Christina Hesselholdt: Vivian (2016)

Buchcover Christina Hesselholdt VivianEin Interesse für Fotografie war schon in Christina Hesselholdts Debütwerk Køkkenet, gravkammeret & landskabet (1991) erkennbar, das sie zusammen mit den beiden Folgetexten der sog. Marlon-Trilogie zu einer der führenden Minimalistinnen der 1990er Jahre machte. Es überrascht daher nicht, dass sie in ihrem jüngsten Werk Vivian zur Fotografie zurückkehrt und dieser jetzt eine tragende Rolle gibt. Doch nicht nur in Bezug auf diese Thematik, sondern auch stilistisch und strukturell stellt dieser Text eine konsequente Fortsetzung von Hesselholdts bisherigem literarischem Projekt dar: Wiederum spielt die Erkundung der Kindheit und der Psyche eine große Rolle, wiederum sind ihre Figuren von Stummheit umgeben. Auch die ästhetischen Mittel sind in ihren vorhergehenden Werken bereits erprobt worden: Die fragmentarische Form und der mosaikartige Aufbau charakterisierten u.a. das autobiographische Buch Hovedstolen (1998), das Dialogische bestimmte die Struktur von Eks (1995) und ihrer jüngsten Serie über Camilla (2008-2012). Eine völlig neue Dimension bekommen die charakteristischen Mittel Hesselholdts, die bislang überwiegend autobiographisch fundiert waren, aber durch ihre Anwendung auf eine reale Biographie: die Lebensgeschichte Vivians Maiers.

»Vivian er en roman om den amerikanske gadefotograf Vivian Maier (1926-2009)« (Vivian ist ein Roman über die amerikanische Straßenfotografin Vivian Maier (1926-2009)), lautet der lakonische Klappentext auf der Rückseite des Buches. Der durch ihre Lebensgeschichte vorgegebene Stoff ist mehr als einen Roman wert: Allein der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über Maier enthält 7500 Wörter und 80 Fußnoten und bietet neben vielen Fakten auch Rätsel und Kontroversen bezüglich des Lebens und des Werks von Maier. Sie war die Tochter einer französischen Mutter und eines aus Österreich stammenden Vaters und wuchs in New York auf; einige Jahre ihrer Jugend verbrachte sie in Südfrankreich, im späteren Leben wohnte sie überwiegend in Chicago. Die Familienverhältnisse waren schwierig und von Armut geprägt, der Vater war Alkoholiker und verließ die Familie, als Vivian noch ein kleines Kind war; ihr jüngerer Bruder hatte zeitlebens mit psychischer Krankheit und Drogenproblemen zu kämpfen. In den 1940er Jahren begann Vivian Maier zu fotografieren, und bis zu ihrem Tod entstanden – so schätzt man heute – ungefähr 150.000 Fotografien, die vor allem das städtische Leben in New York und Chicago dokumentieren: Menschen, Gebäude, Alltagsszenen, spielende Kinder und auch eine Vielzahl ausdrucksvoller Selbstporträts. Als bedeutende Vertreterin der sog. street photography wurde Maier jedoch erst nach ihrem Tod entdeckt, vorher hatte niemand ihre Bilder zu Gesicht bekommen. Ein sehr großer Teil der enormen Zahl ihrer Fotos war nicht einmal entwickelt worden: Bei einer Zwangsversteigerung im Jahre 2007 wurden die bislang unbekannten Filmrollen entdeckt und 2008 erstmals zugänglich gemacht. Seitdem hat es etliche Werkausstellungen gegeben, eine rege Maier-Forschung, aber auch umfassende Rechtsstreitigkeiten über den Nachlass und künstlerische wie finanzielle Kontroversen über die Vermarktung des Werks.

Der letztgenannte Aspekt liegt außerhalb des Fokus von Hesselholdts Darstellung. Sie interessiert sich auch kaum für die technischen Seiten der Fotografie, Maiers Kameras, ihre ästhetische Entwicklung (während der überwiegend Teile ihrer Bild Schwarz-Weiß- Fotografien sind, arbeitete sie in späteren Jahren auch mit Farbe) oder ihre Experimente mit Licht, Spiegeln oder Bildbegrenzungen. Ihr Interesse liegt eindeutig auf der biographischen Darstellung, die aus einem Mosaik von Stimmen hervorgeht, in dem neben der Hauptfigur Vivian u.a. ihre Mutter, eine Tante, die Fotografin Jeanne Bertrand, bei der Mutter und Tochter zeitweise gewohnt haben, eine Rolle spielen. Durch die Zersplitterung der Annäherung entsteht ein Bild von Maiers Leben, das das Vielschichtige und Enigmatische ihrer Persönlichkeit mit den vielen Namen (Viv, Vivian, Kiki, Miss Maier, V. Smith) zu bewahren versucht. Großen Raum in dem mehrstimmigen Szenario erhält die fiktive Familie Rice (Peter, Sarah und die Tochter Ellen), die für eine der Familien steht, bei denen die reale Vivian Maier als Kindermädchen arbeitete. Über viele Jahre hinweg bestritt die Einzelgängerin so ihren Lebensunterhalt: Mit geringem Einkommen, aber in gutsituierten Familien lebend, verbrachte sie ihre Tage mit deren Kindern, was ihr erlaubte, die Stadt zu durchstreifen und unablässig zu fotografieren. So sammelte sie Gesichter, Situationen, Porträts, Stadtbilder und Armutsszenen, aber sie sammelte auch alte Zeitungen, Quittungen, Koffer, Schachteln, Nippes und Gerümpel, sie war offenbar, wie man heute sagen würde, ein Messi und umgab sich mit einer Fülle von Gegenständen, unter denen eben auch ihre Bilder und unzähligen Filmrollen waren.

