Bewegendes Trauerbuch

Der autobiographische Kontext dieses Buches ist in Dänemark bekannt und kann bei der Lektüre nicht ignoriert werden. Vor zwei Jahren verlor die bekannte Autorin Naja Marie Aidt ihren 25-jährigen Sohn Carl infolge eines tragischen Unglücksfalls. Nach einem Experiment mit halluzinogenen Pilzen sprang er in einem psychotischen Schub aus dem Fenster im 4. Stock und zog sich so schwere Verletzungen zu, dass er zwei Tage später daran starb. Nun hat Aidt ein Buch über den Tod und die Trauer vorgelegt, das zwar sehr persönlich ist, aber weder therapeutisch noch sentimental und schon gar nicht voyeuristisch daherkommt, sondern ganz einfach große Literatur über das schwierigste aller Themen ist. Da sowohl der Tod als auch die Trauer über den Verlust geliebter Menschen an die Grenzen von Sprache und Mitteilungsvermögens führen, stellt Aidts Text nicht nur eine literarische Leistung dar, die Berührtheit erzeugt, sondern auch eine Auseinandersetzung mit den Grenzen der Sprache und den Möglichkeiten von Literatur ist.

Der kurze Text von gut 150 Seiten ist äußerst vielseitig in seinen Verfahren, Themen und Wirkungen: Er ist natürlich in erster Linie sehr persönlich durch die Erinnerungen an den Sohn, an seine Kindheit, seine Persönlichkeit und gemeinsame Erfahrungen. Er ist andererseits offen, explizit, ja schonungslos in seinem Bericht über den Unfall, die Verletzungen, den Tod und den Sterbeprozess. Schon diese Offenheit verwehrt jede Sentimentalität. Er ist aber auch allgemeingültig und erhellend in seinen Reflexionen über Trauerprozesse und die Erfahrung von Sprachlosigkeit und Zeitverlust. Und wiederum eine andere Seite des Buches stellt seine Darstellung von Gemeinschaft und Solidarität in der Erfahrung des Schmerzes dar. Darin liegt der einzig tröstliche Aspekt von Aidts Text.

Erreicht wird diese Vielfältigkeit durch eine fragmentarische Form, die gleichzeitig das Schockerlebnis, die Fassungslosigkeit, die darauffolgende lähmende Trauer und die nur sehr langsame Verarbeitung spiegelt. Er setzt ein mit einem Telefonanruf, der einen Samstagabend im Kreis der Familie jäh unterbricht. Dieser Erzählstrang, der vom Tod des Sohnes berichtet, wird im Verlauf des Buches immer wieder aufgegriffen und fortgeführt bis zu seinem letzten Satz: »Det er den 16. marts 2015, og Carl er død.« (S. 156; Es ist der 16. März 2015, und Carl ist tot.) Durch schleifenförmige Wiederholungen spiegelt er das Unerhörte, das nur langsam einsetzende Verstehen der Nachrichten, zunächst vom Unfall, dann von der Schwere der Verletzungen, dann von der Unglücksursache und schließlich von der Hoffnungslosigkeit, dem Abstellen des Beatmungsgeräts bis hin zur Zustimmung zur Organentnahme. Der Handlungsstrang spielt sich im Krankenhaus ab und zeigt gleichzeitig den Zusammenhalt der Familie und der Freunde.

