Das, was Besucher*innen eines Kunstmuseums (in aller Regel) nicht zu sehen bekommen, schmückt die Vorderseite von Ida Börjels (*1975) Lyrikband Omsorgslabyrinten (2023 – Das Fürsorgelabyrinth): die Rückseite einer Leinwand. Die Buchrückseite zeigt das Gemälde selbst: Gösta Adrian-Nilssons (GAN, 1884-1965) Biljardspelarna von 1923, das hier allerdings mit kleinen roten Zahlen und Strichen versehen ist. Diese Markierungen weisen auf mögliche schadhafte, restaurierungsbedürftige Stellen hin und stammen (laut Impressum) aus einem Zustandsbericht vom 17.06.2021 des Malmö Konstmuseum.
Ein solcher Blick auf Museumsgegenstände sei – so heißt es bei Börjel – ein exklusives Vorrecht, das Expert*innen vorbehalten ist:
Intresset för objektens baksidor
det är en konservatorsgrej
det är ett privilegium
att få se baksidan
Det är där det händer
[Das Interesse an den Rückseiten von Objekten
ist eine Konservatorensache
ist ein Privileg
die Rückseite sehen zu dürfen
Denn dort passiert es]
Was sich genau auf jenen Rückseiten ereignet und was für die Pflege und Instandhaltung – »Omsorg« (›(Für-)Sorge‹) – von Objekten erforderlich ist, wird im Laufe des Lyrikbandes detailreich geschildert. Die Lesenden werden auf einen Rundgang durch die Sammlungen und Lagerräume des Kunstmuseums Malmö mitgenommen und erhalten aus erster Hand Einblicke, wie jenseits des Ausstellungsbetriebs mit Kunstgegenständen im Museumsalltag verfahren wird, denn die Stimmen in den Gedichten sind die der Konservator*innen.
Der Großteil des Textes folgt einer gesprächsartigen Struktur und liest sich als eine Art Interview in Gedichtform, als in Versform gesetzte mündliche Berichte. Zu Wort kommen nur die Interviewten. Redebeiträge des*der Interviewer*in wurden entfernt, was sich aus den Reaktionen des jeweiligen lyrischen Ichs schließen lässt: So folgen beispielsweise auf einige der in großer Menge vorkommenden Lücken im Schriftbild Aussagen, die mit Antwortpartikeln eingeleitet werden. Leerzeichen und Lücken suggerieren zusätzliche Pausen im Gespräch; Interview-Praxis wird dadurch nachvollziehbar in einen lyrischen Text transformiert. Dass es sich hierbei um Gedichte handelt, ist zumeist nur visuell durch die Anordnung der Texte und zahlreiche Enjambements erkennbar.
Formal besteht Omsorgslabyrinten aus zwölf Kapiteln zuzüglich eines Anhangs. Jedem Kapitel wird eine Überschrift vorangestellt, die einen Hinweis auf die aktuelle räumliche Position liefert (z.B. »Rum 303«, »En korridor«). Jede Kapitelüberschrift steht auf einer eigenen, mit Seitenzahl versehenen Seite; die restlichen Seiten des Buches bleiben unnummeriert. Die einzelnen Abschnitte werden dadurch – wie die unterschiedlichen Räume, in denen sie spielen – voneinander abgegrenzt.
Der Rundgang beginnt in Raum 416. »Du får gå in« (›Du darfst hineingehen‹), teilt das erste lyrische Ich mit, um im Anschluss auf sich dort befindende Utensilien hinzuweisen: Von Ziegenhaarbürsten über Mikrofasertücher bis hin zu Baumwollhandschuhen. Zu einigen Hilfsmitteln folgen Kommentare zur Verwendung sowie spezifische Fachdetails (z.B. zu speziellen Schwämmen, die eine ähnliche Struktur wie Brot haben, das früher zu Reinigungszwecken verwendet wurde, oder zur ablehnenden Haltung des Vatikans bezüglich des Einsatzes von Speichel bei der Säuberung von Kunstwerken). Geschichten aus dem Arbeitsalltag, Hinweise auf die optimale Luftfeuchtigkeit und Temperatur zur Lagerung von Objekten sowie Vorgehensweisen bei Schädlingsbefall stehen im Zentrum der ersten drei Abschnitte (»Rum 416«, »Rum 303«, »Spegelgången« (›Der Spiegelgang‹)). Die Ausführungen des lyrischen Ichs werden ergänzt durch Reflexionen und Gedanken zum Wert von Objekten und zum Umgang mit Kulturgut in Museen. Gerade wenn es um Gebrauchsgegenstände geht, sei es die Aufgabe der Konservator*innen, die Objekte zwar instand zu halten, nicht aber deren Alterungsprozess und die Spuren früherer Generationen zu vertuschen:
Om jag går in
för att se en utställning
på ett museum
och allt är fräscht och helt
kan jag ju lika gärna gå
till Ikea
[Wenn ich hinein gehe
um eine Ausstellung anzusehen
in einem Museum
und alles ist frisch und ganz
kann ich ja genauso gut
zu Ikea]
