akademieszene setzt; dort zieht sie Bilanz über ihr bisheriges Lebens: „Jeg er en kvinde. […] Hvad skal jeg gøre? […] Blive en mand.“ (S. 64 u. 65 – „Ich bin eine Frau. […] Was soll ich machen? […] Ein Mann werden.“) Entsprechend wählt sie im letzten Kapitel mit Isak Dinesen ein männliches Pseudonym (S. 158-159): Als Künstler ist sie ein Mann, als Gegenstand der künstlerischen Gestaltung ist sie eine Frau.
Verstärkt wird diese Lesart durch eine weitere Szene, die derjenigen in der Akademie unmittelbar folgt und in der ebenfalls Malerei und ihr gendering eine Rolle spielen. Dort besucht Tanne den adligen Zweig ihrer Familie und freundet sich mit der exzentrischen und freigeistigen Daisy an. Die Freundin zeigt ihr das Porträt ihrer Tante Agnes Frijs und klärt sie darüber auf, dass diese Tante und Tannes Vater Wilhelm Dinesen ein Liebespaar waren. „De var nærmest som Tristan og Isolde …“ (S. 68 – „Sie waren fast wie Tristan und Isolde …“)

(S. 68 Bild 4 – „Wie von einem Liebestrunk verhext, Orfeus und Eurydike … Romeo und Julia … Odysseus und Penelope …Heloïse und Abélard …“)

Im adligen Kontext wird vor dem Porträt in der Ahnengalerie also Identität gerade nicht als Befreiung von Vorgaben, sondern als kreative Übernahme einer Tradition, als das Eintreten in eine intertextuelle Reihe nachvollziehbar. In diese Reihe gehört auch Daisy. Durch das wallende rote Haar und das dunkelgefleckte Kleid verschmilzt sie mit der auf dem Porträt Dargestellten. Ihren Bezug zu Blixens Selbstinszenierungsprojekt bekommt sie über das Champagnerglas, mit dem sie auf fast jedem Bild dargestellt ist. Genau dieses Detail wird in der Afrikaepisode ein wichtiges Attribut in der Hand der Baronin Blixen und findet ihren Höhepunkt im Champagnerdinner mit Denys Finch Hatton am Lagerfeuer in der kenianischen Steppe (S. 110). Die Reihe von Tristan und Isolde bis zu Wilhelm Dinesen und Agnes/Daisy Frijs wird um das Glied Karen Blixen und Finch Hatton verlängert. Die authentische Identität, die nur auf ihre Verwirklichung wartet, verpufft hier ganz und gar.

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Pandolfos und Risbjergs „portræt af Karen Blixen“ bietet also mindestens zwei Gesichter. Das eine gehört einer etwas abgegriffenen Geschichte der Selbstfindung an, das andere ist die Geschichte der Selbstinszenierung, die auch die Karen Blixen der Literaturgeschichte ihrem Publikum über sich selbst erzählte. Wenn man über beide Geschichten sagen muss, dass Blixen in ihnen nicht anwesend ist (wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen), dann wäre der Comic vielleicht doch ein Beispiel für ein gelungenes Biopic: She’s (not) there.

Anne-Caroline Pandolfo u. Terkel Risbjerg: Løvinden. Et portræt af Karen Blixen, Fahrenheit: Kopenhagen, 2017.
(Joachim Schiedermair, Greifswald)

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