Doppelbödige Melancholie: Per Petterson: Menn i min situasjon (2018) („Männer in meiner Situation“)

Per Petterson Cover

Per Petterson, dessen 2012 erschienener Roman „Jeg nekter“ („Nicht mit mir“) schon auf „Neues Lesen“ vorgestellt wurde, ist einer der bekanntesten norwegischen Autoren. Er hat in Deutschland zwar nicht die Popularität wie der viel gespielte Theaterautor Jon Fosse und nicht den Star-Appeal des kometenhaft aufgestiegenen Karl Ove Knausgaard. Doch Petterson hat ein großes Lesepublikum, er wurde immerhin in über 50 Sprachen übersetzt und hat bedeutende literarische Preise erhalten. Seinen internationalen Durchbruch erlangte er mit „Ut og stjæle hester“ („Pferde stehlen“), für „Jeg forbanner tidens elv“ („Ich verfluche den Fluss der Zeit“) bekam er 2009 den angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats. Sein neuestes Buch „Menn i min situasjon“ („Männer in meiner Situation“), das im vergangenen Herbst sechs Jahre nach seinem letzten Roman publiziert wurde, wird im August 2019 in Deutschland erscheinen. In Norwegen wurde er von der Kritik begeistert aufgenommen.

Der Ich-Erzähler ist wiederum die schon aus vielen anderen Texten bekannte Alter-Ego Figur des Autors, Arvid Jansen. Die autobiographischen Anspielungen ergeben ein von Roman zu Roman dichter werdendes Netz, sowohl auf die Lebenssituation Pettersons als auch auf vorherige Werke verweisend. Das betrifft einerseits die Herkunft aus dem Arbeiterviertel Veitved, die einschneidenden Ereignisse des schon in „I kjølvannet” („Im Kielwasser“) thematisierten Schiffsbrandes, bei dem Petterson seine Eltern und einen Bruder verlor, und die Lebenssituation als Schriftsteller; andererseits Bezüge auf den zur erzählten Zeit im Entstehen begriffenen Roman („Det er grejt for mig“/„Ist schon in Ordnung“) oder aus anderen Texten bekannte Figuren, wie den Jugendfreund Audun. Ein humorvolles Detail stellt in diesem sonst so traurigen Roman das Wiedersehen mit der Hauptfigur aus „Pferde stehlen“ dar. In diesem Roman hat Trond Sander einen Kurzauftritt als Ersthelfer nach einem Autounfall.

Trotz dieser autobiographischen Fundierung widersetzt sich der Roman dem gegenwärtigen Trend zur Autofiktion, zum einen weil vieles im Dunkeln bleibt oder dem Leben des realen Autors nicht entspricht, zum anderen weil es nicht darum geht, das eigene Leben im Detail nachzuzeichnen, sondern ein Lebensgefühl und ein Zeitbild zu evozieren, das Allgemeingültigkeit beansprucht.

Die Handlung setzt im Herbst 1991 ein und erstreckt sich bis zum Frühjahr des nächsten Jahres. Ein prologartiges Kapitel gibt einen Vorausblick in den Herbst 1992, und eine Episode, die vier Jahre später stattfindet, schließt den Roman ab. Die Chronologie wird allerdings immer wieder aufgebrochen durch eine Vielzahl von Rückblicken, aber auch Gedanken, Träumen und undatierbaren Ereignissen, so dass der Eindruck von einer gleitenden bzw. entgleitenden Zeit entsteht, die der Thematik des Verlassenwerdens entspricht. Die Hauptfigur hat ein Jahr zuvor bei einem Schiffsunglück seine Eltern und zwei Brüder verloren, nun verlässt ihn seine Frau. Zunächst verbringt er noch jedes zweite Wochenende mit seinen drei Töchtern, doch nach einem selbstverschuldeten Autounfall endet auch der recht enge Kontakt zu den Kindern. Arvid verbringt nun seine schlaflosen Nächte mit Autofahrten, Kneipen- und Barbesuchen in Oslo und kurzfristigen Frauenbekanntschaften. Nichts davon kann seine Einsamkeits- und Entfremdungsgefühle unterbrechen, der Schmerz über das Verlassensein wiegt schwerer als Hilfsangebote, die er durchaus erfährt – von Frauen, die er trifft, von einem Jugendfreund und von einer Nachbarin. Gesteigert wird die Entfremdung durch die Entfernung von seinem Herkunftsmilieu; aufgewachsen in einer Arbeitergegend, fühlt er sich fremd in seinem gegenwärtigen Dasein als Schriftsteller und Intellektueller. In seinem eigenen Unglück gefangen und unfähig zur Kommunikation, erkennt er nicht die Hilferufe seiner ältesten Tochter und seiner Ex-Frau, die an ihn gerichtet werden. Sie stehen am Anfang und Ende des Romans, erfahren aber weder eine Begründung noch eine mögliche Lösung, da die Perspektive auf die Sicht Arvids begrenzt ist. Sein Empfinden von Einsamkeit und Fremdheit führt zu einer Art Egozentrik und Unfähigkeit, sich anderen Menschen zu nähern und mit ihnen zu kommunizieren. Da er über seinen Trübsinn nicht sprechen kann, wird er unfähig zur Kommunikation über die Sorgen anderer, wie vor allem seiner Tochter: „og hele tida hadde jeg følelsen av at det var noe hun ville ha sagt meg, men så sa hun ingenting. Kanskje var det vanskelig å komme i gang, kanskje ble hun sjenert, men det var ikke noe jeg kunne gjøre for å hjelpe henne. Jeg kunne ikke spørre og grave.” (”und die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie mir etwas sagen wollte, aber sie sagte nichts. Vielleicht war es schwierig anzufangen, vielleicht war es ihr peinlich, aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich könnte nicht fragen und graben.”)

