Kirsten Hammann: Se på mig

Seit Kirsten Hammann 1993 mit dem experimentellen Roman Vera Winkelvir um ersten Mal eine literarische Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machte, hat sie sich als eine der wichtigsten dänischen Gegenwartsautorinnen etabliert. Während ihr letzter Roman (En dråbe i havet, 2008) ein origineller Beitrag zu dem politisch aktuellen Thema Globalisierung & Literatur war, scheint der im August 2011 publizierte Roman Se på mig auf den ersten Blick ein eher traditionelles, psychologisch ausgerichtetes Doppelporträt der beiden Protagonisten Julie und Sune auszumachen. Es geht um die zufällige Bekanntschaft der beiden – sie sucht kurzfristig einen Untermieter und er ein Zimmer -, um ihre graduelle Annäherung und Liebesbeziehung – die zu heftigen und ausführlich beschriebenen Sex-Szenen führt – und vor allem um den Selbstbetrug und die Lebenslügen der beiden – sie orientiert sich an Schönheitstipps in Frauenzeitschriften und sucht bürgerliches Ehe- und Kinderglück, ihm genügen one night stands auf seinem Weg zum großen schriftstellerischen Erfolg.

Handlung und Problemstellung sind also eher konventionell, auf 460 Seiten wird eine recht alltägliche Geschichte sprachlich elegant, inhaltlich nachvollziehbar, doch mit durchaus komischen und zur Distanz einladenden Zügen beschrieben; die Kritik sprach von einer »kærlighedskomedie«. Schnell durchschaut man die Illusionen der beiden durchaus nicht unsympathischen und wieder erkennbaren Figuren, es braucht aber nicht viel literarischer Erfahrung um zu erkennen, dass Julis Verlobter, der sich nach Indien abgesetzt hat, nicht zu ihr zurückkommen wird, und dass Sune auch der perfekt aufgeräumte Schreibtisch auf dem Weg zum Erfolg nichts nützen wird. Ein anspruchsvoller Unterhaltungsroman also, der sich literarisch durch zwei Verfahren auszeichnet, die ihn dann doch vom mainstream unterscheiden.

Der erste Erzähltrick ist der ständige Wechsel der Perspektive zwischen den beiden Protagonisten. Da sie jeweils die Fokalisierungsinstanz in den auf sie bezogenen Abschnitten darstellen, kann der Leser/die Leserin sowohl ihre Sicht auf die Dinge nachvollziehen als auch – sehr bald – ihren Selbstbetrug entlarven sowie auch die Bewegung der beiden aufeinander zu schon viel eher erkennen als die in ihrem Wahrnehmungsnetz gefangenen Personen. Diese Bewegung der Annäherung führt zu gemeinsamen Mahlzeiten, zunehmender Sympathie, Fürsorge, erotischer Anziehung und schließlich zu sehr viel Sex. Die detailliert geschilderten Liebesszenen erhalten ihre Pointe durch die völlig unterschiedliche Bedeutung, die dieselben und sogar zur selben Zeit miteinander ausgeführten Handlungen für die beiden Personen haben. Selbst das intimste Miteinander lässt sie also in ihren Wahrnehmungszirkeln verharren. Erst die Erzählperspektive bringt also die psychologisch eindringliche Schilderung zweier moderner Tagträumer hervor.

Hinzu kommt die Tatsache, dass es sich bei Sunes Traum um ein zunächst illusionär erscheinendes schriftstellerisches Projekt handelt. Insofern handelt dieser Roman nicht zuletzt auch vom Romaneschreiben bzw. von Schreibblockaden und vor allem vom Stoffmangel. Während Sune verzweifelt nach einem Stoff sucht, Ratgeberbücher für Krimiautoren zu Rate zieht und sogar Spionagewerkzeug für Detektive kauft, um seine Vermieterin zu beobachten und möglicherweise eine spannungsvolle Handlung zu entdecken, ergibt sich unter der Hand und ganz von selbst ein Stoff, den sein eigenes und das Leben Julis ihm ganz ohne (im Teddy versteckte) Beobachtungskamera darbietet. Nachdem die Entdeckung der Kamera zum Bruch der Beziehung geführt hat, offenbart eine Schlusspassage, dass Sune zwei Jahre später wirklich einen Roman veröffentlicht, mit dem sich sein Traum vom Erfolg erfüllt hat. Für die Lesenden wirft das die Frage auf, ob es eben dieser Roman ist, den sie vor sich haben, ob es gerade der im vorliegenden Text dargestellte Alltag war, der dem nach Spannung suchenden Autor seinen Stoff geliefert hat. Dahinter steht die grundsätzlichere Frage, was denn überhaupt Stoff für einen (großen/erfolgreichen) Roman sein kann, womit sich dieser Roman selbst implizit und selbstironisch in Frage stellt.

Und noch etwas: Da Sune sich durch die Installation einer versteckten Kamera Zugang zu spannenden Details aus Julis Leben verschaffen wollte (was letztlich nicht gelingt, aber schon deswegen ironisch ist, weil Juli stets alles daran setzt, gesehen zu werden), nimmt er auch seinen eigenen Voyeurismus aufs Korn, denn nichts anderes als das neugierige und möglicherweise genießerische Eindringen in die Intimsphäre anderer stellt schließlich die detailliert ausgemalte Beschreibung sexueller Begegnungen dar. Indem das Thema Voyeurismus aufgerufen und als vergeblich und absurd abgestempelt wird, entfaltet Hammanns Roman eine weitere selbstreflexive Ebene, die auch den Leser in den ironisierenden Gestus einbezieht. Also doch wenn auch kein großer, ein selbstironisch- raffinierter und vergnüglicher Roman!

Kirsten Hammann: Se på mig. Gyldendal, 2011.
(Annegret Heitmann, z.Zt Umeå,  Oktober 2011)

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