Unterbrochen wird diese in Kursiv gesetzte Handlung durch eine Vielzahl von anderen, ebenfalls fragmentarisch angeordneten Textbausteinen. Da sind zum einen Erinnerungen an Carl, unterstützt durch Zitate aus seinen Tagebüchern, seinen Mails und seinen Gedichten. Es sind Auszüge aus der Trauerrede seines Bruders und nahezu prophetische Gedichte und Träume der Autorin, denen auch der Buchtitel har døden taget noget fra dig så giv det tilbage (hat Dir der Tod etwas weggenommen, dann gib es zurück) entstammt. Und es sind die Tagebuchaufzeichnungen der Autorin, die neun Monate nach dem Tod und einer langen Phase der Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben mit einem Trauertagebuch beginnt, das dieser Veröffentlichung zugrunde liegt. Eingestreut werden knappe sachbezogene Texte wie der Polizeibericht und Information über die Wirkung halluzinogener Pilzen. Vor allem aber besteht der Text aus einer Vielzahl von Reflexionen über den Tod und die Trauer, die als ›fremde Rede‹ in den eigenen Text hineinzitiert werden. In einem Interview berichtet die Autorin, dass das erste Buch, das sie in ihrer Trauer wieder lesen konnte, Mallarmés Pour un tombe d´Anatole (1961) war, das der französische Dichter dem Tod seines Sohnes im Alter von acht Jahren gewidmet hat. Nicht nur die Thematik, auch die Form des Fragments war bei Mallarmé vorgezeichnet. Als wichtiger Intertext durchziehen darum seine Gedichte Aidts Text. Auch Anne Carsons Buch über den Tod ihres Bruders und Jacques Roubauds Quelque chose noir (2000) über den Tod seiner Ehefrau werden zitiert, ebenso wie Reflexionen über den Tod von Inger Christensen, Walt Whitman, Platon, Emily Dickinson und aus dem Gilgamesh-Epos. Es ist dieser Zitatreichtum, der den poetischen Charakter des Buches ausmacht, seinen reflektierenden und verallgemeinernden Teil. Gleichzeitig spiegelt die Zitatpraxis den Prozess der Rückgewinnung der Sprache durch die Autorin, die im Bezug auf fremde Texte wiedergewonnen wird.

Dass es sich um keinen linearen und um keinen einfachen Prozess handelt, wird unter anderem typographisch angedeutet, indem verschiedene Schrift- und Satztypen genutzt werden, um die Zitate voneinander abzusetzen. Während der sich durchziehende Handlungsstrang von Carls Tod kursiv gesetzt ist, wechseln in den anderen Textbausteinen Fett- und Normalschrift, unterschiedliche Schriftgrößen, links- und rechtsbündiger Satz sowie verschiedene Schrifttypen ab. Sie markieren die Individualität der fremden Rede, aber auch den erratischen Verlauf und die dem Anlass geschuldete fehlende Form: »Det er ikke muligt at skrive kunstfærdigt om rå sorg. Der er ingen form, der passer. At skrive om virkelig intethed, fravær af liv. Hvordan? At skrive om det ukendte, tavse, vi alle skal møde, hvordan? Vil man undgår det sentimentale, standser smerten sætninger midt i sætninger. Ord hænger utilstrækkelige og sølle på linjerne, linjerne standser abrupte af sig selv. Sproget, der altid har fulgt mig og været mit liv, kan intet.« (S. 131) (Es ist nicht möglich, kunstfertig über rohe Trauer zu schreiben. Es gibt keine Form, die passt. Über wirkliches Nichts zu schreiben, Abwesenheit von Leben. Wie? Über das Unbekannte, Schweigende, das wir alle treffen werden, wie? Will man Sentimentalität vermeiden, hören Sätze mitten in Sätzen auf. Wörter hängen unbefriedigend und jämmerlich auf den Linien, die Linien hören abrupt wie von selbst auf. Die Sprache, die mir immer gefolgt ist und die mein Leben war, kann nichts.)

Eindringlich beschreibt Naja Marie Aidt die Verzweiflung und Raserei, den Schockzustand, in den der Tod des Sohnes sie versetzt hat. Neben dem Verlust der Sprache geht auch die Zeit verloren, die eine Voraussetzung für das Schreiben ist. Indem sie schreibt, so heißt es im Buch, kann sie aber sukzessive die Zeit wieder erschaffen: »Nutid, fortid, fremtid. At skrive fiktion er at forestille sig strukturer, hændelser og følelser, i tid. Arrangeret i tid. Med tiden som faktor, som kompositorisk kraft« (S. 151) (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft. Fiktion zu schreiben bedeutet sich Strukturen, Ereignisse und Gefühle in der Zeit vorzustellen. Zeitlich arrangiert. Mit der Zeit als Faktor, als kompositorische Kraft). Über das Schreiben gewinnt die Autorin schließlich die Zeit, die ihr Sohn nicht mehr hat und die sie selbst verloren hatte, zurück, ohne dass jedoch von Trost die Rede wäre. Die Lesenden lässt sie an diesem Prozess teilhaben. So ist ein sehr trauriges, aber auch ein sehr bewegendes Buch entstanden, das dem unbekannten Tod nahekommt.