Durch den im Romantext mehrfach wiederholten Titel „Männer in meiner Situation“ soll diese Kommunikationsproblematik möglicherweise geschlechtstypisch gedeutet werden, ebenso wie der Versuch, existentielle Einsamkeit durch Autofahrten, Alkohol und one-night-stands zu übertünchen. Aus diesen Schilderungen der nächtlichen Streifzüge entsteht nicht zuletzt ein Bild der Großstadt Oslo in den frühen 90er Jahren. Die vielen detaillierten Nennungen von Straßen, Plätzen und Bars bringen allerdings nur für die ortskundigen Leser und Leserinnen die intendierte Konkretheit hervor. Anschaulicher werden die auch in diesen Oslo-Roman eingestreuten Naturszenen, die – wie auch in anderen Petterson-Romanen – eine sinnliche Wahrnehmung und Nähe evozieren, die allerdings jeweils nur von kurzer Dauer ist und somit die Melancholie und Einsamkeit unterstreicht. 

Schwermut und Trübsinn charakterisieren die Gefühlswelt des Ich-Erzählers und damit den Roman als Ganzen. Die Melancholie des Textes wird nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch hervorgebracht. Petterson erreicht das durch die für seinen Stil typischen syntaktischen Retardierungen, seine langen, mäandernden Sätze, deren unzählige Einschübe langsames Lesen einfordern und daher Statik und fehlende Teleologie performativ hervorbringen. Damit entsprechen sie dem Zeitgefühl, das der Roman transportiert. Die Kapitel folgen zwar einer Chronologie, aber durch viele Rückblicke und zum Teil unklare zeitliche Situierung wird der Eindruck von Stagnation hervorgerufen. Insofern spiegelt die Zeitstruktur des Romans die depressive Gestimmtheit des Erzählers, denn Depression zeichnet sich nicht zuletzt durch das Erleben von Stillstand und Zukunftslosigkeit aus. Auch die fehlende Plotorientierung entspricht dem Empfinden von Stagnation und Hoffnungslosigkeit.

Die möglichen Ansätze zur Narration, die in der Hinwendung zur Geschichte der Ehefrau liegen könnten, die am Romananfang angedeutet wird, oder der der Tochter, die das Romanende bestimmt, werden vom auf sich selbst bezogenen Ich-Erzähler nicht weiterverfolgt und bleiben daher auch den Lesenden verborgen. Insofern bleibt auch das Ende des Romans offen, sowohl was die Zukunft der Tochter Vigdis als auch die des Erzählers betrifft. Indem aber diese möglichen anderen Geschichten als Rahmung des Romans hinzugefügt werden, relativiert sich das Leid des Erzählers und deutet auf andere Perspektiven, auf das Leiden der anderen, das er nicht erkennt und als Erzähler nicht weiter verfolgt. Die Lage des Erzählers und von „Männern in seiner Situation“ ist durchaus von Traurigkeit, aber auch von Selbstmitleid bestimmt. Insofern ist Pettersons Melancholie doppelbödig.

Diese Doppelbödigkeit erklärt auch die leise Ironie, die manche Passagen des Buches prägt. Da die Erzählperspektive auf den Protagonisten beschränkt und die Thematik traurig ist, kann sie nie dominant oder deutlich werden. Doch die durchgehende Selbstbeobachtung des Erzählers, der sich im Café wie Hemingway fühlt („litt romantisk, klassisk forfatteraktig“ (95); „ein bisschen romantisch, wie ein klassischer Schriftsteller“) oder als Atheist in der Kirche nicht singen will, unterminiert seinen Trübsinn: „Men jeg kunne ikke synge. Jeg var ikke fri. Jeg følte meg observert, ikke av de andre i kirka […], men av Gud, som kunne se hvor falsk jeg var, hvor hyklerisk, når jeg sang salmene under byrden av tvil og samtidig påsto min hedninghet, og Gud lo da han så meg sitte der fortvila i benkeradene, og den ironiske latteren hans svei i hjertet, og jeg ble stum. Jeg kunne ikke synge.” (94-95) (”Aber ich konnte nicht singen. Ich war nicht frei. Ich fühlte mich beobachtet, nicht von den anderen in der Kirche […], sondern von Gott, der sehen konnte, wie falsch ich war, wie heuchlerisch, wenn ich Kirchenlieder sang unter einer Last von Zweifeln und gleichzeitig mein Heidentum behauptete, und Gott lachte als er mich verzweifelt dort in der Bankreihe sitzen sah, und sein ironisches Lachen brannte in meinem Herzen, und ich bleib stumm. Ich konnte nicht singen.“)

Die durchgehende Empathie, die der Roman kreiert, bekommt in solchen Passagen leichte Risse, eine Beobachtung zweiter Ordnung entsteht. Die gelegentlich aufblitzende Ironie lässt ein ausschließlich identifikatorisches Lesen nicht zu; als LeserIn wird man angeregt, den Kehrseiten der Melancholie nachzuspüren. Aus diesem Grund – und wegen seiner stilsicheren Prosa – vermag auch dieser Roman von Petterson, auch wenn es nicht sein bester ist, trotz eines fehlenden Plots zu fesseln.

Per Petterson: Menn i min situasjon. Oktober: Oslo, 2018.
(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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