Krieg und Unterwelt entronnen – Lotta Lundbergs schwedisch-deutscher Roman Timme noll (2014)

timme_nollDer Trend, sich an ein skandinavisches und an ein deutschsprachiges Publikum zu wenden, ist für Film, Fernsehen oder Pop-Musik bereits recht ausgeprägt – und wird sich auch für die skandinavische Belletristik voraussichtlich immer stärker geltend machen. Lundbergs spannender Roman ist ein dankbares Beispiel. Vielleicht handelt es sich sogar um einen geplanten Bestseller? Oder ist bald eine Verfilmung zu erwarten?

Der erste Teilstrang von Lundbergs Roman, „Berlin 1945“ über die historische Stunde Null führt die Autorinnenfigur Hedwig Lohmann und ihre Tochter ein, die „flickan“ (Mädchen) genannt wird. Der zweite Teilstrang „Uppsala 1984“ ist einem Teenager in Uppsala namens Isa gewidmet, der dritte „Bildholmen 2005“ einer pensionierten Therapeutin, Ingrid, die im Begriff steht, sich von ihrem schwer kranken Ehemann zu trennen. Timme noll nutzt das Skandalmoment der historischen Biographien von Elisabeth Langgässer, einer deutschen Autorin und deren Tochter Cordelia Edvardson, einer Holocaust-Überlebenden und in Schweden sehr bekannten Zeitzeugin. In den beiden anderen, alternierend dargebotenen Teilsträngen widmet sich der Roman Fragen von Schuld und Verantwortung in weiteren Mutter-Tochter-Beziehungen, so als würde der historische Stoff bis in die Gegenwart hinein aufgefächert.

Interessant ist nun, wie sich das unterschiedlich anzusetzende kulturelle Wissen für die beiden Lesergruppen auswirken mag: Stellt man sich die Lektüre derjenigen vor, die bereits im Schulunterricht die literarischen und journalistischen Arbeiten der schwedischsprachigen Autorin Cordelia Edvardson (1929-2012) kennengelernt haben, dann gibt die explizite Widmung des Romans an diese Vorbildfigur ein deutliches Signal: Timme noll geht eine dokumentarische Verpflichtung ein.

Stellt man sich dagegen die Lektüre derjenigen vor, die mit der deutschsprachigen Literaturgeschichte gut vertraut sind, ist davon auszugehen, dass die Hauptfigur im Jahr 1945 als die Autorin Elisabeth Langgässer (1899-1950) identifiziert werden kann, nachdem ein zentraler Roman erwähnt worden ist: Proserpina (1932), ein Text, in dem Langgässer den Übergang ins Erwachsenenalter anhand des Proserpina-Mythos ausgestaltete und wiederum ihre eigene Kindheit verarbeitete. Das Trauma der Mutter-Tochter-Beziehung von Langgässer und Edvardson besteht darin, dass der Autorin nachgesagt wurde, sie habe billigend in Kauf genommen, dass ihre deutsch-jüdische Tochter mit unbekanntem Ziel verschickt wurde, um sich weiter ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin widmen zu können. Sowohl Timme noll als auch Bränt barn söker sig till elden 1984 von Edvardson (Gebranntes Kind sucht das Feuer, 1986) beschreiben, wie „flickan“ – alias Cordelia – begleitet von der Mutter, ein Dokument unterzeichnen muss, das sie den Rassegesetzen unterstellt, nachdem zuvor immer wieder Anstrengungen unternommen worden waren, das Mädchen in Sicherheit zu bringen. (Zu den Einzelheiten siehe Anna Callenholm: Erinnerte Erfahrung der Shoah in den Werken von Ruth Klüger und Cordelia Edvarson, Växjö 2013.) Edvardson wurde als Sechzehnjährige mit den legendären weißen Bussen nach Schweden gerettet. Sie war in den Jahren 1977 bis 2006 als Israel-Korrespondentin für Svenska Dagbladet im Einsatz, weshalb sie in Lundbergs Roman häufig als „rösten i radion“ (Radiostimme) tituliert wird.

Während es zwischen den beiden historischen Akteurinnen wohl nur ein kurzes Wiedersehen gegeben hat, breitet der Roman Timme noll eine Vielfalt von Konflikten und Symbiosen von Müttern und Töchtern auf, als ob sich diese in alle Zeit fortsetzten. Dabei wird auf die zirkuläre Figur einer genealogischen Vergewisserung großer Wert gelegt, die bereits im Proserpina-Mythos selbst angelegt ist: Tritt Proserpina (in der griechischen Mythologie Persephone) aus der Unterwelt hervor, verbringt sie den Sommer mit ihrer Mutter Ceres/ Demetria, wohingegen sie im Winter auf Unterwelt und Totenreich verwiesen ist, das von den destruktiven Mächten des Pluto/ Hades beherrscht wird.