Naja Marie Aidt: har døden taget noget fra dig så giv det tilbage. Carls bog, Gyldendal: Kopenhagen, 2017.
(Annegret Heitmann, München)

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Didaktische Dystopie: Maja Lundes Nekrolog auf die Bienen

Nach der Krimiwelle und nach Karl Ove Knausgaards Großprojekt Min kamp (2009—2011) wird Maja Lundes Roman Bienes historie (Die Geschichte der Bienen, 2017) als ein weiterer skandinavischer Bestseller gehandelt. In Norwegen begeisterte das Buch die Kritiker, erhielt den begehrten Buchhändlerpreis und stand lange auf den Verkaufslisten ganz oben. Schnell wurde es in knapp 20 Sprachen übersetzt und wird derzeit gerade vom deutschen Feuilleton gefeiert; auf der Spiegel-Bestsellerliste steht es auf dem ersten Platz. Die Autorin war bislang nur als Kinderbuchautorin und Drehbuchschreiberin hervorgetreten, Bienes historie ist ihr Debüt auf dem Sektor der Erwachsenenliteratur; ein Nachfolgeroman, der die ökologische Thematik weiterführen soll, ist bereits angekündigt.

Der Roman erzählt allerdings weniger die Geschichte der Bienen, wie es der Titel nahelegt, als vielmehr die Geschichte dreier Protagonisten, in deren Leben Bienen eine wichtige Rolle spielen. Diese fiktiven Szenarien spielen in drei unterschiedlichen Ländern – England, USA und China – und sind auf drei unterschiedlichen Zeitebenen – 1852, 2007 und 2098 – angesiedelt. Protagonisten sind der englische Samenhändler und Naturkundler William, der eine neue Form des Bienenkorbs entwirft, der Imker George aus Ohio, dessen Bienenvölker auf mysteriöse Weise verschwinden, und die chinesische Arbeiterin Tao aus der Provinz Sichuan, die in einer Welt ohne Bienen mühselig und Tag für Tag Obstbäume von Hand bestäuben muss. In dieser dystopischen Welt setzt der Roman an; nicht nur in China, sondern weltweit ist es nach dem Tod der Bienen zu einer katastrophalen Versorgungslage gekommen, es herrscht Lebensmittelknappheit und Umweltverschmutzung, die Menschen leben in einer extrem freudlosen, unfreien und autokratisch geführten Gesellschaft am Rande des Untergangs. Das Katastrophenszenario wird nicht in umfassender Weise politisch, ökonomisch oder gesellschaftlich hergeleitet, sondern mit dem Aussterben der Bienen in Zusammenhang gebracht. Pflanzenschutzmittel und Pestizide hatten schon zu einer Verringerung des Bienenbestandes geführt, bevor der sog. „Kollaps“ zu ihrem vollständigen, weltweiten Aussterben führte. Der Beginn dieses Prozesses wird auf der Handlungsebene der Gegenwart thematisiert. Die Arbeit des Imkers George in Ohio wird bedroht durch das rätselhafte Verschwinden ganzer Bienenvölker, den sog. Colony Collaps Disorder (CCD). Hierbei handelt es sich nicht um ein fiktives, sondern ein reales, allerdings bislang nur unzureichend erklärtes Phänomen, das die Existenz von Honigbienen in unserer Gegenwart bedroht. Zwar gab es dieses mysteriöse Verschwinden ganzer Bienenvölker immer schon, doch hat sich die Zahl der kollabierenden Kolonien vor allem in Nordamerika in den letzten Jahren drastisch erhöht, was zur Formulierung der Bezeichnung CCD im Jahre 2006 geführt hat. Die Gefährdung des Tierbestands, die in der Tat weitreichende Konsequenzen für die Bestäubung und damit Vermehrung und Existenzmöglichkeit von blühenden Pflanzen hat, ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans; die ökologische Botschaft stellt wohl auch den Schreibanlass dar und macht die Idee des Textes aus.

