Katastrophenliteratur als Trauerkritik. Brit Bildøens Roman über das Nachleben des Terrors im Trauern (2014)

sju_dagarAls Brit Bildøen 2014 ihren Roman Sju dagar i august (Sieben Tage im August) herausbrachte, konnte sie sich der Aufmerksamkeit des norwegischen Lesepublikums sicher sein: Erzählt wird, wie ein schon etwas älteres Paar (Sofie: 50 Jahre, Otto: 60 Jahre) sieben Tage im August 2019 erlebt. Die Kapitel tragen die Namen der erzählten Wochentage, von Donnerstag bis Mittwoch. Erzählenswert werden diese Tage nicht durch irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse; wir erfahren von den kollegialen Rivalitäten im Munch-Museum in Osloer Stadtteil Bjørvika, das Sofie leitet (und das voraussichtlich 2018 fertiggestellt wird); von den finanziellen Schwierigkeiten, die Ottos Sohn aus erster Ehe in Australien hat; von Reparaturen der Unwetterschäden an Ottos und Sofies Wochenendhaus; von einer missglückten Party, die einer der Gäste, ein egomanischer Psychologe, als Plattform nutzt, um mit seiner Frau Schluss zu machen; oder von Ottos Sturz im Treppenhaus, der ihn einige Tage ans Bett fesseln wird. Interessant werden diese pointenlosen Szenen erst dadurch, dass Bildøen an ihnen ausbuchstabiert, wie sich Sofie aus den sozialen Beziehungen zu Freunden und Kollegen, aus ihrer Ehe und ihrer Familie und sogar aus ihrem eigenen Leben zurückgezogen hat. Grund für die schier unüberwindbare innere Distanz zu ihrer Umwelt ist Sofies anhaltende Trauer um Marie, ihre Tochter aus erster Ehe, die bei dem Massaker auf Utøya am 22. Juli 2011 erschossen wurde. Der Roman deutet die fürchterlichen Ereignisse der Vergangenheit nur an – doch mehr braucht es in einem norwegischen Kontext nicht. Das Land ist so klein, dass fast jeder jemanden kennt, der direkt von der Explosion in Oslos Regierungsviertel oder Breiviks Amoklauf auf Utøya betroffen ist. Entsprechend gibt es auch kaum ein Feuilleton in den Print- und elektronischen Medien, das den Roman nicht rezensiert hätte. Man lobt Bildøens Darstellung der Trauer, das Verständnis, das sie für die Angehörigen der Opfer hat, aber auch für die Menschen, die mit diesen Trauernden auskommen müssen.

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So wird das Buch zu einer Untersuchung der Trauer nicht als ein individuelles, sondern als ein kollektives Problem: In einer fast analytischen Sprache, die völlig ohne Sentimentalität auskommt, beschreibt Bildøen, wie Sofie davon ausgeht, sie habe das Recht, die Schockstarre, die 2011 auf die Nachricht vom Mord an Marie einsetzte, bis in das Jahr 2019 hinein zu bewahren und die Trauer einzufrieren. Nicht an Trauerarbeit ist sie interessiert, sondern an einer Monopolisierung der Trauer. Entsprechend beschreibt sie die kollektiven Anstrengungen in den Monaten nach dem Attentat mit Verachtung: „Krisepsykolog, sorggrupper, møte med andre etterlatne … Eg prøvde ei stund, men fekk ikkje til å ta imot hjelp. Eg blei kvalm av den kollektive sørginga, og at det fanst så sterke oppfatningar om korleis eg burde takle det. Det handla jo ganske enkelt om å gjennomleve sorga“ (S. 177 – „Krisenpsychologe, Trauergruppen, Treffen mit anderen Hinterbliebenen … Eine Weile versuchte ich es damit, aber bekam es nicht hin, Hilfe anzunehmen. Mir wurde schlecht von dem kollektiven Trauern, und dass es so klar war, wie ich das meistern sollte. Es ginge doch ganz einfach darum, die Trauer zu durchleben“).