Die Ereignisse der späteren Jahrzehnte in den beiden anderen Teilsträngen antworten ganz sprichwörtlich auf die historische Vorgeschichte. Isa ist in Uppsala durch destruktives Verhalten auffällig geworden und wird in die Psychiatrie aufgenommen, nachdem sie eine Puppe zerfetzt hat (vgl. Lundberg: Timme noll, S. 43-35 mit Langgässer: Proserpina, S. 104-110). Mit dieser brutalen Episode der Entdeckung dämonischer Kräfte im Selbst wird makaber auf den Kosenamen von Hedwigs Tochter „flickan“ angespielt: „Dockelina“ (in etwa Püppchen). Der Puppenmord ist Isas erste schuldhafte Handlung, die auf Langgässers Verrat an deren Tochter rückverweist und Isa zugleich in der Position einer generationsübergreifenden verallgemeinerten Tochter präsentiert – so als würde eine Nachgeborene unmittelbar an eine historische Handlung anknüpfen. So scheint Isa, die sich nach einer mütterlichen Vertrauten sehnt, vierzig Jahre später den suchenden Blick Lohmanns zu erwidern, wenn jene den Blick von „flickan“ zu fangen sucht (vgl. Timme noll, S. 72 und 29). In gewissem Sinne sind in Isa die Positionen von Lohmann und „flickan“ gleichzeitig vorhanden, der Mutter-Tochter-Konflikt kreuzt sich in der Psyche der Nachgeborenen.

Im Teilstrang zur Figur Isa wird das Augenmerk stärker auf das intra- und intertextuelle Verfahren von Timme noll gerichtet. Dies ist höchst komplex und angesichts der Fülle des Stoffs doch effizient. Während in den „Berlin 1945“-Kapiteln Passagen aus Lohmanns Manuskripten in Kursiv eingefügt sind und in deren erlebte Rede zitierte Ausdrücke von anderen Figuren, integriert Isas Teilstrang, für den als einzigen die Ich-Perspektive gewählt ist, psychoanalytisches Vokabular (einschließlich eines abgedroschenen Therapie-Jargons), Fremdwörter oder betont erwachsen klingende Ausdrücke, die ebenfalls kursiviert sind. Der Registerwechsel setzt kleine ironische Verfremdungseffekte. Isa arbeitet an einem abgewandelten Monopoly-Spiel, das ihren gesamten Therapieverlauf in ein aufwendiges Würfelspiel mit selbst angefertigten Spielfiguren, Ereigniskarten u.ä. transformiert. Dieses Spiel, natürlich ein Gleichnis für die freie Transformation der Biographien in ein eigengesetzliches Konglomerat, erhält die Therapeutin zum Abschied geschenkt. Als eine Art Debütwerk besiegelt es die sich fortsetzende Stabilität Isas.

Solche sprachlichen und erzählperspektivischen Distanznahmen treten im dritten Teilstrang um die Therapeutin Ingrid eher zurück: Die wenigen in alternativer Typographie dargebotenen Formulierungen sind Mail- und SMS-Zitate, erinnerte Phrasen oder Begriffsprägungen anderer Figuren.

Ingrid, die möglicherweise in den 1980er Jahren Isas Therapeutin war, lässt sich pensionieren, um ihren kranken Ehemann zu unterstützen, der in seiner letzten Lebensphase den Beruf als Pastor auf einer Schäreninsel ausüben will. Was hat sich die Mutter dreier Kinder nach ihren beruflichen Erfolgen zu Schulden kommen lassen? Ist sie nur ein altruistisches Opfer ihres Mannes, der nun auch noch ein Verhältnis zu einer Autorin beginnt? (Die Geliebte heißt Hanna Lund – mit einem Seitenblick auf die Autorin Lundberg selbst.) Ingrids Nullpunkterlebnis besteht in der Entscheidung, spät im Leben die Autonomie zu erproben. Wider Erwarten unterstützen sie ihre Kinder bei dem Vorhaben, gerade auch ihre Tochter, von der sie bislang nur Widerspruch gewohnt war.