Um diesen zentralen Punkt herum sind die drei Erzählungen gruppiert, denen mit der Geschichte des Bienenkenners William Savage ein historisches Fundament und mit dem Katastrophenszenario im bienenlosen Jahr 2098 eine dezidierte ökokritische Perspektive gegeben wird. Hinzu kommen Spannungsbögen innerhalb der einzelnen Teilerzählungen, die vor allem um Eltern-Kind-Beziehungen kreisen. Das mysteriöse Verschwinden von Taos Sohn Wei-Wen, die problematischen Beziehungen von sowohl Georg als auch William zu ihren jeweiligen Söhnen formen die Handlungselemente der drei Geschichten, die im Wechsel erzählt werden. In relativ kurzen, mit den jeweiligen Namen der Hauptpersonen überschriebenen Kapiteln wechseln sich die Perspektiven der drei Ich-Erzähler regelmäßig ab – was nicht wenig an die Konstruktionsmerkmale von soap operas erinnert. Auch die etwas gezwungene cliff-hanger-Technik kennt man vor allem aus TV-Serien, die dieses Verfahren allerdings ihrerseits aus dem Feuilletonroman übernommen haben. Jeweils an spannenden Stellen wird die Handlung unterbrochen und auf einen der beiden anderen Erzählstränge hinübergeblendet. Diese Art der Spannungserzeugung sowie auch die etwas schematische Handlungskonstruktion verrät die Erfahrung der Autorin als Jugendbuch- und Drehbuchschreiberin. Während die Handlung in diesem Sinne leicht lesbar und abwechslungsreich ist, können die Lösungen der einzelnen Erzählstränge nicht recht überzeugen. Vor allem der Hoffnungsschimmer am Ende der Dystopie wirkt wenig glaubhaft.

Doch immerhin gelingt es der Autorin, auf diese Weise auf ein wichtiges Thema und dringendes ökologisches Problem aufmerksam zu machen – heiligt der Zweck also die Mittel? Durch eine leicht verständliche und ansprechende Geschichte werden Betroffenheit und Problembewusstsein erzeugt. Man kann dem Buch durchaus eine didaktische Kompetenz attestieren, die wohl zu seinem Bestsellerstatus beigetragen hat. Da jedoch weniger die fiktionalen Welten oder ihr Personal faszinieren, sondern das rätselhafte Bienensterben die Betroffenheit auslöst, neigt man dazu, genauer nachzufragen. Und weil die Autorin selbst am Ende ihres Buches auf eine große Anzahl von wissenschaftlichen Quellen verweist, scheint dieses sachliche Nachfragen durchaus berechtigt und erwünscht. Dass Bienen bedroht sind durch die großflächige Verwendung von Pestiziden und durch Milben, dass ihre Lebensbedingungen angesichts der immer dominanter werdenden Monokulturen und der modernen Agrarindustrie sich deutlich verschlechtert haben, ist bekannt und vielfach belegt. Dass ihre Zahl deswegen insgesamt gesunken ist, trifft allerdings nicht zu, da Züchtungen dem Bienensterben entgegenwirken; Wikipedia berichtet unter Berufung auf die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), dass die Zahl der kommerziellen Bienenstöcke zwischen 1961 und 2007 weltweit um ca. 45 % angestiegen ist. Sie ist zwar in Nordamerika und Europa gesunken, dafür aber vor allem in Asien und Afrika ganz erheblich gestiegen. Noch liegt also – zum Glück – das im Roman beschriebene Katastrophenszenario in weiter Ferne. Auch die Bestäubungsleistung der Bienen für die globale Landwirtschaft ist nicht so unverzichtbar, wie es der Roman suggeriert, da Nutzpflanzen, die nicht auf tierische Bestäubung angewiesen sind, den weitaus größten Teil der menschlichen Nahrung ausmachen (Kartoffeln, Reis, Getreide). Trotzdem wäre der Rückgang der Bestäubungsleistung nicht nur eine Verringerung, sondern vor allem eine Verarmung der landwirtschaftlichen Produktion, weil Nahrungsvielfalt und Früchte ganz entscheidend zu unserem Wohlbefinden und Lebensstandard beitragen.