Doch genau das will Sofie nicht: die Trauer durchleben; vielmehr leitet sie ihre Überlegenheit über andere Betroffene daraus ab, dass sie die Trauer konserviert. Äußerlich markiert sie diesen Anspruch dadurch, dass sie die acht Jahre seit dem Mord nur schwarze Kleidung getragen hat. Auch lässt sie Fotografien der toten Tochter als Medien der Trauerarbeit nicht zu – und zwar auch nicht für andere. Ihre Mutter etwa vergrößert ein Bild der Enkelin, das ästhetisch wohl nicht gelungen ist – eine Tatsache über die Sofie nur spotten kann. Doch Otto weist sie darauf hin, dass die Mutter buchstäblich keine Wahl hatte, denn Sofie verweigert die Herausgabe anderer Fotografien. Als sie dann für ihren an das Bett gefesselten Mann einige Unterlagen aus dessen Büro in der Osloer Innenstadt holen muss, sieht sie, dass er ein Bild von Marie auf dem Schreibtisch hat. Sie stellt es nicht zurück, sondern legt es auf die Tischplatte; „Otto skulle skjøne at ho hadde sett det“ (S. 164 – „Otto sollte verstehen, dass sie es gesehen hatte“). Der implizite Vorwurf, den diese Geste impliziert, ist nur schwer zu überhören.

Die Fotografie, die Augenblicksaufnahme, wird im Roman zum Medium, an dem zeitlicher Abstand erfahrbar wird. Doch genau den Abstand zum Unglück der Vergangenheit will Sofie minimieren und maximiert dadurch den Abstand zu ihrer Gegenwart. Eine Freundin und Kollegin drückt es so aus, als sie mit ihr über die Stimmung am Arbeitsplatz im Munch-Museum spricht: „[S]aka er at folk er litt … redde for deg, for du har jo ein aura av, kva skal eg seie, opphøgd sorg over deg. […] Det gjer deg uangripeleg, skjønar du det?“ (S. 178 – „Die Sache ist die, dass die Leute etwas … Angst vor dir haben, denn du hast ja eine Aura, wie soll ich es sagen, von erhabener Trauer um dich. […] Das macht dich unangreifbar, verstehst Du?“)

Der Rückzug in den inneren Raum der stillgestellten Trauer geht so weit, dass Sofie sogar den eigenen Körper als aufdringliche Außenwelt empfindet: Bereits am ersten der sieben Augusttage reibt sie an einer geröteten Stelle ihres Armes. Offensichtlich ist es ein Zeckenbiss, der ärztlich untersucht werden muss. Immer wieder wird sie von Otto aufgefordert, den Arzt aufzusuchen, jeden Tag ist die geschwollene Stelle größer geworden. Doch sie weigert sich, die Wirklichkeit des Körpers als relevant wahrzunehmen. Sofie praktiziert eine Tyrannei der Trauer, die für sich rücksichtslos in Anspruch nimmt, dass alle anderen ihre Bedürfnisse zurückstellen müssen – und zu diesen anderen gehört eben sogar der eigene Körper.

Bildøens Roman sieht der Versuchung der Trauer gnadenlos ins Auge. Denn durch den Trick, die Handlung nur fünf Jahre in die Zukunft der Lesenden zu projizieren, leistet sie nicht nur Trauerarbeit, sondern übt eben auch Trauerkritik.

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Trauer kann eine sinnstiftende Funktion bekommen, die jedoch eher zerstörerischen Charakter hat. Liest man Sju dagar i august als Buch über eine nationale Katastrophe bekommt diese psychologische Klarsicht eine politische Aktualität. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man Sju dagar i august als disaster fiction liest. Neben der nationalen Katastrophe des 22. Juli und der privaten Katastrophe eines havarierenden Lebens finden zwei weiter Katastrophentypen Erwähnung. Zum einen eine humanitäre Katastrophe, den die Roma in Oslo erleiden, um die sich Otto als Mitarbeiter einer NGO beruflich kümmert. Bildøen hat diesen Handlungsstrang sicher als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Diskussionen im Jahr 2012 in das Buch aufgenommen, als ca. 2000 Roma aus Rumänien nach Norwegen flohen und dort von den Osloer Behörden in einem stillgelegten Steinbruch untergebracht wurden. Bildøen deutet die Zusammenhänge (wie auch im Fall des Breivik Massakers) nur an. So erfährt man, dass es nach wie vor Schwierigkeiten mit der Ansiedelung gibt. Das Schicksal dieser ethnischen Gemeinschaft und die Art und Weise, wie über sie in der norwegischen Öffentlichkeit befunden wird, spiegelt Bildøyen an der Selbstbezogenheit Sofies (und damit einer Nation, die selbst gerade eine Katastrophe zu betrauern hat). Eine der Momente, die an Sofies Weltdistanz rüttelt, ist ihre Begegnung mit einer jungen Romamutter, die ein Kleinkind in den Armen hält.