Im vierten Kapitel geht es (nach circa einem Drittel des Buches) weiter in »Hills grotta« (›Hills Höhle‹) – ein Raum, in dem die Sammlung des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Hill (1849-1911) aufbewahrt wird, die aus über 2600 Zeichnungen und 25 Gemälden besteht.[1] Während die Sammlung nach der Zeichnung eines Löwen durchsucht wird, gibt das lyrische Ich Einblicke in die eigene Arbeit mit Hills Werk und berichtet vom Leben des Künstlers und dessen Leiden an paranoider Schizophrenie. Als das lyrische Ich zum Ende des Kapitels den Raum verlässt (»Strax tillbaka //// inte röra« (›Gleich wieder da ///// nicht anfassen‹), kommt es im nachfolgenden Abschnitt zu einem vollständigen Bruch der prosaartigen Lyrik und des ansonsten zumeist sachlich-gesprächigen Stils:
»Intill Hill« (›Neben Hill‹), der fünfte Abschnitt, wird unvermittelt mit einem kleinen, kreisförmigen, von Hill gezeichneten Schwarzweiß-Bild eingeleitet. Dies wirkt wie ein Blick durch ein Schlüsselloch oder durch ein Fenster in eine völlig andere Realität: Der nachfolgende Text besteht aus kurzen, assoziativen, zum Teil gereimten und experimentelleren Gedichten, die sich auch visuell durch die Verwendung einer größeren Schrift vom Rest des Buches abheben. Wer hier spricht, bleibt unklar – möglicherweise sogar Hill selbst? Denn stilistisch erinnern die Gedichte an Hills eigene lyrische Texte und können als Reminiszenz und Annäherung an Hills Werk interpretiert werden.[2] Börjel reiht sich damit ein in die Riege schwedischer Lyriker*innen, die sich von Hills Bildern und Texten inspirieren ließen, wie beispielsweise Ann Jäderlund, Lars Norén, Jesper Svenbro und Birgitta Trotzig.
Nach diesem Exkurs geht es zurück zu den Konservator*innen – zunächst im Plauderton bei Kaffee und Keksen im Pausenraum (»Fikarummet«), dann über zwei sehr kurze ›Durchgangskapitel‹ (»I hissen« (›Im Aufzug‹), »Genväg« (›Abkürzung‹) hinein in das Herz des Museums (»Själva hjärta«), wo hunderte von Gemälde aufbewahrt werden. Erneut steht die Konservierungs- und Restaurierungsarbeit an Kunstwerken im Vordergrund. Unterbrochen werden die Ausführungen hier jedoch wiederholt durch nummerierte Anmerkungen eines Zustandsberichts mit Hinweisen auf schadhafte Stellen an Gemälden. Nach Durchqueren eines Korridors (»Vi bara fortsätter« (›Wir gehen einfach weiter‹) führt der Weg in eine Sammlung verschiedener Textilien (»Textilier«). Ein nicht näher bestimmtes Stoffstück wird schließlich untersucht, kommentiert und an seinen Lagerplatz zurückgebracht. Und auch die Lesenden werden mit den letzten Versen des zwölften Abschnitts (»Aria«) vom lyrischen Ich an den Anfang zurückgebracht und aus dem Museumslabyrinth hinausgeführt: »Jag kan följa / dig ut« (›Ich kann dich / hinausbegleiten‹).
Der Anhang »Appendix: Tillståndsrapporter« (›Anhang: Zustandsbeschreibungen‹) rundet den Lyrikband schließlich mit dreizehn kürzeren, sachlichen Zustandsbeschreibungen einzelner Ausstellungsstücke ab. Erwähnt wird allerdings nicht, welche Objekte hier untersucht werden. So wird erneut die konkrete Arbeit der Konservierung und Restaurierung in den Fokus gerückt und gewissermaßen als eigenständige, wenngleich verborgene ›Kunstform‹ präsentiert. Das titelgebende Kompositum Omsorgslabyrinten symbolisiert zum einen den konkreten Weg durch die Lagerhallen und Sammlungen des Museums. Zum anderen lassen sich die Wege des Labyrinths aber auch abstrakter auf metaphorischer Ebene verstehen: Welche Wege werden bei der Konservierung und Restaurierung gegangen? Wie wird etwas konserviert und – vielleicht noch wichtiger – was wird eigentlich bewahrt? Welchen Wert haben Objekte und wie und warum kann sich dieser im Laufe der Zeit verändern? Wie wird mit kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit umgegangen? – Fragen, die nicht zuletzt auch eine kulturpolitische Dimension berühren. Komplexität und Unüberschaubarkeit kennzeichnen den Sachverhalt, was in den Aussagen der Konservator*innen immer wieder zum Ausdruck kommt. Als Ziel der Arbeit wird wiederholt das Bewahren, Weitergeben und Erklären der Vergangenheit hervorgehoben, denn: »Museet är till för kommande / generationer« (›Das Museum ist für kommende / Generationen‹) und somit immer auch ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt.