Nun soll mit Sicherheit nicht argumentiert werden, dass das Bienensterben nicht so schlimm und die Industrialisierung der Landwirtschaft nicht potentiell gefährlich sei. Das Ausmaß des Artensterbens ist gewaltig und beunruhigend und betrifft nicht zuletzt die nützlichen Insekten. Manche der Szenarien des Romans – der Transport ganzer Bienenvölker zur Bestäubung von Plantagen und sogar die Bestäubung von Hand – sind bereits Wirklichkeit. Hinzu kommt, dass mit jeder Veränderung des ökologischen Gleichgewichts weitere, nicht absehbare Entwicklungen in Gang gesetzt werden. Insofern macht der Roman am Beispiel der Gefährdung der Bienen auf ein globales ökologisches Problem aufmerksam. Maja Lunde hat mit ihrem unterhaltsamen Buch erreicht, dass von der Gefährdung der Biene durch Umwelteinflüsse gesprochen wird! Doch obwohl jede Dystopie mit Übertreibungen, und jede Fiktion mit erfundenen Szenarien operiert, hat man das Gefühl, dass dieser Roman mit sehr einfachen und plakativen Mitteln arbeitet, um einen didaktischen Effekt zu erzielen – und eine große Zahl an Lesern und Leserinnen zu erreichen.

Maja Lunde: Bienes historie, Aschehoug: Oslo, 2015.
(Annegret Heitmann, München)

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Ins Paradies vertrieben. Negar Naseh: De fördrivna (2016)

Negar Naseh De Fördrivna Cover 2016Die tragischen Ereignisse an Europas Außengrenze im Mittelmeer sind aus den Nachrichten bekannt. In literarischen Erzählungen müssen Schilderungen dieser politischen Lage noch gesucht werden. Ein Fundstück ist De fördrivna (Die Vertriebenen), der zweite Roman der schwedischen Autorin Negar Naseh. Die Handlung des Romans führt den Leser in das sommerliche Sizilien. Nasehs 2014 erschienener und vom Feuilleton gut aufgenommener Debütroman Under all denna vinter (Während all dieser Winter) spielte hingegen noch in Schweden zur kalten und düsteren Jahreszeit. Eine Gemeinsamkeit beider Romane ist die spannungsgeladene Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen in isolierten Verhältnissen. Die Szenerie des neuen Romans liegt in direkter Nachbarschaft zur Insel Lampedusa, die mittlerweile zur Chiffre für das ‚Flüchtlingsdrama‘ geworden ist. In De fördrivna ist damit im Gegensatz zu Nasehs Debüt explizit eine politische Dimension eingebaut.

Negar Nasehs Roman versteht sich als Stellungnahme zur humanitären Katastrophe im Mittelmeer. Mit den im Titel auftauchenden Vertriebenen scheinen allerdings weniger Flüchtlinge im konkreten Sinne gemeint zu sein. Das im Zentrum der Handlung stehende schwedische Ehepaar Miriam und Filip ist metaphorisch Stockholm ‚entflohen‘ und hat sich mit der frisch geborenen Tochter Olivia auf Sizilien niedergelassen.

Die Motivation der beiden, nach Sizilien zu ziehen, ist zunächst klar. So wird z.B. für Miriam festgestellt: „På Sicilien släpper hon kylan. Här är hon omgiven av vårblommar. Av pinjeträd och olivlundar. Det finns ingenting hon ångrar med flytten”(S. 17 – Auf Sizilien verlässt sie die Kälte. Hier ist sie umgeben von Frühlingsblumen. Von Pinienbäumen und Olivenhainen. Es gibt nichts, weswegen sie den Umzug bereut.). Die in diesen Sätzen ausgedrückte Bestimmtheit über das eigene Handeln lässt aufhorchen. Der Ort Sizilien und so auch die Feststellung, dass es keinen Grund zum Ärgernis gäbe, werden jeweils an den Satzanfang gestellt. Dass dies eine falsche Annahme ist, wird dem Leser auf knapp 170 Seiten vorgeführt. Es wird nämlich erzählt, wie sich Miriam und Filip im Laufe eines Sommers auseinanderleben und inwieweit die weltpolitische Lage dabei eine Rolle spielt.