Vivian Maier tritt als eine schwierige Persönlichkeit hervor, die sicher kein ideales Kindermädchen, keine Mary Poppins war (S. 30). Ihr Leben wird nicht chronologisch dargestellt, es gibt immer wieder Vor- und Rückgriffe. Ein Schwerpunkt des in drei Teile gegliederten Romans liegt auf der Kindheit der Porträtierten. Der weitaus längste erste Teil verwebt Stimmen aus der Kindheit mit der Zeit als Kindermädchen der Familie Rice. Manche der Stimmen, z.B. die von Sarah Rice, werden so ausführlich repräsentiert, dass auch ihr Leben beleuchtet wird. Im zweiten Teil wird die Fotografin Jeanne Bertrand eingeführt und die Zeit der Kinderjahre in Frankreich fokussiert. Im kurzen letzten Teil des Buches tritt dann die Erzählerin in den Vordergrund, die einen Dialog mit Vivian führt. Sie stellt eine der vielen Stimmen des Romans dar, die manchmal kommentiert, Hintergründe erklärt und Bruchstücke zusammenfügt: »Og nu et mægtigt spring frem til 1968.« (S. 13; Und jetzt ein mächtiger Sprung vorwärts in das Jahr 1968). Sie ergänzt Informationen zur politischen und sozialen Situation in den USA, rückt einzelne Äußerungen der anderen Stimmen zurecht und greift gelegentlich auch ironisierend ein.

Die Erzählerstimme macht auch die Motivation für das Romanprojekt insgesamt deutlich, sie fügt also dem Text eine selbstreflexive Dimension hinzu. Deutlich wird der Anlass für das Interesse an Maier durch eine Ausstellung in Dunkers Kulturhus in Helsingborg motiviert, die im Frühjahr 2016 stattfand und das fotografische Werk erstmals in Skandinavien präsentierte. Während die Erzählstimme erklärt, sie sei nicht an der fotografischen Technik interessiert (»forvent ikke ord som eksponeringstid mørkekammer kontaktark fra min mund«, 38; erwarte keine Wörter wie Belichtungszeit Dunkelkammer Kontaktabzug aus meinem Mund), ist das von Roland Barthes inspirierte »det-har-været-følelse« (126; so-ist-es-gewesen-Gefühl) ein sie antreibender Ausgangspunkt. Skeptisch gegenüber der Statik des Objekts, die das Medium zur Darstellung bringt, und gegenüber der Endlichkeitserfahrung, die von der Fotografie ausgeht, nähert sie sich dieser Fotografin und ihrem Werk an. Viele ihrer Bilder werden ekphrastisch aufgerufen, sie lassen sich bei Kenntnis des Werks problemlos wiedererkennen (vgl. eine Auswahl der Bilder auf www.vivianmaier.com), d.h. die verbale Repräsentation evoziert nachvollziehend den Gegenstand des Fotos, doch der künstlerische Gehalt des fotografischen Werks wird dabei vernachlässigt.

Der Dialog zwischen Viv und der Erzählerin im letzten Teil des Romans ruft den alten Wettstreit der Künste wieder wach, den die Erzählerin zugunsten der Sprache entscheiden möchte: »et fotografi kan ikke gribe hele den menneskelige Tilstandsform, men det kan skrift« (128; eine Fotografie kann nicht die gesamte Zustandsform des Menschen ergreifen, aber das kann Schrift). Dem Bildmedium fehle die zeitliche Dimension, so die Erzählerin von Hesselholdts Roman, die allerdings auf Vivians Frage, warum sie überhaupt nicht über die Komposition der Bilder spreche, keine rechte Antwort weiß (187). Ihre Meinung ist: »Kun det der fortæller kan få en til at forstå den omskiftelighed som er liv« (129; Nur das, was erzählt, kann einen dazu bringen, die Veränderlichkeit zu verstehen, die das Leben ausmacht). So ist es kein Wunder, dass der ästhetische Wettstreit im letzten Teil des Buches dann wieder einmündet in die dominante psychologische Ebene, der Hesselholdts Interesse vorrangig gilt – der Roman schließt mit einem imaginären Treffen von Vivian und ihrem in einer psychiatrischen Anstalt lebenden Bruder. Weder der soziale Kommentar der street photography noch – das vermag zu erstaunen – die vielen bedeutsamen Selbstporträts der Fotografin haben die Autorin herausgefordert, diesen Roman zu schreiben, sondern für sie ist Vivian Maiers rätselhaftes Leben und Werk Ausdruck der unergründlichen menschlichen Psyche, die in der Kindheit angelegt wird. Doch läuft nicht die Ästhetik der Vielstimmigkeit, die gewählt wurde, um das Enigmatische des Lebens zu bewahren, der von der Erzählerin favorisierten narrativen und zeitlich ausgedehnten Repräsentation des Lebens gerade entgegen? Der Erzählverlauf besteht eher aus Schnappschüssen und gleicht damit der Fotografie, über die dieses Buch zu wenig Neues aussagt.

Christina Hesselholdt: Vivian. Roman. København: Rosinante, 2016.
(Annegret Heitmann, München)

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