Gaute Heivoll: Over det kinesiske hav

gaute_heivollDer 1978 geborenen norwegische Autor Gaute Heivoll hat seit seinem Debut im Jahre 2002 bereits ein Dutzend Bücher in verschiedenen Genres publiziert. International und einer breiteren Leserschaft bekannt ist er erst seit seinem Erfolg mit Før jeg brenner ned (2012; dt. Bevor ich verbrenne, 2012) vor gut drei Jahren. Der neue, 2013 veröffentlichte Roman Over det kinesiske hav (Über das chinesische Meer) weist eine vergleichbare Technik auf und wird wiederum von der Kritik sehr gelobt. Die norwegischen Rezensenten charakterisieren ihn mit Ausdrücken wie »fesselnd«, »ergreifend«, »stimmungsvoll« und »melancholisch«. Sie sprechen von einem »Leseerlebnis« und attestieren dem Autor, er sei ein »eminenter Erzähler«. Thematisch bewegt sich der Roman zwischen einer erinnernden Kindheitsschilderung und einer Milieustudie der norwegischen Nachkriegszeit, einem Stück Sozialgeschichte, das – so wiederum die Kritiker – mit »Nächstenliebe«, »menschlicher Wärme« und »Humor« erzählt wird.

Über all das hinaus stellt der Roman das Konzept der Familie, von Nähe und Zusammengehörigkeit, in den Mittelpunkt, und zwar indem er es mit einer Normalitätsdiskussion verknüpft. Die Geschichte handelt von einem christlich engagierten Ehepaar, das im Jahr 1945 in seinem Privathaus fünf geistig zurückgebliebene Kinder und später noch drei als geisteskrank klassifizierte Erwachsene aufnimmt und sich – gegen Bezahlung aus Mitteln der öffentlichen Hand – ihrer annimmt, sie versorgt und ihnen ein Heim gibt. Sie sind in der Betreuung und Pflege geisteskranker Menschen geschult, da sie zuvor etliche Jahre in einer Institution gearbeitet haben, überführen diese Tätigkeit aber nun in ihren privaten Bereich und vergrößern ihre Kleinfamilie mit zwei eigenen kleinen Kindern um die genannte Gruppe der fünf Geschwister und der drei sehr unterschiedlichen erwachsenen Männer. Der Roman beschreibt diese Menschen, ihre Behinderungen und Schwächen, aber auch ihre Fähigkeiten und Stärken, und ist sehr zurückhaltend mit Kategorisierungen wie ›geisteskrank‹, ›lernbehindert‹ o.ä. Zwar werden die fünf Kinder nie ein integraler Teil der Familie, sie bleiben für sich, aber sie sind trotzdem sehr nah und Teil des Alltags. Es entsteht der Eindruck, dass sie – so wie sie sind – akzeptiert werden.

Dieser Eindruck ergibt sich in erster Linie aus der Art der Narration und der Perspektive des Erzählers. Wie schon in Før jeg brenner ned entwirft Heivoll einen fiktiven, involvierten Ich-Erzähler. Zwar beruht der Roman im Kern auf authentischen Gegebenheiten, die entscheidende Beglaubigung erfährt das Berichtete aber dadurch, dass wir mit der Stimme des fiktiven Sohnes der Familie konfrontiert werden, der seine Kindheit mit den fremden Geschwistern erinnert. Seine Perspektive, die aus dem Jahr 1994 in die Kinderjahre nach dem 2. Weltkrieg zurückblickt, dient der Authentifizierung des Berichteten. Durch die erinnernde Sicht auf längst vergangene Ereignisse, die Distanz beinhaltet, einerseits und den involvierten Blick des beteiligten Kindes andererseits entsteht die Vorstellung von Akzeptanz. Die Toleranz der geschilderten Familie gegenüber den acht ›Patienten‹, wie sie im Roman genannt werden, deren Behinderungen, geistige Schwächen oder Idiosynkrasien als selbstverständlich hingenommen werden, prägt den Roman als Ganzen und vermittelt die Idee der Akzeptanz an den Leser. Eingeschlossen in die Hinnahme der Gegebenheiten sind allerdings die Anweisungen der Obrigkeit, die eine Zwangssterilisation geistig Behinderter anordnet (und durchführen lässt), die mangelnde Entwicklungsfähigkeit der Kinder sowie auch die schließlich notwendige Unterbringung in Pflegeheimen.