Weder die vielfältigen Verflechtungen zwischen den Lebensläufen der Figuren, das Funken sprühende Netz der Anspielungen noch die gröberen Analogiebildungen sollen hier genauer aufgeschlüsselt werden. Ebenso wenig soll hier das Finale im Kloster verraten werden, bei dem sich die drei Frauengenerationen begegnen, sich zum letzten Mal eine Tochter in ihrer Mutter wiedererkennt und eine Mutter in ihrer Tochter. Für die Beschreibung der gefährlichen Fußwanderung, die Lohmann von Berlin nach Anastasiendorf unternimmt, werden Passagen aus Langgässers Roman Märkische Argonautenfahrt (1950) verwendet.

Da Timme noll in diesem Jahr Sveriges Radios Romanpris erhielt, liegt umfangreiches Rezeptionsmaterial vor. Dabei fällt auf, dass auf die kompositorische Nähe zu Michael Cunninghams The Hours (1998, erfolgreich verfilmt 2002) zwar hingewiesen, dann aber dieser Bezug – respektvoll – nicht weiter verfolgt wird. Auch Cunningham verwendete für seine Hommage an Virginia Woolf (1882-1941) und ihr Werk sowohl biographische Materialien als auch literarische Texte, vor allem Woolfs Roman Mrs. Dalloway (1925). Wie so viele Familiensagas bemüht The Hours das Drei-Generationen-Modell und liefert genau wie Timme noll ineinander verwobene Erzählstränge aus der Sicht dreier Protagonistinnen. Das wichtigste gemeinsame Merkmal besteht darin, dass sich die Textbezüge überhaupt erst durch intensive Lesermitarbeit verwirklichen. Indem die Lesenden das Puzzle vervollständigen, vollziehen sie selbständig das zyklische Muster einer intergenerationalen Kontinuitätsvergewisserung nach. Doch wird The Hours nicht von Lundberg zum Anlass für ein Remake oder ein Pastiche genommen, sondern dieser produktiv verarbeitete Text entfaltet sich als einer neben vielen anderen Texten.

Der Teenager Isa ist eine Figur, die Ironie in die schwergewichtigen Themen einspeist, eigentlich ein riskantes Unterfangen, das aber eine analytische Betrachtung der eingebrachten Intertexte anregt. Die zentralen Deutungsmodelle einer wahlweise religiös oder psychoanalytisch orientierten Welterklärung bilden zwar einerseits unhinterfragte große Erzählungen. Andererseits pointiert Timme noll auch den pathetischen Sog, der sich aus der intergenerationalen Tradierung der Mutter-Tochter-Symbiose ergibt. Mit dem ironischen Hinweis auf die Filmstudios in Babelsberg wird sogar antizipiert, wie wir als Lesende trotz des markierten Konstruktcharakters bereit sind, Emotionen zu investieren. Von ihrer Begleiterin auf dem Weg nach Anastasiendorf wird Lohmann gefragt, ob ihre Produktion stärker von „Gud eller Freud“ beherrscht sei, worauf die Autorinnenfigur lachend „Babelsberg“ antwortet (vgl. S. 249). Es mag gewagt erscheinen, vor dem gewählten historischen Hintergrund auf das melodramatische Potential und die mediale Verwertbarkeit anzuspielen.

Wie bei der Lektüre eines spannenden Kriminalromans gilt es auch bei Timme noll, ein Begehren zu stillen. Dies bezieht sich in gewisser Weise auch auf die Aufklärung eines Verbrechens (Langgässers schuldhafte Handlung), aber mehr noch auf die Lösung eines psychologischen Rätsels. Die ethische und politische Ebene der Kombinationsbiographie von Timme noll dürfte allerdings im deutschsprachigen Raum eher kontrovers betrachtet werden als dies von Seiten der schwedischen Leserschaft zu erwarten ist. In einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird trotz einer ausführlichen Würdigung des Romans der ethische Maßstab leise in Zweifel gezogen, wenn es heißt: „hier befinden sich Frauen an einem Nullpunkt des Lebens, so diffizil es auch scheint, ihren mit dem Nullpunkt einer Elisabeth Langgässer oder gar Cordelia Edvardson zu vergleichen“ (Matthias Hannemann: „Proserpina und das große Therapiespiel“, 1.8.2015). Auf alle Fälle kann sich dieser Text als ein Nationalliteraturen-übergreifender ‚Fortschreibungsroman‘ platzieren.

Lotta Lundberg: Timme noll, Stockholm: Natur & Kultur, 2014.
Deutsche Übersetzung: Zur Stunde Null, aus dem Schwedischen von Nina Hoyer, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2015
(Antje Wischmann, Uppsala, August 2015)

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