Ida Börjel (*1975) debütierte 2004 (Sond) und zählt spätestens seit Veröffentlichung ihres Lyrikbandes Ma (2014; u.a. nominiert für Augustpriset) zu einer der meistausgezeichneten schwedischen Lyrikerinnen der Gegenwart. 2022 erschien Ringa hem. Dokumentärdikt (Zu Hause anrufen. Dokumentargedicht), das auf realen, abgehörten, transkribierten und übersetzten Telefongesprächen russischer Soldaten von der ukrainischen Front nach Hause basiert. Stilistisch verwandt – wenngleich mit deutlich anderer Thematik – ist ebenfalls Börjels Skåneradio (2006), das Anrufe und Gespräche im Radio als Ausgangspunkt nimmt. Und auch für Omsorgslabyrinten wählt Börjel gesprochene Sprache als Textgrundlage und verfolgt ein dokumentarisch-journalistisches Projekt: Die Autorin selbst unternahm eine Studienreise an das Kunstmuseum in Malmö und sprach dort mit den Museumsmitarbeiter*innen. Gut möglich also, dass auch dieses Werk vornehmlich auf tatsächlich stattgefunden Gesprächen zwischen Börjel und Konservator*innen beruht. Davon zeugt unter anderem eine auf eine längere Lücke im Text folgende Äußerung eines lyrischen Ichs: »Sa du essädikt« (›Sagtest Du Essay-Gedicht‹) – ein direkter Kommentar zu Börjels Schreibvorhaben. Denn Omsorgslabyrinten ist mehr als nur eine Zusammenstellung verschiedener Redebeiträge. Durch das Einflechten von Zustandsberichten und lyrischen Experimenten wird die Arbeit des Konservierens und Restaurierens in den Vordergrund gerückt und sich dem Thema in sprachlich knapper Form von verschiedenen Seiten angenähert.
Gerade in den letzten Jahren lässt sich in Skandinavien ein Anstieg lyrischer Texte beobachten, die ein ausgewähltes Thema mit nahezu journalistischem Anspruch behandeln und einen unmittelbaren Realitätsbezug aufweisen – oftmals durch Einbezug von Äußerungen realer Personen (man denke zum Beispiel auch an Marit Kaplas lyrische Interviewtranskriptionen Osebol (2019) und Kärlek på svenska (2022 – Liebe auf Schwedisch)). Seit Espen Stueland seinem Werk Eilert Sundt-tilstanden (2019 – Eilert Sundt-Zustand) den Untertitel »sakpoesi« (›Sachlyrik‹) gegeben hat, wird diese Genrebezeichnung für solche dokumentarische Tendenzen aufweisende Lyrik auch in Forschungsarbeiten diskutiert (z.B. in Tidskrift Sakprosa von 2023, die eine Ausgabe ganz dem Begriff gewidmet hat). Sollte sich die Bezeichnung für eine Art der Lyrik, die sich auf der Schwelle zwischen Poesie und Sachliteratur befindet, durchsetzen, ist Omsorgslabyrinten definitiv ein besonders anregendes Beispiel für diese neue Gattung.
Ob es sich bei Omsorgslabyrinten tatsächlich um transkribierte, leicht redigierte und in Versform gesetzte O-Töne handelt oder aber ob dies nur suggeriert wird, kann aus Börjels Text nicht erschlossen werden. Anders als bei Ringa hem beispielsweise fehlt ein entsprechendes Vorwort/Nachwort und/oder Quellennachweise. Und so lässt sich ein Kommentar eines lyrischen Ichs zu einer entdeckten Kopie eines Gemäldes möglicherweise auch als (Meta-)Kommentar zu dieser Gedichtsammlung und generell als Hinweis zum Umgang mit Kunst und Kultur interpretieren:
Det är en otroligt skickligt
gjord kopia en påminnelse
om att vara ödmjuk
om att det aldrig helt
går att veta vad det är
jag har framför mig
[Das ist eine unglaublich gekonnt
gemachte Kopie eine Erinnerung
daran bescheiden zu sein
daran dass es nie ganz
möglich ist zu wissen was es ist
was ich vor mir habe]
Börjel, Ida: Omsorgslabyrinten. Stockholm: Albert Bonniers, 2023.
(Sina Lynn Sachse, Universität zu Köln)
[1] Hill hinterließ ein Manuskript mit zahlreichen Gedichten, das als Faksimile auf den Seiten der Litteraturbanken zu lesen ist. Vgl. Hill, Carl Fredrik: Dikter och författarskap på några språk. Nagug. 1885. https://litteraturbanken.se/författare/HillCF/titlar/DikterNagugHS/sida/1/faksimil
[2] Malmö Konstmuseum: Carl Fredrik Hill. 10.03.2025. https://malmo.se/Uppleva-och-gora/Konst-och-museer/Malmo-Konstmuseum/Konstsamlingen/Vara-samlingar/Carl-Fredrik-Hill.html [19.03.2025].