Diese Sozialschilderung wird nicht einfach als historische Milieustudie entfaltet, sondern um einen Plot herum erzählt, in dessen Zentrum ein tragisches Unglück steht, bei dem die kleine Schwester des Ich-Erzählers ums Leben kommt. Dieses Ereignis bringt sowohl die Melancholie des Erzählens hervor als auch den Spannungsbogen, denn der Tod des kleinen Mädchens bewirkt ein Ende der Unbeschwertheit und eine Krise der im Roman zentralen Figur der Mutter. Auch der Titel »Über das chinesische Meer« bezieht sich auf dieses tragische Ereignis, auf einen Traum des Ich-Erzählers von seiner kleinen Schwester Tone. Wie dieses Traumbild, das eine hoch über dem glitzernden Meer schwebende Apfelsinenkiste – die erste Schlafstätte der neugeborenen Schwester – zeigt, enthält der Roman viele visuelle Impressionen: die lachende Mutter beim Baden, ihre Verzweiflung nach dem Tod der Tochter, Matiassen auf seinem Stuhl unter der Esche im Hof, Josefs Mitternachtssonne oder der sterbende Christian Jensen. Das episodische, die Chronologie aufbrechende Erzählen ist insgesamt stark visuell ausgerichtet. Doch nicht das titelgebende Bild des chinesischen Meeres, sondern ein Gemälde Tones steht meiner Ansicht nach im Zentrum des Romans und fasst ihn als Ganzes gewissermaßen in ein Bild.

Ein Porträtmaler wird nach Tones Tod beauftragt, sie zu malen. Dazu werden ihm ein Gruppenfoto der Kinder und die Kleidung Tones übersandt, aus denen er das Porträt rekonstruieren soll. Das Bild wird gemalt, es wird aufgehängt, niemand kommentiert es, aber niemandem gefällt es. Erst in der Rückschau entdeckt der Erzähler den Fehler:

Det var noe som ikke stemte. Det sto ei jente der, og det var kanskje Tone, for hun hadde Tones klӕr, og hun holdt et fast tak i kattungen, men det var noe med munnen og øynene som ikke stemte. Noe med blikket. Mamma hadde set det. Jeg hadde sett det, kanskje pappa også, men ingen av oss hadde sagt det høyt, Pappa hadde slått spikeren inn i veggen og maleriet ble hengende uten at noen sa noe. Men alle så det.

Det var jo Ingrid.

Etwas stimmte nicht. Da stand ein Mädchen, und es war vielleicht Tone, denn sie hatte Tones Kleider an, und sie hielt das Kätzchen mit festem Griff, aber es war etwas mit dem Mund und den Augen, das nicht stimmte. Etwas mit dem Blick. Mama hatte es gesehen. Ich hatte es gesehen, vielleicht Papa auch, aber keiner von uns hatte etwas gesagt. Papa hatte den Nagel in die Wand geschlagen und das Gemälde blieb hängen ohne dass jemand irgendetwas sagte. Aber alle sahen es.

Es war Ingrid.

Dieses ›Bild vom Bild‹ fasst viele der Problemstellungen des Romans zusammen: Die Überblendungen zweier Mädchen – der verstorbenen leiblichen Tochter mit dem etwa gleichaltrigen Pflegekind – die zum Eindruck führt, dass »etwas nicht stimmte«, zeigt einerseits die große Nähe der Kinder untereinander, die Erweiterung der Kernfamilie, deren Rand sich nicht mehr abgrenzen lässt, andererseits aber die Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit von Individuen. Ob das ›schiefe Bild‹ auch etwas über den psychiatrischen Handlungsansatz aussagt, der im Roman vertreten wird, mag dem Leser überlassen bleiben. Der Roman enthält sich der Wertung, genau wie es seine Figuren angesichts des falschen Bildes tun: niemand sagt etwas.

Heivolls Roman ist geschickt aufgebaut, stilsicher erzählt und schildert ein bewegendes Stück Sozial- und Kulturgeschichte. Kaum etwas vermag deutlicher Auskunft Auskünfte über den Zustand einer Gesellschaft zu geben als ihre Behandlung von geistig behinderten Menschen. Seine humanitäre Botschaft wird durch die bildreiche, aber wertungsarme Erinnerungsperspektive überzeugend umgesetzt. Der Melancholie hervorbringende Plot des Textes ist allerdings weder dieser Botschaft noch dem Erinnerungsverlauf geschuldet, sondern verdankt sich wohl in erster Linie der Spannungsgenerierung. Auf diese Weise kann der Roman wohl Leser gewinnen, verliert aber an Konsequenz und Glaubwürdigkeit der für die Botschaft wichtigen Erzählperspektive.

Gaute Heivoll: Over det kinesiske hav. Roman. Oslo: Tiden Norsk Forlag, 2013.
(Annegret Heitmann, München, Januar 2014) 

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