Wesentlich präsenter sind im Roman jedoch die Vorboten einer drohenden Klimakatastrophe. Das Oslo im Jahr 2019 wird von schweren Unwettern heimgesucht; orkanartige Winde und sintflutartige Regengüssen sind zum Alltag geworden. Bildøen thematisiert an diesem Beispiel wie schwer sich die Gegenwart damit tut, sich selbst als Endzeit zu begreifen. Ausgerechnet der unsympathische Psychologe analysiert den anthropologischen Schutzmechanismus im Plauderton auf einer Party:

„Dødsangsten får oss til avvise faren, fortrenge det opplagde, justere oppfatninga vår om kva som er naturleg og kva som er rett. [… V]i reagerer med å endre oppfatninga om situasjonen i staden for å endre åtferd. Vi overtyder oss sjølve og andre om at det er ikkje så farleg. […] Snart kjem vi også til å akseptere at det vil gå menneskeliv kvar gong det er uvêr.“ (S. 83 – „Die Todesangst bringt uns dazu, die Gefahr wegzuschieben, das Offensichtliche zu verdrängen, unsere Ansicht darüber zu justieren, was natürlich und was recht ist. […] Wir reagieren damit, unsere Auffassung von der Situation zu verändern, anstatt unser Verhalten zu ändern. Wir überzeugen uns selbst und andere, dass sie nicht so gefährlich ist. […] Bald werden wir auch akzeptieren, dass jedes Mal, wenn Unwetter herrscht, Menschenleben draufgehen.“)

Als Lesende/r steht man unweigerlich vor der Frage, ob diese Einsicht, die im Kontext der Klimaveränderungen formuliert wird, auf die individuelle Katastrophe Sophies übertragbar ist. Das Außergewöhnliche, das die Klimakatastrophe in der Geschichte der Katastrophenwahrnehmung auszeichnet, ist – wie die Wiener Germanistin Eva Horn unlängst in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe (Fischer 2014) herausgearbeitet hat – die Tatsache, dass es sich um eine Katastrophe handelt, die nicht mehr als Ereignis vorgestellt werden kann. In diesem Punkt unterscheidet sie sich fundmental von der nationalen Katastrophe auf Utøya. Der Tod von 77 Menschen am 22. Juli 2011 in Oslo war ein zeitlich und lokal klar definiertes Ereignis mit eindeutigen Akteuren, das potentiell auch verhindert hätte werden können. Doch die Klimakatastrophe passiert nicht plötzlich; sie ist bereits da, auch wenn sich ihre desaströsen Folgen erst langsam entfalten werden. Sichtbar werden sie erst im Moment des Umschlages: „Tipping points werden […] nicht durch Entscheidungen hervorgerufen, sondern sind Phänomene der spontanen Emergenz: Aus einer kaum bemerkbaren Tendenz, aus winzigen Schritten entwickelt sich eine einschneidende Änderung der Verhältnisse“ (Horn, S. 18).

Mit dem oben zitierte Statement des Psychologen zu den Verdrängungsmechanismen unterstellt Bildøen ihrer Gegenwart, dass sie es bisher versäumt habe, das Katastrophische als Zustand zu begreifen. Und auch wenn sich die Denkfigur des durch eine schleichende Akkumulation hervorgerufenen Umschlagmoments nicht auf die nationale Katastrophe von Utøya übertragen lässt, kann man doch eine Analogie zur Trauerthematik herstellen. Letztlich beschreiben die titelgebenden sieben Tage im August den Tipping point in Sophies individueller Katastrophe. Nach acht Jahren der konsequenten Abschottung ist der Moment gekommen, in der ein soziales Miteinander nicht mehr möglich ist – und zwar nicht, weil irgendetwas Einschneidendes passiert, sondern nur weil der Tipping point erreicht ist. Das Gespräch zwischen Otto und Sophie auf den letzten Seiten des Romans lässt jedoch auf einen versöhnlichen Ausgang hoffen; der psychologische Tipping point könnte auch einen Umschlag in Richtung Öffnung des Ichs mit sich bringen. Doch gleichzeitig tobt auf den Straßen Oslos ein weiteres Unwetter mit Sturm und Regen; und der nächste Tag, der nicht mehr erzählt wird, wäre ein torsdag, ein Donnerstag. Dies lässt für die gesellschaftlich-politische Dimension des Romans nichts Gutes erwarten.

Brit Bildøen: Sju dagar i august. Oslo: Samlaget 2014.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, März 2015)

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