Die zitierten Sätze fallen angesichts des Gesamtstils des Romans besonders auf. In De fördrivna werden in erster Linie die Gedanken der Figuren wiedergegeben. So nimmt der Leser nicht nur an Miriams Innenleben teil, sondern ebenso an Filips und dem ihrer zeitweiligen Besucher, dem befreundeten Paar Ashkan und Erika. Die Fokalisierung wechselt zwischen den Figuren von Szene zu Szene und teilweise innerhalb der Szenen. Dabei wird in erster Linie nur mit Personalpronomen gearbeitet. Aufmerksames Lesen ist deshalb erforderlich, um zu erfahren, aus wessen Perspektive das Geschehen gerade vermittelt wird. Diese häufigen Wechsel haben den Effekt, dass dem Leser die Figuren nah und zugleich fern erscheinen. Einerseits wird die emotionale Lage der Beteiligten detailliert geschildert, andererseits wird ihnen immer wieder schnell die Aufmerksamkeit entzogen.

Der Leser erfährt, dass Miriam depressiv ist. Als Anästhesistin hat sie Zugang zu diversen Betäubungsmitteln, mit denen sie versucht sich ihren Alltag erträglich zu machen. Am häufigsten greift sie allerdings zum Gin Tonic. Ihr Ehemann Filip ist Künstler mit wachsendem internationalen Renommee. Er fürchtet vor allem, dass er durch die für ihn anstehende Elternzeit seine bisherige Freiheit wahrscheinlich aufgeben muss. Lieber stürzt er sich in seine Arbeit. Beide sind gewissermaßen ‚Realitätsflüchtlinge‘ und könnten so als die Vertriebenen des Titels identifiziert werden. Der befreundete Reporter Ashkan wirft ihnen für ihre Realitätsflucht „vit melakoli“ (weiße Melancholie) vor. Ashkan ist selbst als Flüchtlingskind aus dem Iran nach Schweden gekommen und beansprucht aus diesem Grund für sich eine weniger privilegierte soziale Positionierung als das Ehepaar. Mit dem Begriff „vit melankoli“ meint er, dass Miriam und Filip als Weiße nur Interesse an der Flüchtlingskrise und rassistischen Problemlagen vorschützen würden. Insgeheim sehnten sie sich aber nach einer vermeintlich weniger komplexen Vergangenheit zurück. Sie benehmen sich, als ob sie aus der nostalgischen Vorstellung eines ‚Paradieses‘ vertrieben worden seien. Der Vorwurf lautet, dass Miriam und Filip sich aufgrund ihres Weißseins innerlich von den politischen Problemen der Gegenwart distanzieren könnten, obwohl sie räumlich ins Zentrum des Geschehens gezogen sind.

Damit ist ein Kernanliegen des Romans umrissen. Als Motto ist dem Text ein Zitat der antiguanischen Autorin und postkolonialistischen Kritikerin Jamaica Kincaid vorangestellt: „Eventually the masters left, in a kind of way; eventually, the slaves were freed, in a kind of way“. Mit diesem Verweis auf das Fortbestehen kolonialistischer Denkweisen widmet sich der Roman dem globalen Machtgefälle von Nord nach Süd.

Die stilistische Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren korrespondiert mit der inhaltlichen Ebene des Romans, da die intimen Konflikte eines schwedischen Akademikerpaars vor dem Hintergrund transnationaler politischer Problemlagen inszeniert werden. Der Roman stellt die Frage, mit welcher Gewichtung ‚eigene‘ und ‚fremde‘ Probleme bearbeitet werden sollten, aber er bietet keine einfachen Lösungen an. So findet z.B. Miriam aus ihrer Depression heraus, indem ihr Interesse für politisches Engagement geweckt wird. Filip hingegen – der mit Ashkan sogar Lampedusa besucht, um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen – bleibt von der Lage unberührt. Während der Roman für Miriam aufgrund ihrer neuen Haltung kein gutes Ende bereithält, findet Filip zu neuem Glück. Negar Nasehs Roman lädt den Leser dazu ein, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Figuren, sowie Verbindendes und Trennendes zu suchen. De fördrivna ist durch die potenzielle Offenheit seines Titels und seines ambivalenten Stils ein diskussionsanregender Beitrag zum literarischen Diskurs über die derzeitige humanitäre Katastrophe im Mittelmeer.

Negar Naseh: De fördrivna. Stockholm: Natur & Kultur, 2016.
(Philipp Wagner, Greifswald)

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